Month Mai 2017

Zu viele Brüste

Das Geschlecht identifiziert uns. Fickend wissen wir wieder, wer wir sind. Der Fortpflanzungstrieb dominiert unser Leben. Sobald die Jahreszeit es erlaubt, flanieren und vergnügen wir uns erneut. Wir kultivieren unseren Geschlecht; wir präsentieren unsere Titten, Ärsche, unsere Bretter und Hoden.

Eine Industrie des Kultes begleitet uns. Sie stimuliert und inspiriert uns stets. Wir optimieren unseren Körper, wir steigern unsere Wettbewerbskraft. Wir vernetzen uns gezielt, wir knüpfen die richtigen Gesprächsfaden, wir wetteifern stets. Wir überbieten uns, wir überhöhen uns. Wir alle wollen bloss geliebt werden – und ficken.

Ich verweigere mich nicht. Ich spiele mit. Ich kann mich nicht immunisieren. Ich bin ebenso übers Geschlecht geprägt. Ich muss mein Glied in einen empfangenden Frauenmund schieben. In der Zwischenzeit beobachte ich den knapp verdeckten Busen, die joggenden Bald-Muttis, die schwangeren Vollfrauen, die bemüht Studierenden.

Ich möchte mich zuweilen auch kostümieren, mich inszenieren als angesagte, begehrenswerte oder erfolgreiche Persönlichkeit. Mich mit akzeptierten Hobbys schmücken, mit gut ausgestatteten Freunden zieren. Irgendwie etwas simulieren erneut, um damit meinen Durchschlag zu maximieren. Aber stattdessen verzichte ich.

Ich betrinke mich. Ich erwarte nichts. Ich will nichts. Ich will keine Brüste mehr sehen, ich will nicht mehr kämpfen müssen. Ich bin einfach ermüdet. Ich sehne mich nach Ruhe, Normalität einerseits, nach Unruhe, nach Wildheit und Exzess andererseits. Irgendwas dazwischen zerreisst mich. Was fehlt mir bloss?

Hoch hinaus, aber vergebens

Ich will alles verspielen, alles riskieren, gewinnen oder verlieren. Ich bin ein kleiner Spieler, unanständig, unbändig, ich möchte nicht verharren, ich möchte nicht warten und mich langweilen. Ich wünsche mir die Gefahr, die Auseinandersetzung; die Geschwindigkeit. Ich provoziere die Lust, ich vergesse alle Konsequenzen. Ich will leben ohne Folgen.

Ich missachte Geschlechtskrankheiten, ich verneine Schwangerschaften, ich leugne meinen Körper. Ich ruiniere meine Finanzen. Ich verprasse und verschnelle. Ich kann in diesem Zustand selig und endlos werden. Ich kann mich nicht anders mässigen als darin, mich stets wieder zu entfesseln. Ich will ausbrechen.

Doch letztlich züchtige ich mich selber. Ich bin längst erloschen, ich bin längst bürgerlich erwachsen. Mein Leben ist ziemlich routiniert und geregelt. Ich besiege keine Feinde, kämpfe keine Kriege, ich erobere keine Frauen. Ich kann mich höchstens täglich betrinken, meinen Umsatz marginal erhöhen.

Ja, mein Leben ist quasi erschöpft. Ich befremde mich in Illusionen, dass ich mich und das Leben ändern könnte, dass ich Welten entdecken, Geheimnisse lüften und so weiter könnte. Ich simuliere mir einen Zauber, wo alles entzaubert ist. Letztlich kann ich bloss fristen, bis ich die nächste Stufe der Gesetztheit erreiche.

Kein Stattdessen vertröstet und befriedigt mich. Ich lebe in einer grösseren Stadt, keine Weltstadt zwar, aber mindestens anständige Grossstadt gemäss schweizerischen Perspektive. Ich bewohne eine seriöse Altbauwohnung, ich teste das Abenteuer Vaterschaft, ich investiere in Beziehungen. Ich habe ein Unternehmen begründet.

Ich bin aber nicht der Meinungsträger, der Schriftsteller und Liebling der Massen geworden. Ich werde teils geliebt, teils gehasst. Ich bin umstritten; manche möchten mich töten, ausschlachten, andere ehren und schätzen mich eben so wie ich bin. Mein impact und reach sind unbedeutend im lokalen wie globalen Kontext. Tja.

 

Frühlingsschlaf

Ich möchte mich nicht wiederholen, ich möchte nicht wieder diese Sommerfrische beklagen, die kurzen Röckli bedauern, das Ableben als weltfremder Altherr beweinen, mangelnde Potenz attestieren, letzte Vitalität im Alkoholkonsum verorten. Nein, ich müsste nicht die Muster repetieren, ich möchte mich nicht selber langweilen.

Doch ich bin ziemlich herausgefordert. Ich pausiere an den bekannten Promenaden meines Wohnortes. Ich will mich konzentrieren, ich will arbeiten, mich weiterbilden. Doch ich werde abgelenkt. Das frühlingsfrische Leben belästigt mich. Die Menschen verabreden sich, sie wetteifern, sie stählern ihre Wettbewerbskraft.

Ich? Ich warte, ich müsste meine Sinne fokussieren. Doch die fruchtigen Brüsten, die wehenden Kleidli, die gesunde Gesichtsfarbe, die erwartungs- und verheissungsvollsten Augen müssen jeden Altherren aufs Neue traumatisieren. Wenn nebenan die Jugend wegzischt, das Leben auskostet, man selber aber verdurstet, dann darf man verzweifeln.

