Month November 2018

Die Liquidität im Unternehmen

Das Liquiditätsmanagement ist die wichtigste Disziplin in der Betriebswirtschaftslehre. Diese Disziplin verantwortet, ob ein Unternehmen zahlungsfähig ist und auch bleibt. Sie subtrahiert die erwarteten Ausgaben von den erwarteten Eingaben und ermittelt dadurch den Stand des Kontokorrents des Unternehmens.

Denn jede Ausgabe muss zunächst finanziert werden. Die Wirtschaft ist ein Kreislaufsystem. Ein Unternehmen hat Kunden. Diese nennt man Debitoren. Diese bezahlen in der Regel nicht sofort oder im Voraus, sondern mit einem Versatz von standardmässig dreissig Tagen. Manche Unternehmen zögern auch diese dreissig Tage aus Liquiditätsgründen heraus.

Demgegenüber sind die Kreditoren gestellt. Das sind die Lieferanten des Unternehmens. Dazu gehören auch Anspruchsgruppen wie Sozialversicherungen, berufliche Vorsorge oder halt in letzter Konsequenz der Staat. Sie alle fordern Geld. Zudem müssen Unternehmen Mitarbeitende entlöhnen. Das alles sind Ausgaben.

Die grosse Kunst im Liquiditätsmanagement ist also dafür zu sorgen, dass die geplanten Ausgaben stets durch geplanten Einnahmen gedeckt sind. Ansonsten muss das Unternehmen ein kurzfristiges Darlehen bei ihrer Hausbank beantragen. Das ist meistens der Anfang vom Ende. Denn auch diese Darlehen müssen pünktlich zurückbezahlt werden.

In unserem Unternehmen ist das Liquiditätsmanagement behelfsmässig organisiert. Ich wache darüber. Anfänglich war ich sehr besorgt. Denn Liquiditätsmanagement provozierte folgende Gefühle: Angst, Ungewissheit, Sorge und Vorsicht. Ich hatte plötzlich einen existenziellen Druck, den ich als Angestellter nicht aushalten musste.

Nach einigen Monaten liess der Druck nach, weil Liquidität im Unternehmen kein Traktandum mehr war, da genügend Mittel vorhanden waren. Diese Mittel hatten wir sodann auch mehr oder weniger besonnen investiert: Marketing und Recruiting. Das Marketing hat sich längst selber finanziert.

Das Recruiting hingegen (noch) nicht. Wir hatten einerseits eine intensive Storming-Phase, die unser Unternehmen operativ lähmte. Andererseits hatten wir zwei Abgänge zu bedauern, wo wir viel Zeit und Geld investierten. Wir hatten auch teure Weiterbildungen übernommen. Dieses Geld ist nun verloren. Zudem konnten wir nicht alle Mitarbeitende gewinnbringend einsetzen.

Also ist Liquidität mittlerweile ein Sorgenkind geworden. Unsere Mittel schwinden. Momentan erleiden wir ein historisches Tief. Ich müsste eigentlich sehr besorgt sein. Doch wir haben genügend offene Kreditoren, die uns immerhin nochmals zwei Monate das Leben finanzieren. Und zugleich wollen einige Kunden aus Steuergründen vorauszahlen.

Das verlagert das Problem des Liquiditätsmanagements ins nächste Jahr. Für dieses Jahr sind wir gerettet – dank extrinsisch motivierten Vorauszahlungen unserer Kunden. Hier muss ich einfach sicherstellen, dass das viele Geld uns nicht zu Mehrausgaben verführt. Denn das Geld ist eigentlich blockiert.

Es müsste gemäss Liquiditätssicht sofort abgegrenzt und periodengerecht zurückgeführt werden. Doch das verbietet uns das Steueramt, weil wir leider Vorauszahlungen nicht als solche betiteln dürfen. Unsere Kunden wollen ihre Steuern optimieren – aber das zulasten der “kleinen” Dienstleister, die dann diese Gewinne versteuern müssen.

Und das wiederum verstärkt die Liquiditätsdiskussion. Denn im Folgejahr müssen wir Steuern berappen, worüber wir aber die liquiden Mitteln längst mehr verfügen. Das ist irgendwie ungerecht für Kleinstunternehmen. Aber andersherum verlängert diese Aktion die Lebensdauer unserer Firma um einige Monate.

