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Mühsal der Selbstauseinandersetzung

Der Notstand provoziert die Selbstauseinandersetzung. Zuhause gefangen, isoliert, ohne Kulturindustrie fällt der Mensch plötzlich auf sich selber zurück. Dasselbe Schicksal teilen die Aufgeklärten, Depressiven und Grübler dieser Welt, die irgendwann – meistens zu spät als zu früh – mit dem Nachdenken und Sinnieren unbeholfen starten. 

Unbeholfen deswegen, weil weder Eltern noch Schule die Selbstauseinandersetzung uns lehrten. Wir alle beginnen mit denselben Unerfahrenheit. Plötzlich, vermutlich allerspätestens mit 40, versuchen wir unser Selbst zu verstehen. Meistens nicht, weil wir wollen, sondern weil wir müssen.

Entweder sind unsere bisherigen Gegenwartsbewältigungsstrategien gescheitert oder nicht mehr angemessen für die jüngsten Ereignisse. Oder die äusseren Verhältnisse haben sich gewandelt dergestalt, dass wir notgedrungen uns auseinandersetzen müssen, wovor wir stets geflohen sind. Das auslösende Ereignis ist – einmal mehr – irrelevant.

Jetzt sind wir unbeholfen, unerfahren – und müssen uns auseinandersetzen. Wir müssen reden, Zwiegespräche führen. Plötzlich ist nicht mehr alles ganz einfach, die Leichtigkeit des Daseins ist verflüchtigt. Plötzlich sind alle Gedanken schwer, jede Tat bedenkenswert. Wir zweifeln hier und da. Die Gedanken wiederholen und kreisen. 

Die Selbstauseinandersetzung ist keine exakte Wissenschaft. Kochbücher, Anleitungen helfen nicht. Sie verunsichern. Die Selbstauseinandersetzung ist, sobald einmal eingetreten, ein immerwährender Prozess und kann nicht storniert werden. Ein Status quo ante kann nicht hervorgerufen werden. Entweder ist man drin – oder nicht.

Ein Prinzip der Selbstauseinandersetzung ist, dass man selber Bewältigungsstrategien entwickeln muss. Man kann zwar sich inspirieren lassen, doch umsetzen muss man selber. Es ist eine Adoption. Die Bewältigungsstrategien entstehen aus gesammelten Erfahrungen. Wir können unsere Strategien teilen, wir können Mitmenschen teilhaben lassen.

Doch bewältigen müssen wir unser Selbst selber. Niemand kann das schultern. Auch kein Psychiater oder Heiler. Der Psychiater bietet Hilfe zur Selbsthilfe. Klassische Ausdruckstechniken können unterstützen. Sie entlasten die Psyche, reinigen. Doch sie erzeugen keine neuen Erkenntnisse. 

Wer bloss ausdrückt, ist irgendwann entleert. Er muss sich wieder frisch stimulieren, wieder dramatisieren – aber ist doch ohne Erkenntnis und Gewinn. Der Ausdruck stärkt die Selbstauseinandersetzung insofern, als man über den Ausdruck reflektiert, man die Botschaften liest und allmählich zu begreifen versucht. 

Wer also ein ausdrucksstarkes Tagebuch schreibt, soll die Botschaften nicht bloss archivieren, sondern regelmässig interpretieren und stets angesichts jüngster Ereignisse bewerten. Oder wer ausdrucksstark tanzt, soll seinen Tanz aufzeichnen, im Nachhinein studieren und Befindlichkeiten in einen Kontext setzen. 

Effektive Methoden, den Ausdruck zu begünstigen, sind alle modellhaften. Ob LEGO oder eine sonstige Knetmasse, ob semiformale Visualisierungen oder Graphen mit Kanten und Knoten. Modelle abstrahieren, vereinfachen und vor allem repräsentieren sie. Man kann ein Modell reformen, zerstören, bewusst überwinden. Und man arbeitet mit Hand und Kopf. 

Es ist stets das Modell, das man betrachtet – und nicht das eigene Selbst. Man kann sich auch distanzieren. Man ist die dritte Person singular. Dadurch kann man ehrlicher, direkter und unmittelbarer interagieren. Man ist authentischer; Selbstbetrug ist minimiert. Und wenn das Modell nicht mehr passt, kann man es entsorgen, ohne die Persönlichkeit zu verletzen.

Doch auch mit geeigneten Ausdruckstechniken gleicht die Selbstauseinandersetzung einer Hydra. Sobald man aus einer Gedankenspirale entwunden ist, folgt die nächste, die einen erstarrt. Die befreienden Erkenntnisse rücken zeitversetzt nach. Was heute absurd ist, ist in einem Jahr plausibel. Kann man diesen Prozess aushalten? Fraglich.

Die Selbstauseinandersetzung in letzter Konsequenz ist grausam, schonungslos. Wir sind perfekt ausgebildet, selber uns zu belügen. Die kleine Notlüge sei ganz harmlos, wollen wir meinen. Schliesslich brüskieren wir damit ja auch keine Mitmenschen – bloss uns selber. Das ist doch hinnehmbar? 

Mag sein, dass eine einzige Notlüge unsere Psyche beruhigen kann. Vielmehr ist es die Summe der Notlügen, die besorgen muss und die Selbstauseinandersetzung insgesamt verunmöglicht. Wer einmal sich selber belügt, kann es mit 50%iger Wahrscheinlichkeit auch ein zweites Mal. Und dadurch verlieren wir uns im Kreislauf des Selbstbetruges.

