Archives

Über Geisteskrankheiten

Der Wahnsinn ist unsichtbar. Geisteskrankheiten können nicht vergegenwärtigt werden. Sie haben selten eine singuläre Ursache. Man kann höchstens Symptome diagnostizieren, oftmals bloss somatische. Doch äusserlich ist der Mensch gesund, ohne Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung. 

Die Geisteskrankheit ist eine Gratwanderung. Man kann sowohl normal funktionieren, das heisst berufstätig sein, soziale Netze spannen, Steuern im Vorbezug zahlen. Als auch das eigene Schicksal bedauern, schlaflose Nächte erleiden, für nichts zu motivieren sein. Gleichzeitig funktionieren, dennoch psychisch erkrankt sein. 

Ein fehlender Arm, ein fehlendes Bein behindern uns offensichtlich. Man kann womöglich den angestammten Beruf nicht mehr ausüben. Man muss sich umschulen. Die IV finanziert. Doch eine psychische Erkrankung ist nicht linear heilbar. Auch hilft keine Umschulung, das Unbehagen bleibt. 

Die Therapie ist mühselig und äusserst offen im Ergebnis. Man kann jahrelang die Kindheit rekonstruieren. Man kann Ängste, Sorgen und Bedenken bewusstmachen und endlich wahrnehmen. Doch damit löst man keine Krankheiten. Das erhöht bloss den Druck der Selbstheilung, nährt den Selbstzweifel, weswegen man nicht “normal” sei.

Die Therapien werden oftmals mit einfacher Medikation verwechselt. Die Psychiatrie ist überfordert mit der Komplexität des menschlichen Wahnsinns. Das war sie seit jeher. Die Methoden sind mittlerweile subtiler geworden. Elektroschocks oder ähnliche invasive Techniken sind überkommen. Stattdessen dominieren oberflächlich erforschte Psychopharmaka.

Wer einmal eingewiesen ist, ob selbst- oder fremdbestimmt, ist meistens fürs restliche Leben stigmatisiert und überdies registriert. Die Wahrscheinlichkeit, nochmals in psychiatrischer Behandlung zu enden, verdoppelt sich mit dem ersten Eintritt. Die Psychiatrie verstört ganze Lebensläufe. Sie entwurzelt den Menschen aus deren gewohnten Umgebung und simuliert stattdessen einen Tagesablauf, der zuhause niemals zu bewältigen wäre.

Die Psychiatrie war seit ihrer Begründung in einer Krise. Wir wollen aber nicht akzeptieren, dass wir Geisteskrankheiten nicht heilen können. Für mich sind sie unheilbar. Die Menschen müssen stattdessen angeleitet werden, wie sie trotz ihrer “Erkrankung” überleben können. Für mich ist das alleine eine Frage des angemessenen Ausdrucks.

Ausdruck ist die Technik, das Unbehagen, den Zweifel und die Unsicherheiten, aber auch Ängste, Sorgen und Bedenken angemessen “ausdrücken” zu können. Ausdruck hat unterschiedliche Formen. Sie variieren nach persönlicher Vorlieben und Fähigkeiten. Mal- oder Beschäftigungstherapien schärfen die eigene Ausdrucksfähigkeiten. Ebenso schulen Gesprächstherapien, sofern sie mit gezielten Fragen unterstützt sind, wirksame Ausdrucksfähigkeiten.

Medikamente verdecken bloss. Sie können die Ursachen nicht lösen. Medikamente mindern die Ausdrucksfähigkeiten, weil sie den Ausdruck komplett ignorieren und erübrigen. Wenn ich mich unwohl fühle, drücke ich aus. Ich suche meine Ausdrucksformen. Das ist meine “Gegenwartsbewältigung”. Ausdruck sollte man aber nicht mit Eskapismus ersetzen.

Eskapismus ist die bewusste oder unterbewusste Realitätsflucht, umgangssprachlich die Ablenkung. Die heutige Kulturindustrie bietet ausreichend Angebote zur Realitätsflucht. Auch die etlichen Drogen begünstigen einen Masseneskapismus. Zudem besänftigen und zerstreuen Produkte der Kulturindustrie wie Serien, Unterhaltungsromane, Religionen. Das ist das grosse Versprechen der Kulturindustrie: Die Menschen zu beruhigen und vom Unsinn des alltags abzulenken.

Ich bedauere, dass die Psychiatrie hier noch nicht so gereift ist. Deswegen wollte ich früher mal dort wirken und die Psychiatrie revolutionieren. Mittlerweile bin ich resigniert. Die Psychiatrie ist eine gewöhnliche Bürokratie, die die eigenen Bedürfnisse befriedigt und sich verselbständigt und damit vom Menschen und dessen Gefühlen entfremdet hat. Gewiss humanisieren einzelne Exponenten die Bürokratie, diese wohlbekannten Ausnahmen. Doch sie bilden eine Minderheit, die sich vermutlich nicht durchsetzen kann.