Also, Liquidität ist superwichtig. Muss man immer im Auge behalten. Das entsprechende Plugin im eBanking funktioniert aber seit September nicht mehr. Meine Anfragen sind mit einem Bugfix vertröstet worden, der aber nie eingespielt wurde. Ich war also gezwungen, das Ganze im Excel zu replizieren. Sehr ärgerlich!

Keine Willensfreiheit

Bekanntlich verneine ich das Konzept eines freien Willen. Ich bezweifle, dass wir autonom und unabhängig entscheiden können. Vielmehr treiben uns im hundertjährigen Eisberg-Modell Gefühle, Ängste, Sorgen, Bedenken, Sehnsüchte. Zudem können wir erst jetzt abschätzen, wie das Gehirn programmiert ist.

Wenn ich das alles kombiniere, dann muss ich einen freien und bewussten Willen ablehnen. Ich kann zwar gewisse Herrschaft über mich selber simulieren, aber ich lebe dann in meiner Welt als Vorstellung und nicht des Willens. Ich habe bislang kaum eine Entscheidung bewusst getroffen. Man parodiert das gerne als Bauchgefühl.

https://www.youtube.com/watch?v=4JAC6j8StQo

Tatsächlich ignoriere ich öfters mein Bauchgefühl. Ich unterdrücke, was Körper und Bauch mir sagen wollen. Stattdessen verklebe ich mir die Welt wie sie mir gefällt. Ich kann mich tagsüber gut konditionieren. Doch nachts oder in Umnachtung oder in Momenten der Unachtsamkeit verliere ich meine Selbstbeherrschung.

Ich gehorche dann meinem Bauch. Ich funktioniere, ich tue, was ich im Bewusstsein meiner vermeintlichen Selbstbeherrschung bereuen werde. Doch im Augenblick fühle ich mich gut, befriedigt und vom Konflikt erlöst. In solchen Momenten übermanne ich mich selber. Das ist meine selbstzerstörische Sehnsucht, die mich aufgrund des ewigen Konflikts quält.

Ich möchte weniger Kompromisse ausüben, die Spannungen verursachen. Spannungen zwischen Kopf und Bauch. Zwischen dem, was ich mir einrede und dem, was ich fühle. Ich will stattdessen drauflos fühlen und leben. Und wenn, dann erst im Nachhinein vergegenwärtigen. Ich lasse mich überraschen, was passiert.

Ich kann mein Leben nicht kontrollieren. Alle privaten wie beruflichen Meilensteine sind zufällig entstanden. Ich war zufälligerweise an der richtigen Zeit am richtigen Ort und habe das Richtige geantwortet. Das war kein Masterplan, das war keine Absicht. Das ist einfach geschehen und ich habe es zugelassen.

So auch jetzt. Ich habe keine Ahnung, wie ich mich privat weiterentwickeln werde. Ob überhaupt oder wann und wie. Ich habe bloss meinem Bauch vertraut. Ich habe das vollzogen, was vermutlich längst überfällig war – was ich mir aber nicht eingestehen wollte und daher bewusst ausgeblendet habe.

Ich hatte in keinem Moment eine Willensfreiheit. Meine Freiheit gründet darin, keinen Willen haben zu müssen. Ich kann in wenigen Augenblicken mein Verhalten beeinflussen, Reaktionen testen. Doch diese Momente sind selten und kann ich nicht synthetisieren. Sie kommen und gehen. An der richtigen Zeit am richtigen Ort das Richtige geantwortet.

In der Manie folgt die Senke

Die dramatische Lebenswende entfesselt Kreativität und Potential, sie macht mich beweglicher und agiler. Sie befreit, wo ich mich gefangen fühlte. Nun endlich kann ich aufblühen und mich verwirklichen. Ich kann wieder mich exponieren. Die Lebenswende entfacht eine neue Manie, die sicherlich einige Monate andauern wird.

Ganz profane Lebensumstände werden mich bald dämpfen. Meine Entwicklungswellen wiederholen sich zyklisch. Der Periode potenter Schaffenskraft folgt eine weitere Episode vegetierender Ermattung. Die Zyklen haben sich verlängert. Die Intensität hat zugenommen. Dennoch bin ich gleichmütiger als bereits zuvor.