Hier irgendwann zu bremsen, das grosse Muster zu brechen, kann einen erschüttern und den gesamten Lebenssinn rauben. Man muss eingestehen, was man verfehlte. Man muss seine komplette Biografie neu klären. Ein grausamer, mühseliger Prozess. Es ist durchaus menschlich, die Selbstauseinandersetzung konsequent zu scheuen. 

Ich will meine Leserschaft dennoch zur Selbstauseinandersetzung motivieren. Gemeinsam schreiten wir durchs Tal der Tränen und schöpfen Erkenntnis. Die Selbstauseinandersetzung als Prozess verspricht durchaus Zuversicht und Kraft, weil man stets sich nähert. Mögen Rückschläge uns verwirren, doch letztlich ist jede Selbsterkenntnis wertvoll und stiftet Sinn.

Warum bin ich so zuversichtlich?

Ich besitze tatsächlich eine Zuversicht. Ich bin zuversichtlich der Welt gegenüber, dass die Menschheit dereinst vereint sei und nach anderen Werten statt Geld strebe, dass Kriege und Umweltverschmutzungen überwunden seien. Ich zweifle bloss, ob ich diese grosse Transformation einigermassen geistig bewusst miterleben kann.

Vom Mitgestalten habe ich mich längst losgesagt. Ich bin zuversichtlich mir selber gegenüber, dass ich mich immer wieder anpassen kann, dass ich mein Verhalten den mir zugetragenen Verhältnissen variieren kann. Ich bin nicht bloss ein Verpackungs- und Verdrängungskünstler, ich bin auch ein Verwandlungskünstler und Prototyp.

Die Verhältnisse kann ich nicht immer bestimmen. Ich wähle zwar meine Freunde, meinen Filter, ich reduziere oder vergrössere meine Wahrnehmung – doch ich kann nicht alles filtern und selektieren. Manche Ereignisse sind verkettet, manche erfüllen sich selbst. Ich bin zuweilen ohnmächtig und ausgeliefert. 

Allerdings kann ich selber die Ereignisse lesen und einordnen. Ich könnte alles dem strafenden Gott überantworten. Gott müsse mich bestrafen, weil ich unartig, unangepasst oder sonstwie unbequem und verantwortungslos war – was ich auch war und bisweilen bin gewiss. Oder ich kann alle Ereignisse als Bereicherung meiner Persönlichkeit verstehen.

Alle Ereignisse erhöhen die Komplexität meiner Persönlichkeit. Weil ich stets wieder Muster brechen muss, obwohl ich nicht kann, manchmal nicht will. Weil ich stets mich anpassen und umschulen muss. Ich bin zwar oftmals reaktiv, ich lerne bloss durch die Retrospektive statt Prospektive. Aber ich sammle durch jedes Ereignis neue Erkenntnisse. 

Technisch könnte ich mich zurücklehnen und beobachten, was mir passiert. Ich muss nichts fürchten. Ich habe etliches überlebt. Ich werde auch weitere Ereignisse verkraften. Weil ich mich anpasse. Ich schätze das Leben als stetige Transformation. Meine Haltung und mein Verhalten entwickeln sich. Ich bin noch nicht fertig gebaut – ich bin überhaupt nicht fertig.

Ich bin unvollkommen. Erst der Tod beendet und vervollkommnet mich. Bis dahin bin ich lernend. Ich lerne, neuartige Ereignisse auf mein Leben, auf meine Haltung und auf mein Verhalten zu übertragen. Ich lerne, deren Einfluss zu kanalisieren und damit meine Entwicklung gewissermassen zu steuern.

Ich bin daher so zuversichtlich und beinahe unverwüstlich. Aber auch ich habe meine Momente, wo ich zweifle, grüble und meine Gedanken kreisen. Dann fühle ich mich für einige Minuten, Stunden ohnmächtig und ausgeliefert, schutzlos und verloren. Es ist nicht einfach. Es ist nie einfach.

Im Gegenteil, ich glaube, die Selbstauseinandersetzung wird mit dem Alter mühsamer, anstrengender, weil die Persönlichkeit weitaus komplexer ist als z.B. in der Adoleszenz. Ein Jüngling zu transformieren, ist rasch erledigt. Die meisten Jugendlichen wechseln Weltanschauungen wie Sexualpartner. Heute Hip-Hop, morgen Metal.

In meinem Alter ist die Transformation schleichend, kontinuierlich und kann selten an einem einzelnen Ereignissen sich akzentuieren. Vielmehr ist es die Summe der Ereignisse, welche die Summe der Persönlichkeit gestaltet. Diesen Prozess der Transformation zu bejahen, spendet Zuversicht und entspannt schliesslich. Ich bin beruhigt.

Die Zweckbeziehung

Eine Zweckbeziehung ist nicht zu unterschätzen. Die Gefühle wechseln nicht, weil keine da sind. Stattdessen hat man sich auf einen Zweck verständigt. Der Zweck können gemeinsame Kinder, einen gemeinsamen Haushalt und/oder das gemeinsam Vereinsamen sein. Weitere Zwecke können vereinbart werden. Diese Beziehung ist nicht komplex.

Stattdessen ist sie routiniert und vereinfacht. Die Tage sind strukturiert. Niemand wird überrascht. Eventuell verreist man und spielt ausnahmsweise das Paar. Ansonsten garantiert die Zweckbeziehung Kontinuität und Stabilität, Einfachheit und Beherrschbarkeit. Die Zweckbeziehung bedingt bloss einen gemeinsamen Zweck, den man aushandeln muss.