Ich plädiere stattdessen also für eine Akzeptanz der Krankheit und für die Schulung angemessener Ausdrucksformen. Das stärkt die Fähigkeit der Gegenwartsbewältigung. Mehr Lebensphilosophie und Kunst statt Temesta und weitere Tranquilizer.

Der kiffende Rausch

Ich kann mich noch an meinen ersten Rausch erinnern. Ich möchte hier nicht den Kontext darlegen, sondern vielmehr das Gefühl beschreiben, das mich damals befangen hat. Seit Jahrzehnten kiffe ich nicht mehr. Ich kiffe bloss, wenn ich zu besoffen bin. Dann überliste ich meine Selbstkontrolle und lasse mich unkontrolliert wieder der Welt aussetzen. 

Das Kiffen hat mir niemals meine Welt angenehm gefiltert. Das Kiffen hat im Gegenteil meine Wahrnehmung meiner selbst und meiner Umwelt verstärkt. Das Kiffen hat meine Sensibilität vergrössert. Ich konnte kiffend niemals abschalten. Stattdessen grübelte ich, die Gedanken brummten, die Gefühle schwankten. Intensiv.

So konnte ich bekifft jedes Haar spüren. Ich spürte, wie meine Haare langsam verfetten. Ich spürte, wie sie meine Kopfhaut belasteten. Ich trug überlanges Haar. Ich musste dauernd in meinen Haaren fummeln. Sie kämen, zurechtweisen, entfetten, wieder fein und geschmeidig lockern. Doch vergebens, nach einigen Stunden verfetteten meine Haare.

Ebenfalls konnte ich alle Poren meiner Haut spüren. Ich atmete durch meine Haut. Meine Haut war ein empfindsamer und verletzlicher Organismus, nicht bloss eine Hülle. Ich musste meine Haut stets mit meinen Fingern abtasten. Damit verdreckte ich meine ohnehin sensibel-problematische Haut. Ich spürte jeden Mitesser anschwellen.

Bekifft musste ich überdies bewusst atmen. Die Automatismen, die normalerweise Primärfunktionen regeln, waren wie bewusst geworden. Nunmehr musste ich für jede Atmung mich anstrengen. Auch schlucken war nicht mehr ganz so routiniert. Ich musste mich konzentrieren. Das konnte meine Aufmerksamkeit ziemlich lange beanspruchen.

Auch der soziale Umgang war erschwert. Ich war stets verunsichert, weil ich fühlte, was die anderen Menschen fühlten. Ich begegnete Menschen mit grösstmöglicher Empathie. Es erfüllte mich, wenn Menschen dieselben Gefühle hatte. Doch sobald eine kleine Unausgeglichenheit entstand, war ich besorgt, ob ich sie selber verursacht haben könnte.

Gewiss habe ich niemals eine Unausgeglichenheit provoziert, doch mit meinem nachträglichen Verhalten habe ich ebendiese heraufbeschwört, bis sie eingetreten ist. Einer selbsterfüllende Prophezeiung gleich, so wie mit den fettigen Haaren oder mit der unreinen Haut oder mit dem Schluck-Komplex. 

Bekifft konnte ich bloss mich tanzend oder schweigend ausdrücken. Ich konnte stundenlang in Gedanken versinken. Oder ich konnte stundenlang einfach tanzen. Tanzend war ich allerdings nicht interaktiv. Ich tanzte alleine, für mich und meinen Ausdruck. Ich konnte keinen Gegenpart integrieren, keinen Paartanz bewältigen. Ich war wortwörtlich in Trance.

Bekanntlich habe ich das Kiffen aufgegeben. Denn das Kiffen hat meine Selbstbeherrschung gestört. Das Kiffen hat mich natürlicher gemacht. Es hat meinen Empfindungen angeregt. Es hat meinen Selbstzweifel genährt. Ich schrieb unlängst, dass das Kiffen meine jahrelang trainierte Selbstbeherrschung aushebeln könnte. Das ist und bleibt wahr. Ich kiffe nicht.

Verletzlich leben

Ich bin verletzlich. Bloss verletzbar kann man vertrauen. Sobald ich mich entkleide, bin ich ungeschützt. Ich bin dann emotional und kann mich nicht mehr beherrschen. Ich bin dann ganz menschlich. Kleine Ereignisse können mich emotional berühren, die ich ansonsten ignoriere. Ich bin gleichzeitig hingebungsvoll und verängstigt.

Ich kann mich bewusst verschliessen. Ich kann mich aber nicht kontrolliert öffnen. Ich werde im engsten Wortsinn geöffnet. Ich kann den Prozess im Grundsatz akzeptieren, den Verlauf aber nicht steuern, das Ergebnis ebensowenig. Ich kann bloss die allgemeine Haltung an- oder abschalten.