Dieser Blog widerspiegelt diese Entwicklungswellen wunderbar. Man liest mich himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt abwechselnd. Während der Phasen vegetierenden Ermattung schlummert dieser Blog im Nirvana. Derweil ich funktioniere. Und zwar durchaus mit Bravour. Ich verblende mich selber.

In der Manie entdecke ich meine rebellische und künstlerische Sehnsucht. In der Senke meine berufliche Produktivität. Beide Phasen wirken und stiften damit irgendeinen Wert. Beide Werte sind nachhaltig und entsprechen meiner Person. Das ist ja grosse Motiv dieses Blogs: der Seiltanz überm Abgrund zwischen bürgerlicher und antibürgerlicher Existenz.

Ich werde mich niemals entscheiden können. Ich werde beiden Existenzen mich zuwenden, auch wenn sie gleichzeitig sich widersprechen. Ich werde niemals ruhen. Ich tanze. Und das möchte ich akzeptieren und nicht ruinieren. Wenngleich ich damit meinem Umfeld schädige. So muss ich das Umfeld wechseln.

Es gibt kein richtiges Leben im falschen

Widerstand ist eigentlich zwecklos. Ich hatte mich zeitlang gefügt, bin assimiliert worden. Ich habe die orange Leistungsgesellschaft entdeckt und bin darin aufgeblüht. Ich konnte mich einigermassen damit identifizieren, meine Identität so überbrücken, dass ich nun eine Phase der Leistung erdulde, um mich danach zu befreien.

Das behinderte Kindchen hat mich jedoch radikalisiert. Ich möchte bereits vom System heraus operieren. Aber ich anerkenne, dass meine Möglichkeiten begrenzt sind. Schliesslich gibt’s kein richtiges Leben im falschen. Die Verhältnisse heutzutage sind fundamental “falsch”. Man müsste sie radikal reformieren, dass das Leben “richtiger” werden könnte.

In diesem Sinne will ich nicht Energie verschwenden für Angelegenheiten, die im “falschen” Leben gründen. Ich kann gut und gerne Kompromisse wahren, solange sie das “falsche” Leben betreffen. Aber bloss, solange ich an das “richtige” Leben glaube. Das entspricht dem Nordstern-Konzept, das ich auch gerne beruflich als Lebenssinn verkaufe.

Denn bloss der Glaube ans richtige Leben macht das Leben im falschen Leben überhaupt lebenswert. Weil ansonsten würde ich bloss funktionieren, irgendwann sterben und ohne Würde mich verabschieden müssen. Das ist mein Opiat gegen das falsche Leben, das mich beruhigt und sanft tröstet.

Trotzdem will ich niemals aufgeben.

Mein Kindchen ist schwerstbehindert

Ich darf verkünden, dass mein Kindchen schwerstbehindert ist. Ich tue dies erstmals explizit und ohne Umwege. Das Kindchen wächst mit normaler Lebenserwartung auf. Geistig aber wird das kleine Mädchen stets auf dem Niveau eines Säuglings harren. Gehen und kommunizieren werden schwierig zu bewältigen.

Die exakte Ausprägung der Behinderung ist noch nicht absehbar. Aber die Behinderung existiert. Sie war eine spontane Mutation der Eizelle, also nicht vererbt. Eine Laune der Natur. Das kann in wenigen Fällen vorkommen. In der Schweiz bekennen sich ungefähr zwanzig Familien zu dieser Erkrankung.

Fragestellungen wie Berufsausbildung, erste Liebe, Erziehung sind nunmehr irrelevant. Stattdessen muss man ein Heim wählen und entsprechende IV-Fälle einreichen, weil kein allgemeiner für diesen Fall existiert. Viele Therapien, viele besorgte Angestellte der Staatsdienste und privaten Stiftungen, viel Mitleid bilden den Alltag.

Das Kindchen selber kann nichts beklagen. Es lächelt, es spielt, es ist fröhlich. Es vermisst nichts. Es sieht zwar nicht gut, es kann nichts halten, es kann weder gehen noch krabbeln, weder Mimik, Gestik noch Kommunikation äussern. Aber es kann mit einfachsten Berührungen stimuliert werden und ist dann vollends zufrieden.