Plötzlich ist das Zeitempfinden relativiert. Die Jahre vergehen. Eine zweckmässige Heirat krönt die Beziehung. Gleichzeitig gesundet der Körper, beruhigt sich die Seele; die Rastlosigkeit endet, man muss nicht mehr suchen und streben. Stattdessen ist man “angekommen” und häuslich geworden, spart fürs Eigenheim und für weitere Reisen. 

Die Zweckbeziehung entschlackt das Leben. Die Zweckbeziehung ordnet. Die Zweckbeziehung reduziert stets auf den Zweck. Man erinnert sich, warum man zusammengezogen ist. Man ermahnt sich in “Ausnahmesituationen” gegenseitig, dass man den Zweck nicht vernachlässigen dürfe. Man heiligt sich. 

Die Zweckbeziehung entzaubert. Sie schafft stattdessen psychische Stabilität, die wiederum in körperlicher und finanzieller Gesundheit resultiert. Die Zweckbeziehung ist der wahre Kitt der Gesellschaft. Ohne Zweckbeziehungen wären die Menschen längst wahnsinnig geworden. Hurra den Zweckbeziehungen.

Der Corana-Wahnsinn

Der aktuelle Virus befriedigt nicht bloss den latenten Selbstzerstörungstrieb der Menschen, der wegen Spannungen in der Anpassung mit der Kultur sich bildet. Der aktuelle Virus bedroht auch den ohnehin fragilen Lebenssinn der Menschen. Der aktuelle Virus schafft Transparenz, wo wir keine wahrhaben können.

Vor dem Virus waren die zwischenmenschlichen Beziehungen bereits angeschlagen, die Lohnabhängigkeit bereits mühsam, die Sinnlosigkeit der eigenen Existenz bereits durchschimmernd. Die massenhafte Verbannung der Menschen in ihre eigenen vier Wänden vernichtet jedweden Eskapismus. Die Kulturindustrie, sonst treuer Lieferant, ist kollabiert. 

Die Berufsjugendlichen können nun nicht mehr feiern und koksen, die ausweglosen zwischenmenschlichen Beziehungen sich nicht mehr auflockern. Die vermeintlich frei machende Arbeit zerstreut nicht mehr. Stattdessen sind nun alle im Homeoffice und rätseln, was sie überhaupt tun angesichts beispielsweise der gleichzeitig desolaten Zuständen in den Kliniken.

Manche Familien werden zerbrechen. Kinder, Frau, Mann – allesamt beisammen, gezwungenermassen, weil ansonsten brav abgetrennt, fragmentiert und jeder in seiner Welt geschützt. Nun muss man sich verständigen, ausdrücken herrje. Unweigerlich ist man den sogenannten Psycho Dad aus einer Schrecklichen Netten Familie erinnert. Man lese:

Who’s that riding in the sun?

Who’s the man with the itchy gun?

Well, who’s the man who kills for fun?

Psycho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad!

A little touched or so we’re told.

Killed his wife ’cause she had a cold.

Might as well, she was gettin’ old.

Psy-cho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad!

He’s quick with a gun, and his job ain’t done.

Killed his wife by twenty-one

Shot her ’cause she weighed a ton

Psy-cho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad!

Who’s the tall, dark stranger there.

The one with the gun and the icy stare.

Holding the scalp of his ex-wife’s hair.

Psy-cho Dad, Psycho Dad, Psycho Dad

Häusliche Gewalt wird in den nächsten Wochen zunehmen. Das auslösende Ereignis, der sogenannte “Trigger” ist dabei unerheblich. Ist es die persönliche Sinnlosigkeit? Ist es die fehlende Realitätsflucht, die derzeit technisch kaum noch praktiziert werden kann? Ist es es der Mangel an gesunder sozialer Distanz? Ist es auch bloss die Hyperrealität des kollektiven Virus-Wahns? Was auch immer einen kleinen Amoklauf auslösen mag, ist irrelevant – viel wichtiger ist, dass es passieren wird. 

Doch nicht alle Verzweiflung muss in einem mörderischen oder sozialen Amoklauf vollendet werden. Der Amoklauf ist bloss eine Variante, die Überforderung mit der Welt primitiv, aber effektiv zu verdeutlichen. Die wahrscheinlichste Form des Ausdrucks ist die Selbsteinweisung. Die psychiatrischen Kliniken, ohnehin bereits herausgefordert, werden in den nächsten Wochen gestürmt. Wir sind alle eingesperrt, wir dürfen uns kaum noch bewegen, wir sind klassisch auf uns selber zurückgeworfen worden. Und dort ist ja bekanntlich nicht viel bis nichts. 

Das ist untröstlich. Denn die Isolation führt zur Selbstreflexion, wozu wir aber nicht fähig sind, weil wir alle Evidenzen der Sinnlosigkeit unseres absurden Daseins bislang erfolgreich verdrängen konnten – beispielsweise mithilfe der Kulturindustrie oder ablenkender Lohnabhängigkeit im Grossraumbüro, wo ebenso absurde Sorgen unsere eigenen Bedenken überdeckten. Und jetzt wird es daher endlich kritisch.

Noch berichten die Medien nicht über die kollektive Psychose, die uns bereits infiziert hat. Das einzige wirklich ansteckende dieses Virus ist der Wahn desselben. Und diese Pandemie überbordert bereits jetzt. Sie ist weitaus gefährlicher, weil sie existenziell und philosophisch ist. Sie kann nicht mit Atemmasken, Desinfektionsmittel oder sonstigem Gerät gelindert werden. Unsere normalen Hausmittelchen versagen. Wir sind ohnmächtig und hilflos.