Ich gefalle mir nicht verletzlich. Ich weiss mich gerne geschützt und meinen Möglichkeiten begrenzt. Sobald ich verletzbar bin, überantworte ich mein Glück meinem Umfeld. Ich kann nicht mehr selber über mein Glück walten. Ich werde abhängig, beeinflussbar. Ich bin ausgeliefert, ohnmächtig.

Leider kann ich bloss verletzbar lieben. Ich kann unverletzlich keine Liebe wagen. Ich werde stets mechanisiert bleiben, ich werde stets eine Kontrolle wahrnehmen. Ich kann keine Liebe so empfangen. Ich kann hingegen gut funktionieren, mich anpassen und überleben. Ich bin auch produktiv, bin beflissen für Beruf und Berufung. Sublimierung.

Vernünftig gemeint, garantierte der geschützte und beherrschte Betriebszustand mir ein bequemes, produktives und mit gewisser Schaffenskraft gesättigtes Leben. Gleichzeitig darf ich sehnen, maulen, jammern und die allgemeine Kälte der Welt bedauern, die insgeheim ich selber verursache.

Beherrscht und geschützt werde ich vermutlich gemäss Lebenserwartung altern, irgendwann unzufrieden sterben, zuvor erkranken und mein Leben würdelos, aber funktional beenden. Verletzlich hingegen werde ich noch Jahrzehnte lang lieben, leben, ich werde motiviert, bedrückt, begeistert und betrübt sein.

Allerdings werden die emotionalen Schwankungen, also das Lieben und Verletztwerden gleichermassen, immer mehr mich ruinieren. Ich werde vermutlich irgendwann abgehärtet und wieder in einen geschützten und beherrschten Modus kehren. Ich werde dorthin flüchten, wo das Gefühl des Verletztwerdens mich nicht mehr betrifft.

Beide Szenarien befriedigen mich nicht. Wenn ich allerdings heute wählen und mich entscheiden müsste, dann favorisiere ich ein Leben mit Verletzlichkeit. Ich bin verletzlich, ich kann mich offenbaren, ich kann lieben und verstehen, ich kann empfangen und senden. Doch gleichzeitig kann man mich zerstören, zertrümmern und schliesslich verletzen.

Sei’s drum. Ich lebe, um mich zu spüren. Ich werde mich dabei verausgaben und stets etwas verlieren. Aber ich werde nichts bereuen und stets mich wiederholen.

Apache Downtime

Die kleine Downtime des Apache Webservers war nicht beabsichtigt. Ich hatte in den jüngsten Wochen keine Kapazität. Diese Perioden wiederholen sich. Ich war bereits von meinem ersten Leben gefesselt. Ich musste dringend mein Leben strukturieren und ordnen. Ich kann aber meiner Leserschaft versichern, dass ich wieder gefestigter bin. Natürlich so gefestigt bloss wie man als Doppelgänger in diesem Leben sein kann. Also erwartet nicht, dass ich mich verhäusliche und benehme und dem Mythos des Erwachsenseins folge. Ich werde weiterhin den Futurismus verehren und mein Leben verschwenden. Bis bald.

Neuer Abschnitt

Ich beschrieb einst einen kleinen Kulturkampf zwischen jenen Angepassten, die ab dreissig den Schalter umlegen, ihr Leben normalisieren, ihre sozialen Beziehungen reduzieren und etwas von Familie und Liebe faseln. Und zwischen jenen Unangepassten, die das verneinen und stattdessen ihre Lebenszeit verschwenden.

Ich spüre diesen Konflikt ebenfalls. Es ist ja bekanntlich das grosse Motiv dieses Blogs. Leider muss man sich bewusst entscheiden. In dieser Lebensfrage kann bloss das Entweder-Oder klären. Man kann nicht tagsüber ein Familienleben simulieren und nachts vagabundieren. Das ist zumindest mittelfristig nicht vereinbar.

Ich selber werde mich niemals entscheiden. Ich werde gewiss nicht mich mässigen und disziplinieren, dass ich ein Heimchen liebe. Ich werde immer rasen und mich verausgaben. Dennoch bleibt die Sehnsucht nach einer anständigen Existenz latent. Denn mein Seiltanz kann bloss im Absturz enden.

Ich muss derzeit erneut, abermals die Konsequenzen meiner grobfahrlässigen Entscheidungen verantworten. Ich muss erneut, abermals eine neue Existenz, eine neue Identität bilden. Ich muss erneut, abermals ein neues Bett irgendwo im Internet bestellen, eine neue Klobürste erneut, abermals.