Es nörgelt und jammert nicht. Es kennt keine trotzige Phase. Es ist rundum glücklich und zufrieden. Es kennt drei Bedürfnisse: Einsamkeit, Hunger und Müdigkeit. Es fordert die Befriedigung dieser drei Bedürfnisse. Mehr Bedürfnisse spürt es nicht. Diese sind grundsätzlich leicht zu befriedigen.

Die alltäglichen Aufgaben werden immer anstrengender. Das Kindchen wächst in die Länge, es wird immer schwerer. Derzeit kann ich es noch problemlos heben. Das Mobiliar hält der Belastung stand. Doch in einigen Jahren muss das Mobiliar verstärkt werden: ein Hebelift für die Badewanne, ein versenkbares Bett, eine stabile Wickelkommode.

Der Pflegeaufwand nimmt also zu. Ich hoffe, dass der Pflegeaufwand mich nicht überfordere. Weil ansonsten muss eine professionelle Pflegekraft unterstützen – oder das Kindchen muss in einem spezialisierten Heim platziert werden. Das erhöht die Komplexität des Alltags. Das verlangt weitere Entbehrungen.

Wie ich selber damit umgehe? Ich akzeptiere. Ich kann das nicht beeinflussen. Bloss die Angehörigen müssen leiden. Das Kindchen nicht. Das tröstet. Ich bin unmittelbar betroffen. Ich habe zwar eine Tochter, aber irgendwie auch nicht. Keine “normale” oder “vergleichbare”. Ich habe mich daran gewöhnt.

Mein Wunsch war, dass sie sprechen respektive interagieren kann. Mindestens das habe ich original angefordert. Doch vermutlich wird sie das niemals mir schenken können. Das Kindchen kann sich nicht einmal von mir verabschieden. Man weiss nicht, ob sie mich kennt, spürt oder wahrnimmt. Vermutlich nicht.

Ich merke das, wenn ich das Kindchen in die Kita bringe. Dort sind andere Kinder, die ihre Eltern erkennen, sich freuen und so weiter. Mein Kindchen ist einfach stumpf dort. Ich berühre es immer zehn Sekunden lang. Dann lacht es. Ich befürchte, dass tut sie nicht meinetwegen. Sondern ist Teil ihrer Erkrankung.

Ich nehme das Kindchen auf den Arm. Mittlerweile sieht es gefühlt ein wenig besser. Es versucht mich anzuschauen. Aber es funktioniert nicht. Immerhin grinst das Kindchen. Dann fahren wir heim. Die anderen Kinder, die beweglich sind, mit ihren Eltern kommunizieren, deprimieren mich schon. Aber ja, was soll ich tun?

Ich kann es bloss aushalten. Die schönsten Momente sind im Bett mit dem Kindchen. Wenn ich es einfach stundenlang berühren kann. Das Kindchen freut sich, es lächelt. Es greift nach mir, nach meinen Haaren und Finger. Ja dann ist alles gut. Dann vergesse ich die hüpfenden anderen Kinder. Die Realitätsprüfung erlebe ich nur in der Kita.

Schnell hin und schnell wieder weg, ich verweile nie zu lange dort. Zehn Sekunden Berührung, dann gehen wir. Überhaupt meide ich Orte, wo andere Kinder sind. Das ist der lokale Park, der lokale Zoo. Mein Kindchen und ich im Zoo. Wir beide interessieren uns kaum für die Tiere. Aus unterschiedlichen Gründen zwar.

Das einzige, was sie anregt, ist das Vogelhaus. Dort wird gezwitschert. Lustige Geräusche. Das mag sie. Sie ist selber eine Geräuschmaschine. Sie kann zwar bloss etwa fünf unterschiedliche Geräusche. Ich weiss nicht einmal, ob sie weiss, dass sie selber Geräusche macht und deswegen lachen muss. Aber sie mag es. Mag Geräusche.

Glücklicherweise kann ich ebenfalls Geräusche erzeugen. Eventuell kann sie mich so wiedererkennen? Vermutlich nicht. Dennoch imitiere ich so oft als möglich ihre Geräusche und will damit ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln, für das sie eigentlich gar nicht empfänglich ist. Ich lebe in der Illusion der Interaktion.