Es genügt nicht, dass der unsichtbare Virus unsere Gesundheit ernsthaft angreift. Das wäre irgendwie zu bewältigen. Der Virus ruiniert vielmehr unsere simulierte Selbstsicherheit, unsere gespielte Identität, unseren sinnlosen Sinn und zerstört unsere bereits zerbrechlichen Gemeinschaften. Das ist weitaus dramatischer. Ob die Menschen nach zwei Wochen Inhaftierung in ihren eigenen vier Wänden sich weiterhin anpassen und unterordnen werden, ist fraglich.

In den nächsten Wochen werden Tumulte uns überraschen und empören. Denn die Ersten werden Widerstand leisten. Weil wir sind nicht so geübt in Autokratie. Wir sind eine verdorbene Gesellschaft von Hedonisten. Wir wollen bloss vergessen, feiern und manchmal so tun als ob uns die Umwelt wie Umfeld interessiere. Momentan sind die Städte noch gesittet. Doch wie lange?

Denn bald folgt die existenzielle und philosophische Krise, verursacht durch die soziale Isolation. Und sobald der Mensch sich sinnlos empfindet, ist er zu allem fähig. Die Shoa wäre ohne das lebensphilosophische Vakuum der Zwischenkriegszeit undenkbar gewesen. Und die Plünderungen und Ausschweifungen in der Grossstadt infolge des Viruses ebenfalls nicht ohne die Isolation und anerkannte Sinnlosigkeit der eigenen Existenz.

Ich will nichts beschönigen. Momentan sitzen die Privilegierten in ihren Homeoffices, skypen sich Mut und Zuversicht zu, tüfteln nach Methoden, wie man Remote Sessions optimieren könnte. Die Stimmung ist geradezu beschwingt. Man prostet remote, man klatscht und singt vom Balkon. Niedlich und herzlichst.

Doch bald werden die Ersten zusammenbrechen. Denn sobald das psychologischen Rabattmarkenheftchen gefüllt ist – und man normalerweise im Supermarkt die nächste überflüssige und qualitativ minderwertige Pfanne abholen könnte – dann werden die Menschen “durchdrehen”, und zwar schön individualisiert und jeder in seiner Passion. Familien erschiessen? Möglich. Züge sprengen? Möglich. Supermärkte plündern? Möglich. Parks verwüsten? Möglich. Alles ist möglich, weil wir ja so einzigartig sind.

Daher rate ich meiner geschätzten Leserschaft, das Spektakel weiterhin zu geniessen. Die nächsten Wochen werden dramatischer. Achtet nicht bloss auf die Opfer der Virus-Erkrankung. Sondern späht nach den Nebenerscheinungen. Die Auslastung der psychiatrischen Kliniken indiziert die allgemeine psychische Verfassung einer Gesellschaft. Und jene unserer Gesellschaft wird bald abnehmen. Versprochen!

Endlich der Virus

Endlich der Virus. Er entfacht den Selbstzerstörungstrieb. Nicht verwunderlich, dass der Virus wegen guten Quoten fortgeführt wird. Wir alle sehnen uns nach einer Kraft, die unsichtbar ist, alles beeinflusst und jeden treffen kann. Seit mehr als zweitausend Jahren war es der monotheistische Gott, der überall und alles ist. 

Vor mehr als zweihundert Jahren war es die unsichtbare Hand, welche die Märkte dieser Welt geschickt bespielte. Die Märkte wie Gott sind längst angezweifelt. Keine Identität ist mehr gesichert. Alle Lebenskonzept sind fraglich und herausgefordert. Der Sinn und Zweck der Existenzen sind ausgehöhlt und bloss noch funktionale Fassaden. 

Nun also der Virus. Die Grenzen werden erwartungsgemäss geschlossen. Was die Flüchtlingskrise bereits angedeutet hat, nämlich wie fragil die offenen Gesellschaften Europas sind, wie sensibel die Zivilität auch hierzulande ist, verwirklicht der Virus nun vollends. Die Nationalstaaten sorgen sich wieder um die Eigenen. Europa ist endgültig tot.

In Berlin – und wo sonst? – haben die Berufsjugendlichen das letzte Mal den Eskapismus gewagt. Empörend und verantwortungslos, monieren die Berufsmoralisten. Die Menschen ergattern das letzte Toilettenpapier. Die Regale der Supermärkte leerten sich samstags erschreckend. Man rüstet sich, man verbunkert sich. Man wartet auf den Untergang.

Alle Menschen lieben und hassen das Leben gleichzeitig. Das Gefühl der Überforderung und Unterforderung ist gleichzeitig. Wir haben alle ein ambivalentes Verhältnis zum Leben. Manchmal sind wir manisch, manchmal depressiv. Wir sind alle unausgeglichen. Manche unausgeglichener, manche ausgeglichener. Doch letztlich ist die Identität zerbrechlich.

Ein Virus stimuliert unseren Selbstzerstörungstrieb, unsere latente Todessehnsucht. Todessehnsucht, Angst, Unbehagen verkaufen sich bestens. Die Medien und Politik befeuern das Unbehagen mit der Welt. Sie können Bedürfnis anerkennen und mit Lösungen antworten. Das beruhigt, beruhigt Medien und Politik gleichermassen wie die Bevölkerung.

Ich geniesse derweil das Spektakel. In Europa beginnt bald der Frühling. Die Liebe sucht sich ihren Weg. Eros ist ebenso machtvoll wie der Todestrieb. Bald werden die ersten trotzen und sich wieder küssen. Bald werden wieder frische Paare spriessen – so wie das Grün unserer gezähmten Pärken. Bald ist der Tod vergessen.

Wer und was ist hier wahnsinnig?

