Month August 2017

Wieso Zürich?

In Zürich konzentriert sich die schweizerische Wirtschaft sowie Kultur. Eine mittelgrosse Stadt, nett am Ufer eines in die Voralpen reichenden Sees, entwässert durch einen entspannten Fluss. Drei Hügel umrahmen die beschauliche Stadt. Der Bahnhof zählt zu den meistfrequentierten der Welt. Die Menschen zu den wohlhabendsten.

Seit einigen Monaten lebe ich Basel. Olten musste ich verlassen. Ich fühle mich verpflanzt, fremd. Das fühle ich mich auch stets, wenn ich beruflich Zürich besuche. Die Einfahrt in die Stadt fasziniert mich hingegen. Ich beobachte gerne die Europaallee wachsend. Jedesmal entdecke ich weitere Bürokomplexe oder wuchtige Apartmentbehausungen. Schön.

Die Männer sind sehr einheitlich gekleidet. Im Sommer die Weisshemder sommerlich mit Mokassins, die übrigen jahrezeitenlos mit Espadrilles. Die Fülle beeindruckt mich stets. Die Haare entweder seitlich oder rückwärts gekämmt, im Default akkurat geliert. Bei der Sonnenbrille bin ich verunsichert, jedenfalls konsequent mit Sonnenbrille.

Ob Banking, Finance oder Startups, gerne Fintech, Insurtech oder Consulting – sie sind alle Associate und wollen sich beschleunigen. Ich kenne keine, doch alle mit ihrem Titel. Auf LinkedIn followen und liken sie angelsächsische Beiträge, deren Inhalt sie kaum verstehen. Abends posieren sie vorm Coco mit überteuerten Grilladen.

Zürichs Speckgürtel dafür döst. Zürich kannibalisiert jegliche Autonomiebekundungen des Umlandes. Alles will, alles tendiert nach Zürich. Selbst Aarau ist nunmehr Zürich West, seit der der Baregg keine natürliche Autobahnbarriere mehr symbolisiert. Die Tuchlaube verdämmert, das KBA von den Jüngeren längst vergessen.

Die halbe Schweiz strebt nach Zürich. In Zürichs Gassen verwildern die schweizerische Dialekte; sie alle nivellieren zur Zürcher Einheitssprache. Die entschlossenen Ausländer wiederum verjüngen die Stadt; produzieren Nachwuchs, den sie im fern-nahen Institut Montana platzieren. Derweil die Einheimischen sich als etwas Besonderes einbilden.

In Zürich verbreitet sich der Hipster ähnlich rasant wie den übrigen westlichen Weltstädten, ob Berlin, Paris, Wien oder sonstwo. Sie dominieren mittlerweile die lokalen Kulturen, beeinflussen mit ihrem Kaufverhalten ganze Industrien. Ich bin in dieser Hinsicht mitschwimmend, weil ich deren Güter, sozialen Errungenschaften konsumieren.

Ich bin ziemlich verkrampft im Umgang mit Zürich. Fühle ich mich minderwertig? Fühle ich einen zu strengen Wettbewerb in Zürichs Gassen? Fühle mich zu wenig selbstsicher, um in Zürichs Lokalen auftreten zu können? Kaum, bislang war ich in Zürich erfolgreich. Ich möchte einfach nicht me too sein; also auch in Zürich sein, bloss weil alle dort sind.

Ohnmächtig gelebt

Vermutlich starteten wir alle das Erwachsenwerden mit klaren Vorstellung. Mit klaren Vorstellung, wie und wie nicht wir leben wollten. Wir konnten uns gewiss abgrenzen. Manche wollten durchfeiern, drei Tag lang wach bleiben, verreisen und unaufhörlich entdecken. Andere träumten früh vom Heimchen und Kindchen und Häuschen an der Dünner. Alles gültig, wahr.

Wir starteten mit einigermassen klaren Konzepten. Die Eltern, wenn anwesend und nicht gerade selber ausgehebelt, wollen uns weismachen, dass unser aller Leben irgendwie doch begrenzt sei, denn irgendwas forme und standardisiere und mässige uns stets. Sei es die Arbeit, der finanzielle Druck oder das andere Geschlecht. Freilich mit guten Absichten.

Sooderso waren wir nicht empfänglich für solche Ratschläge. Wir wollten reüssieren. Wir wollten bewegen, wir wollten empfinden, wir wollten Freiheit, Unabhängigkeit erlangen. Wir wollten uns nicht mehr länger rechtfertigen, für nichts und niemanden. Vor allem nicht für den Leichtsinn, unsere Nächte, Eskapaden und diversen Schulden.

Doch schon früh disziplinierte uns das Umfeld. Ob Matura, Lehre oder weder-noch, alle mussten liefern, mussten früh sich einordnen. Die unbeschwerte reine Schulzeit war rasch vergessen. Alsbald mussten wir Geld verdienen, Krankenkassenprämien kalkulieren, Sozialversicherungsabgaben inkludieren. Im System erwachsen.

Wir balancierten, seiltanzten. Der Wochenendrebell entstand, ein belastbares Konzept des permanenten und wiederholten Eskapismus. Montags bis freitags simulierten wir gewisse Normalitäten, kastrierten uns selber; gehorchten den Eltern und Lehrmeistern, den sozialen Anforderungen. Eine Schule des Lebens, Schein und Ordnung wahren.

Doch freitags konnte nichts uns nunmehr aufhalten. Wir waren entzündet. Die ersten Joints zirkulierten in der 2. Klasse der Regionalbahn. Wir alle verlängerten den Feierabend am Bahnhof, Dosenbier und noch mehr Marijuana. Ein Ausnahmezustand. Wir ernährten uns von Malibu Orange, Gummibärli, Bier und Hanf – bis sonntags.