Weil sie nicht so gut sieht, kann man sie visuell nur mit Hilfsmittel reizen. Das funktioniert aber perfekt. Leuchtende Sachen liebt sie. Dann macht sie grosse Augen, dann versucht sie, ihre Augen zu fokussieren. Sie kann zwar nicht gezielt danach greifen, aber bemüht sich. Es sieht schon traurig aus, wenn sie nichts greifen kann.

Ja, ich bin mindestens einmal täglich deprimiert deswegen. Mindestens einmal. Manchmal auch mehrmals. Ich versuche, meinem Kindchen das Leben zu erleichtern und ihre drei Grundbedürfnisse so gut als möglich zu befriedigen. Es ist eine klassische selbstlose Liebe, wo ich nichts erwarten kann.

Das Kindchen hat mich allerdings radikalisiert. Ich bin gleichgültiger geworden. Ich bin gleichmütiger geworden. Und ich will weniger Kompromisse riskieren. Ich will mein Leben nicht noch mehr einschränken. Ich habe mich auch vom Ziel, möglichst viel Geld zu verdienen, verabschiedet.

Da ich eh einsam sterben werde, kein Kindchen mich bedauert, kann ich ebensogut einsam leben. Denn das arme Kindchen wird auch niemanden haben, der sie begleiten kann. Denn die Eltern sind dann längst tot. Das Kindchen ist alleine, fristet in irgendeinem Heim, lächelt und stirbt einfach. Völlig ohne Aufmerksamkeit und Würdigung.

Entweder-oder

Entweder entscheide ich mich für die Paarbeziehung. Oder ich entscheide mich dagegen. Mir ist die Wahl auferlegt worden. Das war nicht so geplant. Denn ich will mich nicht entscheiden. Weil wenn ich entscheiden muss, dann entscheide ich mich gegen die Paarbeziehung. Weil ich darin keinen Sinn und keine Identität finde.

Gewiss ist meine Paarbeziehung ein wenig komplizierter. Wir haben ein gemeinsames Schicksal zu bewältigen. Bekanntlich bin ich Vater geworden. Die Angehörigen leiden an einem sehr selten Geburtsgebrechen des Kindes, das kein “normales” Leben erlaubt. Stattdessen sind multiple IV-Fälle zu beantragen. Das Kindchen bemerkt davon nichts.

Als Paar haben wir uns auch einigermassen in Basel sozialisiert. Auch ich bin einigermassen integriert, nicht vorbildlich. Aber immerhin. Die Wohnung ist schick, die Lage ist ausgezeichnet, das Mobiliar ausgewählt. Alle weltlichen Dinge sind geregelt, Auto vorhanden, Versicherungen platziert, auch ein gütlicher Vorsorgeplan ist getroffen.

Die Vernetzung innerhalb beider Familien ist okay. Wir sind keine überschwänglich liebende Familie, aber wir vertragen uns einigermassen. Wir haben nichts Fundamentales zu bestreiten. Kurzum, technisch alles einwandfrei. Also muss ich überhaupt eine Entscheidung forcieren?

Entweder ich verpflichte mich nun zu dieser Paarbeziehung. Oder ich verneine sie komplett. Beide Optionen folgern Konsequenzen. Ich kann nicht fortfahren wie bisher. Ich muss etwas ändern. Beide Optionen sind beschwerlich und schmerzlichst. Entweder-oder. Ich kann mich nicht befreien, ich kann die Entscheidung nicht vertagen.

Das gemeinsame Schicksal mit dem eingeschränkten Kindchen beeinflusst meine Entscheidungsfindung erheblich. Alleine kann ich das Schicksal nicht optimal bewältigen. Ich müsste alle Hilfsmittel auch beschaffen und einrichten. Auch einfachere Aufgaben wie Wickeln, Füttern und Anziehen sind zu zweit komfortabler zu bewerkstelligen.

Alleine allerdings werden die täglichen Aufgaben immer anstrengender. Ich prognostiziere, dass ich in einigen Jahren das Kindchen in ein Heim abliefern muss. Diese ohnehin gegebene Frist könnte die Paarbeziehung noch um einige Jahre zusätzlich strecken. Das bedauere ich sehr, kann das aber selber kaum aufhalten.