Die Stuben der Psychiatrien und Psychologen, Lebensberater und Coaches sind gefüllt. Die Betten der psychiatrischen Einrichtungen sind überbelegt. Eine Identitätskrise ist in jedem Lebensabschnitt zu erwarten. Das Normale ist das Wahnsinnige. Das Normale ist wahnsinnig dergestalt, dass das Wahnsinnige normal ist. Hypernormalität. 

Die Menschen zerbrechen. Auslösende Ereignisse mögen variieren. Einige anerkennen, handeln und lassen sich therapieren. Andere verdrängen, schikanieren und versuchen mit Ersatzhandlungen zu funktionieren. Die Bewältigungsstrategien sind naturgemäss unterschiedlich. Erziehung, Kultur, Kontext, Umfeld beeinflussen wesentlich deren Auswahl.

Draussen in der Normalität wuchert der Wahnsinn. Das Stimmungsbild der Gesellschaft ist düster. Zwischenmenschliche Beziehungen verschwenden etliche psychische Energien auf Banalitäten. Die Gesellschaft als Gesamte toleriert Widersprüche. Die Gesellschaft honoriert zweifelhaftes Verhalten, aber verwahrt vermeintlich Unangepasste und Unnachgiebige 

Junge wie Alte berauschen sich, müssen spülen, damit sie im Alltag fristen können. Der Dschungel der Grossstadt züchtet neurotische Menschen. Die Kampfzonen sind maximiert. Alle Lebensbereiche sind im Wettbewerb und im Dauervergleich. Das fragile Selbst versucht sich zu verorten und zu stabilisieren. Es schwankt und irrt.

Der grösste Wahnsinn ist die Normalität. Das normale Leben ist absurd. Die Last des Universums, der Weltschmerz, die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung der Natur, die Sinnlosigkeit der Lohnabhängigkeit, die Bedeutungslosigkeit der eigenen Existenz im kosmologischen Kontext – das alles haben wir zu schultern. 

Zudem beobachten wir die Überforderung und Ohnmacht unserer geliebten Mitmenschen, innerhalb dieser Welt sich zu arrangieren. Manche verlieren wir dem Alkohol, andere im alles durchdringenden Selbstzweifel, andere in den Kompensationshandlungen. Andere in unglücklich gewählten spezialisierten Einrichtungen. Nirgends und niemand ist sicher.

Es sind alle betroffen und trifft irgendwann jeden. Niemand ist sicher. Man kann anfänglich Widerstand leisten. Doch wir alle brechen. Wir sind schutzlos ausgeliefert. Das Ich im freudschen Sinne war nie “Herr im Haus”. Nietzsche nahm uns Gott, Freud die Überzeugung, dass wir unsere Psyche beherrschen könnten. Niemand kann’s. 

Wir sind alle verloren. Manche wissen es bloss noch nicht. Ein winziges Ereignis kann uns übermannen.

Ein zeitgenössisches Stimmungsbild

Die Tage sind kurz. Das Wetter wechselhaft. Mal kühl-kalt, mal frühlingshaft warm. Immer wieder klagend über den sogenannten Klimawandel. Ob von Menschen verursacht oder ob von grossen Zyklen, die wir noch nicht verstehen. Gleichzeitig bedroht ein neuartiger Virus die Gesundheit der Weltbevölkerung.

Selbst das Super-China, das vom Wetter bis zu den Gedanken der Untertanen alles beherrscht, kann den Virus nicht eindämmen. Ganze Regionen sind isoliert. Das Militär wacht, dass niemand aus den Lagern bricht. Hierzulande kalkulieren Wirtschaftsvertreter den globalen sowie lokalen Rückgang der BSP. 

Das Fernsehen wirbt mit offenem Eskapismus. Für fünfundzwanzig Franken kann man neuerdings dem Alltag entfliehen, noch frische Pfade eines unterentwickelten Landes treten, dort als Tourist überlegen sich wähnen. Daneben regieren narzisstische Politiker die grossen westlichen Demokratien.

Trump wie Johnson, alleine optisch ähnelnd, überschütten die Vergessenen und Abgehängten mit Anerkennung und Respekt, derweil sie ihre Demokratien unterminieren. Die grösste Idee der Weltbevölkerung, die Europäische Union, erstarrt derzeit einem inneren Flügelstreit. Problem: Das Budget der kommenden Legislatur. 

Die Schweiz empört sich kurzweilig über die Krypto-Affäre. Wer wusste was? Wie neutral war die Schweiz wirklich? Obwohl allen offenkundig ist, dass die Westintegration spätestens 1945 abgeschlossen war. Man bemüht weiterhin Mythen und spielt mit Identitäten. In den Clubs der Grossstädten derweil konsumieren die Jugend und Berufsjugendlichen Aufmunterndes.

Gleichzeitig füllen sich die Anstalten mit überforderten, entfremdeten und geschädigten Menschen. Niemand kann versichern, wer normal und wer wahnsinnig sei. Ungeschickte Ärzte urteilen spontan über Biografien, die sie nicht im geringsten erfassen können. Ist Trump wahnsinnig? Oder bin ich wahnsinnig? Bin ich krank, sobald ich nicht funktioniere?

Zwischendurch wütet die Fasnacht. Die Menschen betrinken sich vor vier. Alternde Menschen begieren einen erneuten Frühling. Andere koksen. Die Fasnacht sei bloss einmal im Jahr . Man verzeiht einander, man erduldet den grossen Rausch, man anerkennt das Bedürfnis, einmal spülen zu dürfen.