Ich habe schon so viele Wohnungen aufgebaut und ebensoviele wieder aufgegeben. Alleine das Geld, das dadurch sinnlos vergeudet wurde, könnte ich bedauern. Erneut, abermals muss ich nun wieder alles einrichten. Ich werde mich gewiss wieder arrangieren. Ich werde meine Identität stabilisieren.

Diesmal werde ich nicht erneut, abermals mit einer Frau zusammenziehen können. Diesmal hemmt mich mein kleines Mädchen, das ich formal im Pensum von 40% betreuen kann. Das kleine Mädchen begrenzt mich wohl zum ersten Mal in meinem unerschöpflichen und masslosen Futurismus. Und das ist gut so.

Ich kann damit das Doppelgängertum offizialisieren. Ich kann mich als Teilzeit-Papi gerieren, wenn gerade notwendig oder hilfreich im sozialen Umgang. Gleichzeitig kann ich verantwortungslos mich zerstören, hingeben und immer wieder verjüngen. Und das gefällt mir sehr gut. Ich kann Sowohl-als-auch praktizieren.

Die finanziellen Kosten für den Eintritt in den neuen Abschnitt werde ich bald meistern. Ich werde bald meine neue Wohnung schmücken, ich werde bald neue Alltagsroutinen entwickeln und sie im Ablauf festigen. Ich werde einen Ausgleich finden. In der Zwischenzeit werde ich noch ein wenig leiden dürfen. Doch das ist okay.

Das Schreiben als Arbeit

Wer arbeitet, muss überleben. Tätigkeiten, die ich Arbeit heisse, garantieren mein Funktionieren. Sie sind kein Tun, das ich freiwillig praktiziere. Sondern weil ich muss, überleben und funktionieren muss. Schreiben kann auch eine Schreibarbeit sein. Insbesondere, wer journalistisch ist.

Der zähste Text ist, der nicht mit einen fokussierten Akt erstellt werden kann. Sondern der Fleiss und eben Arbeit bedeutet. Man arbeitet sich Absatz für Absatz vor. Man jongliert mit Synonymen und achtet auf Wiederholungen. Alle fünf Minuten muss man sich kurz zerstreuen, das Tab respektive den Bildschirminhalt wechseln.

Eine A4-Seite muss so in mühseliger Stunden erkämpft werden. Kein Satz ist geschenkt. Irgendwann ist das Tageswerk beendet. Sodann prüft man es kritisch und ist unzufrieden. Man fühlt sich entsaftet, man zweifelt. Wie einfältig, wie alltäglich ist nun mein Text? Man glaubt, den Text verschlimmbessert zu haben.

Ich kann nicht auf Befehl formulieren. Also ich könnte schon, aber dann produziere ich, was ich als standardmässig und gewöhnlich empfinde, worauf mein Selbstbewusstsein nichts sich einbilden kann. Solche Produkte sind Arbeit. Und ich hasse Arbeit. Ich meide Arbeit, wo möglich.

Demgegenüber verehre ich natürlich den sogenannten “Fluss”. Das ist der spontane, weil unaufgeforderte und nicht planbare Schreibfluss, der unmittelbar sich entladen muss. Und dann muss ich nichts nachdenken, nichts korrigieren oder erzwingen. Dann kann meine optimierte Mensch-Maschine-Schnittstelle die Gedanken verstofflichen.

Solche Momente sind rar. Ich glaube, wer hauptberuflich schreibt, kennt diesen Fluss gewiss, aber dieser Fluss entspricht selten dem Alltag. Man kann nicht quasi berauscht einen Roman aus einem Guss vollenden. Das Produkt ist viel zu komplex. Das überfordert die kognitiven Kapazitäten. Zumindest meine.

Der ultimative Schreibfluss kann sich bloss im Essay-Charakter behaupten. Ein kleiner Gedanke, der sofort anregt und diesen Schreibfluss verursacht. Doch solche befruchtenden Gedanken sind sprunghaft, scheu und wegen der Arbeitsdisziplin vorm Aussterben bedroht. Sie können also nicht in einem Essay-Labor gezüchtet werden.

Was bleibt, ist zu erkennen, dass Schreiben auch Arbeit bedeuten kann. Und dass weder Künstlertum noch Genialität notwendig sind, um irgendwas schreiben zu können. Schreiben kann jeder. Man darf das Schreiben nicht romantisieren oder mystifizieren. Es ist kann auch blosse Arbeit sein. Harte Arbeit.

Im Berlaymont-Gebäude in Brüssel

Das Berlaymont-Gebäude in Brüssel kann den kleinen und bäuerlichen Schweizer durchaus beeindrucken. Ich weilte bislang bloss in den Zentralen grosser Unternehmen. Das sind funktionale Bauten, aber ohne jegliche Symbolik und Pathos. Die Bedeutung des Unternehmens misst sich an der Ausstattung dieser Bauten.