Ebenso sind die sozialen Interaktionen in Basel ohne Paarbeziehung verloren. Alle bisherigen Kontakte werden mich als verantwortungslos, egoistisch und desolat verbrämen. Ich kann’s nicht einmal verübeln. Fortan würde ich Basel lediglich schlafen, eventuell trinken, manchmal mit dem Kindchen spazieren. Alleine sein.

Ich kann mir ein alleinerziehendes Betriebsmodell zwar durchaus vorstellen, aber nicht im Kontext der Geburtsgebrechen des Kindchens. Von den wenigen bekannten Fälle in der Schweiz lebt nur eine “Familie” in der Schweiz mit derselben Krankheit getrennt. Die restlichen zwanzig Familien sind – zumindest offiziell – intakt.

Ich kann das Kindchen wegabstrahieren für die Entscheidungsfindung, damit das mich nicht beeinflusst. Aber die Entscheidung muss ich holistisch erledigen. Ich kann einzelne Aspekte nicht verdrängen. Ich könnte die Paarbeziehung also akzeptieren, wenn ich vor allem die Bedürfnisse des Kindchens berücksichtige.

Doch meine Bedürfnisse sind ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Ich muss bereits jetzt des Kindes wegen entbehren, was naturgemäss mir wichtig wäre: Nachlässigkeit, Verantwortungslosigkeit, Masslosigkeit, Widerstand, Sinnlosigkeit, Verzweiflung, Weltschmerz. Das Kind erzieht mich, das Kind sittet mich.

Ohne Kindchen könnte ich selbstbestimmter entscheiden also. Ich müsste keine Kompromisse annehmen. Das Kindchen legitimiert den Kompromiss, den ich naturgemäss verabscheue. Ich lebe bereits jetzt in einem grossen Kompromiss. Zu viele Kompromisse sprengen meine Identität. Also muss ich mich wieder radikalisieren.

Mir ist bewusst, dass Paarbeziehung Arbeit bedeuten. Dass Paarbeziehung per Definition grössere Kompromisse sind. Darin wird niemand wirklich glücklich, aber auch nicht komplett unzufrieden. Deswegen sind Paarbeziehungen auch so erfolgreich. Sie zwingen einen zu einer gewissen Mittelmässigkeit, Ausgeglichenheit und Stabilität.

Die nicht-existente Gesellschaft fragt solche Werte nach, damit wir wiederum besser funktionieren können. Funktionieren heisst, auf den ökonomischen Zweck reduziert zu werden. Gute, mittlerweile auch aufgeklärte und sensible Konsumenten zu sein, finanziert durch eine angemessene Lohnabhängigkeit, die irgendwie Sinn stiftet.

Zwar gilt die Liebe weiterhin als Widerstandsnest gegen die orange Leistungsgesellschaft. Dennoch sind die Paarbeziehungen als orange bishin grüne Zweckgemeinschaften mutiert, die bloss eine konstante Leistung garantieren sollen. Die Paarbeziehung ist keine Quelle der Liebe, sondern des Anstands, der Sitte, der Moral und der Leistungsbereitschaft.

Ich will dagegen kompromisslos leben. Ich will lieben, wie die Liebe fällt. Ich will mich nicht lebenslänglich versteifen. Ich fürchte mich nicht vor Einsamkeit im Alter. Niemand kann mich beschützen, niemand kann mich retten, niemand kann mich zum Besseren kehren. Ich muss das akzeptieren – oder mich organisch und nicht invasiv ändern.

Entweder-oder. Ich bin zur Entscheidung genötigt. Was will ich? Ich möchte aufrichtig fürs Kindchen sorgen. Sooderso. Ich möchte keine Kompromisse riskieren. Sooderso.

Immerzu alleine

Ich bin alleine auch dann, wenn ich nicht alleine bin. Ich fühle mich oftmals alleine. Wobei ich mich darüber nicht beschwere. Weil eine Grundeinsamkeit das Hintergrundrauschen des Lebens bildet. Ich bin überzeugt, dass wir alle vereinsamen. Trotz oder eben gerade wegen Paarbeziehungen. Die alles durchdringende soziale Kälte hat mich längst im Griff.