Ich will nicht funktionieren

Ich hasse das Wort “Funktionieren”. Ich will nicht funktionieren. Ich bin zwar durchaus Spezialist, Prototyp, mich anzupassen und so. Aber ich will eigentlich nicht. Meine ganze Biografie liest sich permanenter Ablehnung des Funktionierens. Ich habe mir stets Räume geschaffen, wo ich nicht funktionieren musste, weil dort ausreichend Alkohol floss. Als Ausgleich fürs stete Funktionieren.

Ohnmächtig gelebt, darüber habe ich vor Jahren mal erzählt. Wer funktioniert, lebt ohnmächtig, überantwortet das Leben der Funktion. Man ist nunmehr eine Funktion, eine Rolle, die man zwar einigermassen selber basteln kann, dennoch eine Rolle und dadurch Fassade und Hülle bleibt, von der Individualität einen weiter entfremdet.

Wenn ich arbeite, funktioniere ich, obwohl ich durch meine Arbeit das allgemeine Funktionieren der Arbeitswelt aufheben möchte. Ein naheliegender Mitbewerber hat mir mal attestiert, ich hätte zu viele Kompromisse getätigt, mich zu sehr angepasst und mich von meinem Herzen entfernt. Ich konnte ihm nicht widersprechen oder nichts relativieren. 

Gewiss muss ich funktionieren, damit ich in der Leistungsgesellschaft überleben kann. Das Hofnarr-Konzept tröstet mich zuweilen, weil ich aussprechen darf, was niemand sich traut. Die Arbeit konsumiert derzeit die meiste Lebenszeit. Sie kann erfüllen. Doch auch andere Herausforderungen des Lebens können beseelen. Und diese Seele kann man nicht funktionierend erstreben.

Wenn ich nach Anleitung LEGO baue, dann funktioniere ich. Ich studiere, versuche den Bau zu optimieren. Das neue Yoga für alle Gestresste, LEGO, funktioniere ich um in eine blosse Funktion. Zuweilen esse ich auch funktional. Ich träumte früher von einer rein funktionalen Ernährung. Es gibt sogar einen Wikipedia-Artikel über Functional Food, ich bin weiterhin süchtig nach künstlichen Vitaminen und so.

Es ist nicht okay, dass ich bei der Arbeit funktioniere. Es ist ebensowenig okay, dass ich auch jenseits der Arbeitszeit funktioniere. Das allgemeine Steigerungsspiel soll mich nicht stets verfolgen. Weil Funktionieren bedeutet letztlich Optimieren und Anpassen und Zurückziehen. 

Eine erste Methode, das Funktionieren aufzubrechen, ist das LEGO-Spielen ohne Anleitung. Es gibt keinen Sinn, die Bauschritte zu parallelisieren oder zu optimieren. Schneller bauen zu können ist sinnlos. Vielmehr ist die Auseinandersetzung, das Fühlen und Tasten der Steine, das unkoordinierte und unkontrollierte Spielen Sinn und Ziel. Etwas zu schaffen, ohne zu wissen, was. Es ist eine bewährte Methode, mit den Händen, damit mit dem Körper anstatt mit dem Kopf zu denken. 

Darin kann und muss man nicht funktionieren. Auch die menschliche Sexualität muss nicht funktional sein. Sie ist es, sobald man sie funktional erledigt. Wie ein Job, eine Pendenz, ein Issue aus dem Backlog zieht. Man hat dann genügend Gründe, Sex zu haben, Sex zu rationalisieren, und zwar alles funktionale. Um etwas zu vergessen, verdrängen, um sich selber zu bestätigen, belügen oder was auch immer. 

Auch Beziehungen können funktional bewältigt werden. Es ist dann aber ein Bewältigen. Die Alternative ist die nicht-funktionale Beziehung. Eine nicht-funktionale Beziehung ist ehrlich, augenblicklich und nicht wiederholend. Sie ist empathisch und nicht strategisch. Strategisch ist der Schachspieler, der Narzisst, der sich ins Gegenüber hineindenken versucht, um mögliche Schritte zu antizipieren. Das ist nicht emphatisch. Eine empathische Beziehung ist, miteinander zu reflektieren, wachsen, gedeihen, aneinander reiben. Derweil mit grösstem Verständnis und Zufriedenheit.

Ich hasse funktionale Beziehungen. So wie auch funktionale Arbeit hasse. Ich will nicht bloss tätig sein, damit ich nicht Blöderes anstelle. Ich will nicht einfach funktionieren, damit ich funktioniere und mich funktional bestätigt fühlen kann. Ich will lebendig sein, agieren, interagieren und mich befruchten lassen. In meiner Arbeit bin ich zu oft strategisch statt empathisch. Ich bin zu funktional statt menschlich. 

Ich bin trainiert und ausgebildet worden als funktionaler Arbeiter. Ich kann für einige Monate gut funktional sein. Doch ohne Alkohol oder sonstige Substitutionen könnte ich maximal eine Woche funktionieren. Ich habe mich jahrelang belügt, ich könnte funktionieren. Ich konnte bloss funktionieren, weil ich mich alternativ berauschte. Ich bin daher ziemlich mies im Funktionieren. Ich könnte keinen Tag funktionieren.

Ich werde deswegen nicht meinen Job kündigen und so, eine neue berufliche Anstellung wünschen und so weiter. Ein neuer Job löst das Grundproblem nicht. Ein neuer Job schafft bloss einen neuen Rausch, der mir Funktionalität simuliert, weil er mich frisch stimuliert. Deswegen bin ich auch Unternehmensberater geworden, damit ich niemals lange an einem einzigen Ort weilen muss und so stets mit frischer Stimulanz mich versorgt weiss. Nett.