Ein prosperierendes oder ehemals prosperierendes Unternehmen muss einen repräsentativen Hauptsitz im Zentrum einer Grossstadt besitzen. Dieser Hauptsitz soll den Mitarbeitenden primär, Kunden wie Lieferanten sekundär die Grösse des Unternehmens veranschaulichen. Es ist eine Architektur eines unterschwelligen Imposantismus’.

Das Berlaymont-Gebäude verzichtet hingegen auf explizite Merkmale der Angeberei. Die künstlichen Säulen sind nicht marmorn. Der Boden spiegelt sich nicht. Überteuerte Kunst ziert keine Wände. Das Berlaymont-Gebäude ist unaufgeregt. Es ist bescheiden, aber weitläufig im Geiste und eine sinnliche Erfahrung für den Besucher. Vor allem als kleiner und bäuerlicher Schweizer.

Das Berlaymont-Gebäude ähnelt im Grundriss einem geschwungenen Kreuz. Das erschwert die Orientierung. Hier residiert die Exekutive der EU, der grössten Volkswirtschaft der Welt und das wichtigste Projekt des Westens, weit vor anderen Vorhaben wie CERN, ISS, UNO oder NATO. Hier konzentriert sich die kryptische Macht Europas.

Das Berlaymont-Gebäude ist wie ein Flughafen gesichert. Es ist eine kleine Welt, die kosmopolitischer wohl bloss noch am UNO-Hauptsitz sein kann. Alle Nationen sind anteilig ihrer Bevölkerung vertreten. Alle Nationen entsenden ihre hellsten Köpfe, ihre schönsten Männer und Frauen. Es sind Abgänger typischer Universitäten, der besten Schulen Europas.

Das Berlaymont-Gebäude regiert Europa. Doch es ist keine gewöhnliche Regierung. Hier muss man nicht mit einer Nation protzen. Hier muss man kein Volk beeindrucken, keine Massen besänftigen. Vielmehr ist es eine Spezialisten-Regierung. Man verunglimpft die EU gerne als Technokratie. Ich meine, anders könnte man die EU nicht regieren.

Die Menschen hier sind allesamt mindestens zweisprachig. Alle Pressekonferenzen werden zwar simultan in zwei Sprachen übersetzt, aber von den Journalisten beanspruchen gerade einmal fünf Prozent das Angebot. Die Journalisten stammen ebenfalls aus allen Nationen Europas Welt. Es soll auch ein Journalist aus Kasachstan sich tummeln, ein Exot.

Der Pressedienst ist gut organisiert. Überhaupt ist das europäische Organisationsgeschick bewundernswert, wenn man das politische Chaos Belgiens gegenüberstellt. Ich glaube, im Berlaymont-Gebäude geschieht nichts zufällig oder Zufälliges. Das ist eine perfekt abgestimmte Maschine, die seit Jahrzehnten erprobt ist und sich bewährt hat.

Hier arbeitet man nicht für acht Millionen verfettete Schweizer, die gerne sich isolieren und besserwisserisch die Aussenwelt verurteilen. Hier arbeitet man auch nicht für achtzig Millionen herausgeforderte Deutsche, die allmählich wieder ein Selbstwertgefühl empfinden. Hier arbeitet man für fünfhundert Millionen Europäer. Für etwas Grösseres.

Vermutlich für das Ganzgrosse. Die EU garantiert seit sechzig Jahren Menschenrechte, Friede und Wohlstand innerhalb der Grenzen. Es ist eine beispiellose Epoche seither. Es ist das komplexeste soziale System, das die Menschheit geschaffen hat bislang. Als Laie versteht man die Abläufe, die Rollen und Finessen nicht.

Das Standardwerk, das die EU erklärt, umfasst ungefähr fünfhundert Seiten. Populisten kritisieren die EU deshalb als volksfremd. Die EU ist aber keine Institution eines Volkes, sondern einer Idee, die weitaus mächtiger ist. Ein Volk ist stets künstlich begriffen, künstlich abgegrenzt, es ist eine vermeintliche “Ethnie”. Eine Idee ist aber übergreifend.

Eine Idee kann alle Menschen anfeuern. Die Idee der EU fasziniert weiterhin, trotz Kritik in allen Nationen, trotz Brexit, trotz Trump. Die EU ist das wahre Gegenmodell zu Trump und den digitalen Diktaturen wie China oder den Gewaltherrschern wie Putin oder Erdogan. Sie ist die letzte Idee des Westens.

Im Berlaymont-Gebäude spürt man diese Idee. Die Menschen, die hier arbeiten, sind von der Idee eines vereinigten Europas überzeugt. Das im Gegensatz zu den Parlamentariern im Espace Léopold, wo nach krummen Regeln das Europäische Parlament tagt und Euro-Skeptiker und Rechtsradikale einander freundlich grüssen.