Ich möchte das nicht auf mich übersetzen, aber ich muss darüber berichten. Ich identifiziere mich mit den Kellerkindern meiner Art, die einsam, aber irgendwie verschworen der Welt trotzen und damit Widerstand leisten. Wo verstecken sich die Einsamen, die Hässlichen, die Ungefickten, die Gestressten? Wo sind sie bloss?

Vermutlich überfordert mich die Vielfalt der grossen Stadt. In Olten war alles einfach; kaum Konkurrenz, kaum Weiblichkeit, kaum Reize. Alle kannten alles. In Basel allerdings strotzt die Lebensfreude. Eine gewisse Internationalität verjüngt das Schweizertum; begüterte Südamerikanerinnen, die frontal flirten. Unvorstellbar in Oltens Nicht-Nacktbars.

Kein Hobby

Ich kann mich nicht entscheiden, wie ich mich weiterhin ausfüllen soll. Welche Hobbys soll ich anstreben? Bald erwarten mich väterliche Pflichten. Bald muss ich mich um mein Studium kümmern. Und irgendwann meinen Master abschliessen. Irgendwie. Und meine Firma verlangt Aufmerksamkeit. Ich kann also kaum Hobbys intensivieren.

Stattdessen vertrödle ich meine Zeit lustvoll. Ich möchte nicht mich beüben. Ich geniesse, wenn ich meine Zeit vergeuden kann. Ich liebe die Verschwendung, ich liebe die Verausgabung. Und das feiere ich privat, wo ich nur kann, wo ich es mir leisten kann, wo ich niemanden verletze oder verärgere.

Denn ich kann selber gebieten, wie ich meine rare, vergängliche, meine bald schwindende Freizeit investiere. Ich muss mich nicht einmal rechtfertigen. Ich habe mich entschieden. Ich kann in Parks weilen, die Mütter beobachten, ich kann in Olten ausgehen, meinen dortigen Status zelebrieren, ich kann meine Drohne ausreiten.

Ich bin privilegiert derzeit. Ich habe bloss die anfänglich genannten Pflichten. Ich muss glücklicherweise nicht um mein Überleben bangen. Ich bin relativ entspannt. Ich muss mich auch nirgends behaupten, ich muss niemanden mit exklusiven Hobbys beeindrucken. Ich muss meinen Selbstwert nicht mit Extremsportarten steigern.

Das beruhigt ungemein. Ich spare damit Geld und Zeit, die ich gerne anderweitig verschwende. Nämlich in maximaler Unproduktivität; in Abhängen, in Abkacken, in Alkohol, in Blödeln, in Palaver, in Sinnlosigkeit. Weil ich kann und möchte, weil ich damit mich regeneriere. Damit ich morgen wieder ernsthaft sein kann.

Damit ich morgen wieder den Widerspruch leben kann. Als Grenzgänger, als Zwischenwesen wandeln, sodass ich mich spüre, sodass ich mich vergewissere, dass ich lebe, auch wenn ich mich damit verletze und damit erneut Kredit verspiele. Doch tue ich es nicht, sterbe ich. Dann schlafwandle ich bloss noch.

Die ländliche Mutter

Irgendwie verehre ich die bodenständige, die vitale und energische Mutter, die aufm Land lebt, täglich kocht, die Kindchen füttert, das Heim umzäunt. Ja, irgendwie. Ich weiss nicht, ob meine Melancholie herausbricht. Ob ich damit mein Unbehagen mit der dekadenten, entfremdeten, auf Asphalt errichteten Zivilisation ausspreche.

Ein bäuerlicher Dialekt, ein hängender Busen, das ungekämmt-gezähmte Haar. Kaum geschminkt, eine zu tief sitzende Hose. Eine zweckmässige Kleidung, ein beruhigter, abgeklärter, weil geerdeter Blick; dunkle Augen. Das Haar leicht gewellt, bald angrauend. Die Latschen von Adidas. Oder so idealisiere ich die ländliche Frau.

Die Mutter ist roh, aber fürsorglich. Sie kann zupacken. Sie kann entscheiden, sie kann weinen, sie kann lachen. Sie lebt, weil sie mit den Jahreszeiten den bescheidenen Garten hegt. Sie ist nicht antiintellektuell, sie ist interessiert, doch ihre Möglichkeiten sind begrenzt. Sie befürwortet gewiss den (städtischen) Atomausstieg.

Sie ist nicht kalt, sie erwärmt jeden. Auch Fremde. Sie öffnet Türen, sie verurteilt und verachtet nicht. Sie würde niemals sich überhöhen. Im Gegenteil, sie krüppelt mit grösster Demut. Sie verzeiht stets, sie erbarmt. Sie glaubt offensichtlich ans Gute des Menschen; deswegen verleiht und verschenkt sie wie sie kann.

Sie verausgabt sich mit unendlicher Mutterliebe. Man kann sie kaum ausschöpfen. Sie wird ihre Kindchen stets unterstützen. Sie wird nicht über eine vermeintlich falsche Berufswahl lamentieren. Sie wird keine Matura forcieren. Sie appelliert an Glück, Eigenverantwortung und Selbstzufriedenheit. Sie spart.

Gewiss kann man mit dieser Mutter keine Weltreiche errichten, man kann keine fremden Länder ausbeuten, minderjährige Kinder unterentwickelten Ländern schänden; man kann keine Wirtschaftskriege entscheiden. Man kann stattdessen ein Haus bauen, man kann Glück konservieren, man kann die Brut wärmen.

Ich kann kein Heimchen aushalten. Finanziell durchaus. Ich bin ein Grenzgänger. Ich kann die ländliche Sehnsucht nachempfinden, aber ich kann und will sie nicht verwirklichen. Ich kann mich diesem Agglomerationsideal nicht anfreunden. Ich kann nicht plötzlich mich in ein Einfamilienhaus zwängen. Gut, muss ich nicht.