Derweil ich im grossen Funktionszusammenhang gefangen bin. Ohne dass ich es bemerkt habe. Sehr tragisch. Bald ist ja wieder ein Montag, ich werde pünktlich meine Reise antreten, zum fernen Kunden pendeln. Ich werde dort alle Menschen begrüssen. Ich werde mich als erstes mal sehr verletzlich zeigen. Bloss dass die Mitmenschen wissen, dass ich auch menschlich bin. Weiterhin menschlich bleibe. Man muss sich nicht fürchten, weil ich kann nichts besser, ich bin auch nicht besser, bloss weil ich besser funktional scheine. 

Ich glaube, mit mehr Menschlichkeit kann ich insbesondere in den Unternehmen mehr Menschlichkeit schaffen. Einfach mit Vorleben, Vormachen, Vorführen. Und nicht mit strategischen oder gezielten Absichten. Einfach natürlich. Ohne Hintergedanken oder geheimer Agenden. Dadurch funktioniere ich auch weniger, muss weniger funktionieren, und bin weniger im Widerspruch zwischen meiner Arbeit, meiner Identität und meinem Sinn.

Ich will nicht funktionieren.

Die lokale Wirtschaftsprominenz

Offenbar zähle ich zur lokalen Wirtschaftsprominenz. Was mich auszeichnet, ist mein formaler Titel im Handelsregister des fernen Kantons. Ich bin zufälligerweise dort aufgewachsen. Dorthin verpflanzt worden, wo alle entfliehen wollen. Ich besuchte jüngst einen Event, das Treffen der Unternehmer und Politik und Bildung.

Der noch fernere Regierungsrat des Kantons, der lokale Stadtpräsident, einige Vorsteher einiger thematisch irgendwie verwandten Departemente. Die Vertreter der grossen Bildungsstätten; der Kantonsschule und der regionalen Hochschule. Ferner die lokalen Unternehmerfamilien; Vater, Sohn und manchmal auch Frau. Sie waren alle versammelt.

Der Patron einer ansässigen Unternehmerfamilie ist diesjährig laudiert worden. Die Rede stotterte der Anwalt des Platzes. Den Details der Erörterungen zufolge sind sie einander vertraut. Der gewürdigte Patron fühlte sich allerdings unbehaglich. Als einziger Referent verzichtete er auf die explizite Anrede der staatlichen Würdenträgern.

Überhaupt erinnerte der Anwalt stets, dass der Patron aus “einfachen Verhältnissen” stamme und keine “schöne Kindheit” erdulden musste. Ein Unternehmer, der etwas dagegen unternimmt. Der Patron musste nachdoppeln, er sei weder intellektuell, studiert noch sonstwie beflissen. Er schloss mit dem Appell, man solle wieder mit der Nase riechen, was ist.

Sehr verwirrend. Ich glaube, ich habe ihn verstanden. Er wollte Menschlichkeit predigen dort, wo man sich im erschwinglichen Hugo Kaschmirmantel hüllt. Vermutlich ist diese Botschaft nicht angekommen. Überhaupt war der Event ungünstig getaktet. Das gesamte Programm staut sich vorm Mittagessen.

Um 13:00 erst erlöste der übliche Dank an die Sponsoren die Teilnehmenden und meinen Magen. Nun folgte das Netzwerken. Ich war mit einer Person vernetzt. Diese Person ist ein Abgesandter eines weltfremden und scheuen Patrons, der seine Millionen zum Wohle der Menschheit investiert.

Er finanziert Übungen zur Gewaltfreien Kommunikation an Spielplätzen, fördert Kinderkrippen und Projekte gegen Missbrauchsopfer. Ein eifriger Philanthrop. Ich durfte ihn in einem anderen Kontext kennenlernen; ein gebildeter, sensibler und aufgeklärter Mensch. Doch sein heutiger Abgesandter fühlte sich nicht wohl und verliess den Event rasch. 

Ich selber kannte einige Exponenten vom Sehen her. Der lokale Versicherungsmakler hat den Event als Sponsor unterstützt. Damit erschlich der Blender sich Zugang zum Portfolio stumpfer, hemdsärmeliger und ländlicher Unternehmerfamilien, die er überversichern kann. 

Hoffotograf war ein lokaler Künstler, der seinen Alkoholismus mit verlegenen Auftragsarbeiten zu überbrücken und zu vollenden versucht. Er fokussierte dabei die zwei einzigen jüngeren Frauen des Events. Das waren die abtretende und antretende Sekretärinnen des lokalen Wirtschaftsförderers, des Gastgebers des Anlasses.

Die beiden Frauen waren ihrer Position angemessen gekleidet. Die Herren standardisiert; dunkler Anzug, weisses Hemd, Mantel. Die einzigen jüngeren Herren haben einen studentischen Think Tank vertreten. Sie waren überangepasst. Die Haaren doppelt akkurat gekämmt, der Anzug vermutlich einmal getragen, die Schuhe frisch. 

Sie suchten Investoren und “Challenges” für ihren Think Tank, der sich mit AI, Big Data, Digitalisierung und so weiter auseinandersetzt. Sie haben sich wohl in der Zielgruppe geirrt. Ich glaube, der lokale Bauunternehmer fühlt sich höchstens durch den kommenden Jahresabschluss herausgefordert. 

Dazwischen tummle ich mich. Ich lausche den Gesprächen. Ein erwähnenswertes Thema war die grüne Welle. Er sei schon immer pro Natur gewesen, so ein stämmiger Unternehmer, doch nun müssen die Grünen liefern statt bloss zu lafern. Zustimmendes Nicken. Ich verschlinge grob geschnittenen Salami.