Ich bin sehr dankbar, konnte ich zumindest einen Moment in diesem Gebäude wirken und einige Persönlichkeiten kennenlernen, die jenseits meiner Kategorien für Exzellenz sind. Das hat mich berauscht und meinen Glaube an der Idee der EU bekräftigt. Ich bin dankbar, dass ich als Schweizer einmal Teil etwas Grösserem sein durfte.

Mit Widerspruch

Das Leben ist widersprüchlich. Ich verkörpere den Widerspruch. Ich praktiziere, was ich negiere. Ich verabscheue die Arbeitswelt, diene ihr gleichzeitig in Vollendung. Ich verteufle feste Partnerschaften, falle gleichzeitig ihnen anheim. Ich will mich mässigen, beschleunige gleichzeitig ins Unendliche. Ich denke, rede gleichzeitig.

Die Widersprüche existieren. Ich bin mittlerweile geartet so, dass ich Widersprüche erdulde. Ich erkenne sie, gleichzeitig ignoriere ich sie. Das Muster wiederholt sich. Gelegentlich werweisse ich, wielange ich diese Widersprüche noch verkraften kann. Derzeit befürchte ich, dass sie mich (noch) nicht bremsen.

Ich bin so widersprüchlich, weil ich gleichzeitig so gleichgültig bin. Ich lebe, als wäre ich längst gestorben. Ich kann nichts verlieren, weil ich mich bereits verloren fühle. Ich muss daher keine Konsequenzen abwägen oder einschätzen. Ich kann drauf los leben. Kein moralischer Nordstern orientiert, erinnert oder leitet.

Ich lebe ohne Anleitung und Orientierung. Die existenzielle Frage, die gelegentlich sich aufdrängt, ist die Frage nach dem Freitod. Ich will noch leben. Das erübrigt die Frage. In Details kann ich begründen, warum ich (noch) nicht sterben möchte. Das klärt. Falls ich unglücklich verunfalle, kann ich das akzeptieren.

Der Widerspruch begleitet mich. Der Widerspruch besetzt etliche Lebensbereiche. Alleine den Widerspruch zwischen meiner Lebens- und Todessehnsucht werde ich niemals aufheben können. Der durch den Widerspruch provozierte Konflikt ist, was mich befeuert. Seit ich bewusst denke, bin ich widersprüchlich.

Ich sehne mich nicht nach dem Zustand der Auflösung, nach dem Zustand der Harmonie. Einen Widerspruch beseitige ich mit einem noch grösseren Widerspruch. Ich kann bloss ganz futuristisch weiter Widersprüche auftürmen. Sobald alles zusammenbricht, starte ich erneut. Solange meine Lebensenergie noch ausreicht.

Ich beginne den Tag mit dem Widerspruch. Ich mag nicht aufstehen. Ich möchte hängen. Ich möchte lesen, rauchen und masturbieren. Danach lesen und schreiben. Ich möchte meine Zeit vergeuden, bewusst verschwenden. Ich möchte nicht arbeiten. Ich möchte nicht mich verpflichtet und verbunden fühlen. Ich möchte vegetieren.

Gleichzeitig habe ich meine Existenz mit einigen Verpflichtungen beladen. Diese muss ich fortan tragen. Doch ich begrenze mich. Ich kann derzeit keine weiteren Verpflichtungen bewältigen. Ich müsste einige delegieren. Allerdings kann und will ich auch nicht alle abtreten. Sie bilden seitdem meine Identität.

Ich habe mich mit den Widersprüchen meiner Existenz arrangiert. Ich habe Widersprüche als mein Lebensfeuer begriffen. Ich könnte niemals in einer widerspruchsfreien Existenz ruhen, irgendwie mich begnügen und sicher fühlen. Ich verlange den Rausch, das Unbeständige und den Widerspruch.

Ein politischer Flüchtling

Bekanntlich bin ich wegen Frau und Kind nach Basel ausgewandert. Ich habe anfänglich mich leicht, aber dennoch zurückhaltend sozialisiert. Ich konnte mich mit Nachbarn und Ärzten vernetzen. Einigermassen. Denn ich suche grundsätzlich keine Freunde, ich bin ausreichend bedient und zufrieden.

Mittlerweile bin ich in Basel gestrandet. Ich werde hier bleiben. Ich habe Olten verlassen, meinen verwegenen Heimatort. Und ich werde auch nicht zurückkehren. Denn ich werde mich hier in Basel um meine behinderte Tochter kümmern. Formell sind 40 Prozent vereinbart. Diese werde ich ausschöpfen.