Ich bin sozial erkaltet. Ich habe Beziehungen reduziert. Mit wenigen Menschen fühle ich mich wirklich und tief verbunden, auch sprachlos verbunden. Ich kann einfach in ihrer Nähe sein und mich wohl, geborgen, beruhigt und entspannt fühlen. Ich muss mich nicht beweisen, rechtfertigen oder erklären. Sein im Dasein quasi.

Ich habe diesen Zustand in Paarbeziehungen selten erlebt. Wenn, dann bloss kurzweilig. Die wirklich tiefen Beziehungen überdauern Jahrzehnte. Diese aber sind nicht als klassische Paarbeziehungen motiviert. Sondern sind schön intrinsisch. Die Motivation darunter ist ehrlich, tief und frei von gemeinen Beziehungskonflikten.

Ohne diese Beziehungen fühle ich mich alleine. Alleine im Kopf, alleine in Gedanken, alleine im Sehnen, alleine im Versuch, mit Alkohol mich zu betäuben. Unsere Gesellschaft ist ohnehin fragmentiert, vereinzelt, dass man kaum noch etwas als Gesellschaft generalisieren kann. Das entschuldigt nicht, das erklärt bloss.

Sich verabschieden

Ich bin nicht besonders besinnlich. Ich verkenne den wahren Ernst eines Moments. Ich überspiele meine Unsicherheit mit einem zynischen Grinsen. Ich meide Situationen, die Andacht erfordern. Also habe ich die Verabschiedung eines Familienmitglieds verzögert bis zum letztmöglichen Termin. Bis jetzt.

Meine Grossmutter will sterben. Sie wird hoffentlich auch sterben. Denn ihr Lebenswille ist gebrochen. Sie siecht wortwörtlich in einem überteuerten Zimmer. Gewiss besuchen sie Verwandte und Bekannte. Doch sie möchte nicht so enden. Sie wünschte immer eine Erlösung, bevor sie ihrer Gebrechlichkeit sich schmerzlichst bewusst werden müsste.

Ich habe mich beeilt. Doch wie verabschiede ich mich würdevoll? Ich war nicht vorbereitet. Ich musste noch nie einen engen Verwandten plötzlich verabschieden. Entweder war ich zu weit entfernt und somit nicht wirklich betroffen – oder ich war zu jung, um die allgemeine Vergänglichkeit würdigen zu können. Diesmal bin ich mitten drin.

Ich habe meiner Grossmutter vermittelt, dass sie gehen dürfe. Sie müsse kein schlechtes Gewissen habe. Sie dürfe gehen. Ich habe mich aufrichtig bedankt. Ich habe aber nicht dramatisiert; also keine Tränen geweint, auch wenn mir zumute ist. Ich habe an die Momente erinnert, wo sie mich entscheidend prägte. Ihr ein gutes Gefühl hinterlassen.

Ein Gefühl, ein erfülltes, breites und langes Leben gelebt zu haben, das nun halt plötzlich sich änderte. Ich will, dass sie erlöst und zufrieden einschlafen kann. Ich will nicht über die Steuer diskutieren, nicht über verpasste Chancen meinerseits oder ihrerseits. Oder andere Lebensumstände, die sie formten. Ich will einfach, dass sie zufrieden gehen kann.

Ich habe so reagiert, wie es ebenfalls erwarten würde. Ich habe Mut zugesprochen, loslassen zu können. Ich habe im weitesten Sinne passive Sterbehilfe geleistet. Ich fühle mich nicht schlecht dabei. Sondern einfach nur menschlich und meiner Grossmutter angemessen. Sie war immer rauschend unterwegs, belebend, frech, unmittelbar.

So soll sie uns auch verlassen dürfen. Nicht als gebrechliche Grossmutter in einem Heim, die kaum sprechen, atmen und nicht selbständig sich bewegen kann. Meine Grossmutter war dem Leben zugeneigt, auch bis noch vor kurzem. Bis die längst diagnostizierte Krankheit sie vollends übermannte.

Sie wird hoffentlich bald sterben. Ich bin traurig, ja. Aber ich bin auch froh und erleichtert. Weil ich mindestens noch meine Dankbarkeit einigermassen mitteilen konnte. Ich hoffe, sie konnte sie annehmen. Das lehrt mir abermals die allgemeine Vergänglichkeit. Das Leben kann sofort enden. Ich könnte das (noch) nicht akzeptieren. Muss ich auch nicht.