Fasziniert hat mich der Sohn des grössten lokalen Unternehmens. Der Sohn, ganz Sohn mit Werbeartikeln des Familienunternehmens gekleidet, mutete mir sehr labil an. Das Gesicht angeschwollen, fettende Haut, in der Statur deutlich schmächtiger als der anerkannte und respektierte Vater. Stets grinsend und Hände nervös schüttelnd.

Ein wenig Koks und Nutten – der arme Sohn wäre zerbrochen. Vermutlich ist er der Sünden der Nacht bereits einmal erlegen, hatte dadurch Vaters Gunst verloren, aber sie mittlerweile zurückerobert und mit der Vergangenheit kompensatorisch sich versöhnt. Heute ist er Delegierter des Verwaltungsrat, Geschäftsführer und Präsident einer Stiftung. Check.

Später habe ich den Event verlassen. Was habe ich gelernt? Was hat mich berührt? Werde ich wiederkommen? Das Impulsreferat hat mich fasziniert. Der Professor für Teilchenphysik und Astrophysik der ETHZ berichtete über die neusten Erkenntnisse, währenddessen mein Sitznachbar, schüchterner und unsicherer Assistent eines Chefs, jungen Frauen auf Instagram nachgeiferte. 

Die Laudatio über den Patron wie die Dankesrede des Patrons haben mich aufgewühlt. Ich musste weinen. Das hat mich emotional betroffen. Deswegen werde ich auch wiederkommen. Weil ich eine neue Art Unternehmen repräsentiere, eine Art soziales Experiment. Ich fühle mich als überlegener Jungtürken. Und getrunken habe ich auch gut.

Der dankende Steppenwolf

Mit 14 habe ich den Steppenwolf gelesen. Irgendwie heimlich. Das war nicht gerade passend für meinen damaligen Lebensabschnitt. Ich war damals der Computerwelt ergeben. Ich züchtete IRC-Netzwerke, ich kannte alle Ports und deren Dienste auswendig. Ich hatte mir einen kleinen Linux-Cluster eingerichtet, der allerdings minder performant war, weil das schwächste Glied die Stärke der Gemeinschaft definiert.

Nichtsdestotrotz hatte ich damals Zugang zum Steppenwolf. Noch bevor ich übermässig kiffte und mich regelmässig betrinken musste. Das war sehr erbaulich. Ein gealterter Mann, der nicht erwachsen werden wollte, ein Doppelgänger, so wie das Motiv dieses Blogs. Ich habe Hermann Hesse hier niemals zitiert und bemüht. Das ist eigenartig, doch hiermit korrigiert. 

Das hat mich damals nicht erweckt, aber geprägt. Den Steppenwolf habe ich später nochmals gelesen, als eine alternative Dame aus dem fernen Solothurn voller Lebensfreude mir das Buch erneut empfohlen hatte. Sie attestierte mir Ähnlichkeit. Ich war damals in meiner Berufsausbildung involviert. Ich trug zwei bis drei Arbeitsanzüge, zwei bis drei Partyanzüge in der Woche.

Ich war wohl ein spannender Gegensatz. Ein Widerspruch. Ein Doppelgänger. Ich wollte in beiden Welten heimisch sein. In der apollinischen wie dionysischen. Klassisch bipolar. Mein Grundmotiv war entstanden, mein Lebensgefühl war geweckt. Seit meiner Berufsausbildung seiltänzle ich. Gewissermasse balanciere ich heute noch, gleichwohl die apollinischen Verpflichtungen heute sich mehr durchsetzen konnten. 

Ich bin stark verpflichtet. Ich fühle mich einigen besonderen Menschen sehr verpflichtet. Die Verpflichtung ist aber keine bloss Pflichterfüllung. Sie beseelt und befriedet mich. Es ist eine andere Natur der Verpflichtung als beispielsweise die Verpflichtung meiner Firma gegenüber. Die Firma ist nicht mehr so bedeutend, obwohl das Steueramt die Firma sehr grosszügig bewertet und damit mich als “wohlhabend” definiert. 

Doch ebensogut könnte ich die Nächte irgendwo versauern, unheimlichen Gestalten begegnen und mein schwaches Geld vergeuden. Ich könnte ebensogut mein Leben ruinieren, durchdrehen, Grenzen überschreiten und mich selber zerstören. Ich könnte, aber ich habe mich gemässigt. Ich bin sozial bereichert und erfüllt worden dergestalt magisch, dass das Bedürfnis nach Selbstzerstörung nicht mehr mich dominiert. 

Ich möchte das nicht aufs Alter zurückführen. Der Steppenwolf als literarische Figur war wesentlich älter als ich. Das Alter ist irrelevant. Ich hatte bloss Glück im Unglück. Meine Biografie gleicht einer Tragödie. Doch die Tragödie ist gestoppt worden. Die kleinen Rückschläge meines Alltags behindern mich nicht. Diese grosse Ereigniskette hat meine wunderbare Tochter ausgelöst. Das hat alles geändert.

Ich werde stets bipolar bleiben. Ich kann mein Grundmotiv nicht leugnen. Aber ich kann mich anpassen, dass ich zum ersten Mal keinen Drang zur Selbstzerstörung spüre. Ich bin nicht einmal motiviert. Ich habe keine Sehnsucht. Das ist für mich eine neuartige Situation, die ich aber längst bereits akzeptiert und auch gewertschätzt habe. Ich möchte manchmal mich auch bloss bedanken. Einfach meinen Dank aussprechen. Danke.

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