Basel-Stadt ist denn auch nicht die Schweiz, die wir im Mittelland kennen. Der Bund deklariert Basel-Stadt als sogenannte Grenzregion. Basel besitzt einen Hafen, mehrere Becken. Ein weiteres Becken ist geplant. In Basel sind Elsässer wie Südbadener gleichberechtigt daheim. Man spricht einen ähnlichen Idiom. Man versteht sich.

In Basel schätze ich, dass Basel ein Stadtkanton ist. Kein Speckgürtel, keine Agglomeration, nichts beeinträchtigt das Wahlverhalten. Wir haben keinen Stadt-Land-Graben, weil wir blosse Stadt sind. Das Umland ist überdies nicht einmal schweizerisch, sondern wird entweder aus Paris oder aus Stuttgart regiert.

Ich habe etliche Legenden aufgeschnappt, wie sonderbar Basel-Stadt im schweizerischen Vergleich ist. Ich will gehört haben, dass private Erträge von Immobilienverkäufen die städtischen Parkanlagen subventionieren. Das erklärt deren üppige Ausstattung im Vergleich zum Oltner Stadtpark oder Vögeligarten.

Mittlerweile bin ich in Basel isoliert. Ich besuche unregelmässig die eine Bar. Dort kenne ich die Stammgäste vom Sehen. Ich habe bislang noch mit niemandem gequatscht, keine Nummern getauscht oder erste Verknüpfungen erstellt. Das stört mich nicht. Ich habe auch bloss mit einer Baslerin im Ausgang gequatscht – während einer Firmenfeier.

Beruflich kenne ich etliche Basler, momentan bin ich hier stationiert bis Ende Juni. Danach werde ich vermutlich wieder nach Zürich oder Bern pendeln müssen. Ich trenne aber Beruf und Privat. Daher überschneiden sich solche Bekanntschaften nie. Nur des Berufes wegen kann ich mich also nicht integrieren hier.

Ich möchte nicht darüber klagen. Ich bin zufrieden mit diesem Zustand. Ich habe die Narrenfreiheit, mich hier bewegen zu können, ohne dass mich jemand “kennt” im engsten Wortsinn. Ich geniesse diese Anonymität. Bald werde ich auch in einer anonymen Überbauung hausen, auf die Autobahn und Kleinbasel blicken.

Ich fühle mich hier sicher. Vor allem politisch sicher. Basel-Stadt ist gemäss SDI ziemlich grün. Ich erkenne sogar gelbe Tendenzen, weil Basel-Stadt akzeptiert. Es ist – ganz typisch Grossstadt – die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Interessen, die keine Gesellschaft mehr bilden. Das reizt und entspannt mich.

Ich bin hier kein Freak, Sonderling oder ein Ausgestossener. Ich bin bloss ein politischer Flüchtling, der wegen der Liebe zur eigenen Tochter hier harrt. Die Stadt empfängt mich zwar nicht, sie umarmt mich nicht, aber sie lehnt mich auch nicht ab. Sie toleriert mich einfach. Ich kann mich sogar mittlerweile hier identifizieren.

Bald verlasse ich mein originales Viertel. Der Park in meinem Viertel ist bezaubernd. Er ist überdimensioniert. So viele Gerätschaften. So viele Anlässe. Ein Park-Restaurant. Morgen-Yoga selbstredend auch. Ein Hindernis-Parcour für Jung und Alt. Ein periodischer Flohmarkt. Auch Jazz im Park fehlt nicht.

Mehrgeschossige und jahrhundertealte Stadtwohnungen schmücken den Park. Die Eintrittshürde sind zweitausend Franken für einen nicht renovierten Altbau. Mehrere Spätkaufs für die Jugend. Die Lokalzeitung empört sich dennoch über die Kriminalität. Abends sei der Park gefährlich, weil nicht verschliessbar.

Mein neues Viertel hat noch keinen Park. Alles ist im Entstehen. Es war vormals ein Areal der Zwischennutzung. Die Generation Golf hat sich dort verausgabt. Sie erinnert sich gerne. Dort entstand Minimal Techno in der Schweiz, der sich dann im alten Nordstern popularisiert hat. Es war wild, ungestüm und baslerisch.

Der Park ist frisch angelegt worden. Er ist gleichsam überdimensioniert und üppig. Nebenan liegt der bekannte Tierpark, der kostenlos ist. Ein nach SDI grünes Community Center vereint unterschiedliche Kulturen und Einkommensstrukturen. Man kann dort abends essen, Musik hören und sich verbinden.

Vermutlich werde ich dann dort ausgehen. Vermutlich werde ich unterstützen und mithelfen. Ich kann, so glaube ich zumindest, Knowhow bieten. Aufgrund meines Berufes bin ich erfahren und erprobt, Dinge zu organisieren, auch wenn ich bisweilen chaotisch und planbar privat mich gebärde.