Das war die kleine Illusion einer Freiheit, eines selbstbestimmten Lebens. Das Wochenende gehört uns. Wir dienten, verrichteten unsere Pflicht unterwöchig, doch am Wochenende waren wir frei und ungestüm. Das war unser Selbstverständnis, unsere Droge, unser Soma. Montags ärgerte aber eine unbestimmte Verspätung im Pendlerverkehr: Personenunfall.

Die ersten ernsthaften Paarbeziehungen etablierten sich. Das Wochenende war plötzlich auch Arbeit. Arbeit an der Partnerschaft. Zwecklose Beziehungen, nicht immer durch leidenschaftlichen Sex motiviert respektive legitimiert. Manchmal auch ein Funktionieren bloss, das dem unterwöchigen Ablauf glich, lediglich anders betitelt.

Das reduzierte die vormals maximale Wochenendefreiheit. Die individuelle Freiheit war nun als eine Verhandlungsmasse einer Paarbeziehung aufgedeckt; das Spiel mit Geben und Nehmen, mit Kredit und Schuld hat sich durchgesetzt. Das vormalige Lebensmodell war durchtrennt. Für unbefriedigenden Sex, für den Fernsehabend der ewigen Kompromisse.

Gewisse Paarbeziehungen verfestigten sich. Andere endeten in Kinder oder in Trennung. Wer konnte, flüchtete in flüchtige Beziehungen; in schnellen, oberflächlichen und unbefangenen Sex mit unbekannten Menschen, ebenso flüchtig kennengelernt um vier Uhr morgens oder im verruchten Internetz, wo vormals unvorteilhafte Frauen einen zweiten Frühling erleben.

Anderen konnten sich nicht mehr rechtzeitig retten. Deren Leben war immer mehr durchorganisiert. Nicht bloss die Paarbeziehung strukturiert den Alltag, sondern auch die nahenden Kindchen ruinieren den Rest der individuellen Selbstbestimmung. Kinder vernichten jeden Individualismus; sie entfremden vom eigenen Leben.

Seitdem trotten wir durchs Leben. Jeden vierten Dienstag im Monat dürfen wir zwei Stunden auswärts trinken. Doch maximal zweieinhalb Bier, nicht zu viel, denn wir müssen stets einsatzbereit sein. Das Natel observiert unsere latente Vergnügungssucht, Heimchen und Kindchen wachen und verurteilen jede Verspätung oder Nichtmeldung.

Wir freuen uns auf balde Ferien. Diese verdoppeln unsere Last. Wir spurten durchs fremdbestimmte Programm der Heimchen und Kindchen. Müssen entweder wochenlang an irgendwelchen fernen Stränden uns langweilen oder möglichst viele Sehenswürdigkeiten gleichzeitig besichtigen; irgendwelche aufregenden antiken Porzellansammlungen.

Glücklicherweise ist das Leben aber endlich. Man hat zwar gelebt, aber bloss ohnmächtig, ausgeliefert. Man ist zwar statistisch erfasst worden, doch einen Sinn konnte das Leben nicht stiften. Man stirbt als Sozialversicherungsnummer, die Nachwelt würdigt das Erbe und den steten guten Willen. Rasch ist man vergessen. So wie man sich einst selber.

Ein aktueller Zustand

Gewiss erwartet meine nunmehr verkleinerte Leserschaft einen Bericht über das Papiwerden, übers Wickeln und sonstigen neumodischen Vateraktivitäten. Oder wie ich das Kindchen auf Strassen Basels schubkarre. Oder wie die Paarbeziehung aufgrund erweiterten Ansprüchen komplizierter nun sich ausgestaltet. Nichtsda.

Ich überlebe wie gewohnt. Zwar müder, erschöpfter, schlafloser, manchmal allem mehr überdrüssiger als üblich. Ansonsten einigermassen stabilisiert. Nicht beruhigt, nicht gänzlich sediert und kastriert, aber immerhin den Möglichkeiten maximalst eingeschränkt. Das Haus spontan verlassen? In Olten feiern? Ausgeschlossen.

Ich habe jüngst die Göttliche Ordnung auf Basels Münsterplatz verfolgen dürfen, eine kurzweilige Komödie über den Sinneswandel eines gezähmten Heimchens, das in der fernen Grossstadt Zürichs ihren Tiger und den Mehrwert des hängigen Frauenstimmrechts entdeckt. Eine Art Heimspiel in Basel-Stadt, ein klassisch progressiver Halbkanton.

Gleichzeitig veröffentlicht der hier bereits im Stadt-Land-Kontext zitierte Benjamin seine Dystopie, eine radikalisierte Stadt-Land-Gesellschaft, die in der selbstgewählten Autonomie der Städte endet. Gleichzeitig brilliert Dimitri im Verdrängungskampf der Generationen. Und die Futuristen tobten, brüllten, tranken und vagabundierten mit Mutters Camper.

Und nebenbei durfte ich erfahren, dass Basel-Stadt den Erwerb eines elektronischen Stramplers mit ungefähr tausend Franken subventioniert, unabhängig des Realeinkommens, sondern im Giesskannen-Metapher. Ich hätte anders priorisiert, muss mich wohl aber erst an das politische System Basel-Stadts gewöhnen.

In diesem breiten Kontext altere ich. Ich werde privater, zurückgezogener. Ich werde automatisch häuslicher. Ich werde nicht mehr so oft ausbrechen können. Ich werde gewiss arbeiten, Geld verdienen und so weiter, dort weitere Geschichten bilden. Doch abseits davon muss ich haushalten, geduldig und nachsichtig bleiben.