Im Widerstand mit dem Beziehungsglück

Ich verweigere kein Glück. Ich definiere mich nicht durch Glück. Glück ist relativ, flüchtig und vor allem eine Verführung. Glück kann nicht überdauern. Alle Versuche, das Glück zu konservieren, verunglücken. Wonach ich mich sehne, ist ein Zustand der Entspannung, der Ruhe und der Geborgenheit gleichzeitig.

Diesen Zustand kann man gut und gerne in Paarbeziehungen vermuten. Dort kann man entspannen, ausruhen und geborgen sich wähnen. Das sind klassische Paarbeziehungen, wie milliardenfach während der Menschheit sich durchsetzen konnten. Aber ich konnte diesen Zustand nie länger als sechs Monate verwirklichen.

Meine Paarbeziehungen sind allesamt gescheitert. Sie endeten immer tragisch, weil ich sie nicht würdevoll und gesittet abschliessen konnte. Ich bin deswegen vernarbt und werde deswegen wohl auch immer wieder verletzen. Ich fühle mich schuldig und müsste eigentlich alle Bekanntschaften warnen, dass man mit mir nicht zusammenleben kann.

Sicherlich könnte ich mich beherrschen, wäre eventuell besser in Beziehungen als gedacht, ich könnte mich sicherlich reformieren. Doch letztlich bin ich leider unverbesserlich. Ich müsste eine durch und durch alternative Erfahrung erleben, die alles bisherige widerlegt. So hoffe ich mit jeder neuen Beziehung, dass jetzt alles sich ändere. Vergebens.

Ich habe nun viermal versucht, Paarbeziehung alternativer zu gestalten. Ich wollte bisherige Muster brechen. Doch viermal ist es mir misslungen. Lügen und betrügen konnte ich stattdessen immer besser. Ich wurde nicht geschickter, ich wurde bloss kaltblütiger. Anfänglich bereute ich noch, mittlerweile habe ich mich arrangiert.

Nunmehr kann ich mein Verhalten sogar rationalisieren. Damit spare ich mir die quälerische und selbstzerstörische Reflexion. Ich verknüpfe das Verhalten mit meiner Haltung, dass Liebe und Glück vergänglich sind. Dass man Glück in Paarbeziehungen nicht erzwingen kann. Sondern dass man sich bedienen muss, wo immer man kann.

Damit rechtfertige ich mein Verhalten. Dass ich dadurch Mitmenschen schädige, verschweige ich. Ich kann in solchen Situationen keine Empathie empfinden. Ich bin in solchen Situationen aufgrund des grossen Scheiterns ziemlich abgestumpft. Ich kann völlig erkalten. Und insgeheim bewundere ich mich noch dafür. Schrecklich.

Ich habe bereits mit dem Gedanken experimentiert, dass ich niemals in festen Paarbeziehungen konstant glücklich werden kann. So kann ich schlussfolgern, dass ich mich nicht in Beziehungen flüchten darf. Aber ich zweifle, ob ich der Versuchung widerstehen kann, mich einfach hinzugeben – sodann alles sich wiederholt.

Mir ist also bewusst, dass ich nicht beziehungsfähig bin, dennoch stürze ich mich in Beziehungen, weil ich so sehr nach diesem Zustand der Entspannung, der Ruhe und der Geborgenheit lechze. Ich kann allerhöchstens mein Verhalten transparent kommunizieren. Vermutlich erschrecke ich die meisten – oder man vergisst es einfach im Augenblick.

Ich möchte nicht nach Monaten glücklicher Paarbeziehung plötzlich erwachen, etwas verändern müssen, weil ich mich unglücklich, unverstanden fühle. Ich möchte dann nicht mies und hinterfotzig mich verhalten müssen, Menschen damit demütigen, die im Grunde mir sehr wichtig sind.

Ich leiste Widerstand – gegen mich selber, gegen das Glück, gegen das Konzept der Paarbeziehungen. In der Zwischenzeit versuche ich zu funktionieren, will möglichst nicht darüber nachdenken, programmiere meinen Roboter, reite mein virtuelles Pferd. Und arbeite natürlich. Ich will mich nicht auseinandersetzen.