Denn ich bin irgendwie besessen, Basel-Stadt zu danken, dass Basel-Stadt meine Tochter aufnimmt. Basel-Stadt verbannt die Behinderten nicht. Basel-Stadt stützt und fördert sie. Behinderte müssen sogar Regelklassen besuchen. Bei meiner Tochter ist der Grad der Behinderung allerdings so schwer, dass das wirklich sinnlos ist.

Aber die Absicht und Intention gefallen mir. Hier in Basel-Stadt dümpelt die ansonsten so omnipotente SVP auf ungefähren fünfzehn Prozent herum. Das auch bloss wegen der verschweizerten Vierteln wie Bruderholz oder Hirzbrunnen. In Matthäus oder in meinem zukünftigen Rosental existiert die SVP nicht.

Ich freue mich auf meine Zukunft hier in Basel-Stadt. Bald ist leider wieder eine Steuerrechnung fällig. Doch diese wird mich nicht ernüchtern. Es ist mir wert, vor allem und wegen meiner Tochter, die hier die besten Bedingungen in der Schweiz hat. Danke Basel-Stadt.

Der Prototyp

Ich fühle mich als Prototyp. Als Prototyp für diese Welt. Ich fühle mich gleichzeitig gescheitert. Ich kann mir meine Welt konstruieren. Ich kann seiltanzen, mit dem menschlichen Abgrund liebäugeln. Ich kann gleichzeitig mich unterordnen und tarnen, nicht sonderlich auffallen. Ich operiere aber im Inkognito Modus.

Ich habe persönliche Abwehrstrategien entwickelt, die mich vor dem Elend der Welt und meiner eigenen bescheidenen Existenz schützen. Sie lassen mich nicht verzweifeln. Stattdessen treibe ich weiter ganz futuristisch. Ich bejahe bloss die Zukunft, das Kommende und vergesse das Vergangene.

Ich bin zäh einerseits, verletzlich andererseits. Die Verhältnisse bringen mich nicht um. Ich kann ungesund mich ernähren, meinen Körper verschwenden und ruinieren. Ich bin furchtlos, ungestüm und selbstzerstörerisch. Ich kann funktionieren, auch wenn ich ohne Funktion bin. Ich lasse keine Möglichkeit ungenutzt.

Gleichzeitig bin ich verletzlich. Ich möchte wehklagen, alles Elend bedauern, meine Fehler bereuen, meine Unachtsamkeiten wiedergutmachen. Ich kann empfinden und verstehen. Ich kann etliche Fragen beantworten oder die Beantwortung anleiten. Man kann mich als Gesprächspartner und Vertrauter schätzen.

Ich vereine unterschiedliche Kompetenzen. Ich bin bemerkenswert breit, gleichzeitig bin ich beschämend flach, sobald Tiefe erforderlich ist. Ich habe kaum eine Disziplin in ihrer Totalität verinnerlicht. Das qualifiziert mich als Prototyp. Deswegen kann ich in dieser Welt überleben und stets angemessen mich neu erfinden.

Schliesslich praktiziere ich einen Generationsberuf. Ich bin ein Nichtsmacher und Allessager. Ich verkaufe Mut, Kühnheit, Sicherheit und Gelassenheit gleichermassen. Ich spezialisiere mich nicht, ich sammle bloss weitere Erfahrungen und Referenzen. Ich kombiniere das zu einem einzigartigen Profil.

Ich werde mehrheitlichs als Inkubator eingesetzt, stets befristet. Ich unterstütze die Kunden beim Wirken. Ich potenziere. Ich stelle dabei nichts her, ich erarbeite auch nichts, sondern ich handle. Ich gestalte die Lebenswirklichkeiten meiner Mitmenschen. Im Jargon bin ich Influencer mit einer bezahlten Reichweite.

Ich fühle mich als Prototyp. Ich fühle mich gerüstet für die Herausforderungen der Gegenwart. Ich kann irgendwo verarmen und meine Unfähigkeit der Erwerbsarbeit bejammern. Ich kann ebensogut in einer überteuerten Stadtwohnung mit Koks und Nutten meine Restgesundheit verspielen. Ich bin zu beidem fähig und auch willens.

Ich bin beliebig und ganz ohne Eigenschaften. Ich kann wandeln, maskieren, verstecken und fliehen. Gleichzeitig kann erledigen, was erforderlich ist, unterordnen, wo gerade schicklich, antworten, was gehört werden will. Ich kann Normalität simulieren. Ich kann Illusionen produzieren.

Dennoch versterbe ich zu früh. Denn ich bin bloss ein Prototyp. Die marktfähige Version wird bald folgen und das 21. Jahrhundert erobern. Ich bin das nicht. Das werde ich auch niemals sein. Und deswegen sollte ich mich auch nicht vermehren. Ich kann nichts lehren. Ich kann bloss überleben.

1 7 8 9 10 11 42