Monat: Mai 2020


  • Nach Corowahn

    Der Ausnahmezustand ist ja bekanntlich gelockert worden. Die Menschen wollen sich wieder vergnügen. Die berühmten Strassen der grossen Städten sind wieder bevölkert, manche sogar überbevölkert wie die Steinenvorstadt Basels, wo Halbstarke und Arrangierte zum Cüpli und zur Stange in der Systemgastronomie sich verabreden. 

    Auch ich habe mir bereits einen gewissen Eskapismus mikrodosiert. Ich sass einige Stunden in einer Bar, habe Weizenbier getrunken, die Menschen beobachtet, mich quasi versteckt; ich war ein kleiner geiler Voyeur. Ich genoss einen Abend ohne Verantwortung und Verpflichtung. Ich konnte einfach da sein und musste nichts. 

    Die Clubs sind jedoch weiterhin geschlossen. Die Öffnungszeiten der Bars sind ebenfalls eingeschränkt. Die vormalige Ausgelassenheit ist höchstens im Privaten zu zelebrieren. Die Gesprächsthemen sind weiterhin von Corowahn durchsetzt. Wo übrigens auch jedermann hierzulande anknüpfen kann. 

    Weil jeder hat seine persönliche Lockdown-Geschichte. Diese Geschichten können nun wieder geteilt werden. Das verbindet Menschen. Wer seit jeher leichte Gespräche sucht, findet sie mit Corowahn rasch. Selbst ich bin versucht, über Corowahn mich auszutauschen. Bislang konnte ich mich stets beherrschen. 

    Ich persönlich genoss den Ausnahmezustand. Der Ausnahmezustand hat mir meine grundsätzliche Einsamkeit nochmals verdeutlicht. Ich habe deswegen auch mehr mit meiner Heimat mich sozialisiert und noch verbundener gefühlt. Ich reiste gelegentlich nach Olten, traf dort Freunde und schätzte die mir vertraute und sichere Gesellschaft. 

    Neuerdings bin ich beruflich wieder unterwegs. Ich fahre Zug. Die Züge sind geringer ausgelastet als in den Sommerferien. Das entspannt das Zugfahren. Bislang ist der reguläre Fahrplan noch nicht vollständig reaktiviert. Manche Verbindungen sind noch unterbrochen. Das stört mich nicht sonderlich, ich wollte es lediglich erwähnt wissen. 

    Ich werde Corowahn als maximale Einsamkeit erinnern. Ich konnte reflektieren. Beruflich konnte die Firma neue Ideen konkretisieren. Die Firma hat nun endlich einen Weg zum Nordstern skizziert. Corowahn hat uns befreit und bestätigt und schliesslich bekräftigt, etwas zu riskieren. Wir sind mutiger und entschlossener geworden. 

    Manchmal müssen sich einfach die Verhältnisse ändern, damit die Menschen sich im Verhalten und somit in der Haltung irgendwann ändern. Ob im Beruflichen wie im Privaten. Nach Corowahn sind radikalere Veränderungen eher «toleriert». Ob man sich vom Beruf oder Partner trennt, man ist nun eher verstanden. 

    Doch das grosse gesellschaftliche Leben wird bald wieder normalisiert. Für eine grosse gesellschaftliche Veränderung war Corowahn doch zu gezähmt. Die Einschränkungen bedeuten lediglich gewisse Entbehrungen; die analoge Kulturindustrie war verboten, die digitale konnte stattdessen expandieren. 

    Auch die Todeszahlen waren nicht so erheblich. Nicht jede Familie hat einen Sohn geopfert. Nicht jede Familie hat eine Tante oder einen Onkel verloren. Es sind bloss Einzelfälle, die zerstreut und nicht signifikant sind. Keine verlorene Generation, kein Massensterben, keine geschundenen Jahrgänge waren die Folge.

    Der Kampf gegen den unsichtbaren Feind war auch keine klassische heroische Tat, die alle verbunden hat. Stattdessen verkümmern irgendwelche Forscher in irgendwelchen Laboratorien und tüfteln dort an einem möglichen Impfstoff. Die Mehrheit der Menschen ist hingegen ohnmächtig, ausgeliefert und weiss sich nicht zu schützen.

    Es ist keine «Kraftakt» der Gesellschaft, um Corowahn zu besiegen, sondern, wenn überhaupt, die Tat eines kleinen Teams. Und überhaupt, noch ist Corowahn nicht erledigt. Vielmehr bedroht uns Corowahn weiterhin, obgleich latent, unsichtbar, im Verborgenen und lustigerweise mit einer Verzögerung von zwei Wochen. Es ist stets eine Rückblende.

    Ich kann das Bedürfnis nach Eskapismus sehr gut nachempfinden. Auch ich hege den Wunsch, manchmal kontrolliert unkontrolliert zu sein. Die Menschen waren seit jeher für allerlei Rausche empfänglich; seien es Künste, Drogen oder Geselligkeiten. Die kurze Versorgungslücke wird rasch wieder gedeckt sein. 

    Ich freue mich auf die nächsten Lockerungen und aufs grosse Vergessen.


  • Die Ohnmacht der Eltern

    Ich mag keine Ohnmacht. Gefühlt bin ich stets ohnmächtig. Seien es die nicht veränderbaren Verhältnisse, sei es der Weltgeist, sei es die Liebe oder sei es die Erkrankung meines Mädchens. Das Gefühl der Kontrolle ist bekanntlich eine Komponente des Glücks. Ausgeliefert ist niemand gerne.

    Auch ich nicht. Ich kann etliche Momente der totalen Ohnmacht erinnern. Ein jüngstes Ereignis ist besonders dramatisch. Der epileptische Anfall meines Mädchens. Man kann nicht prognostizieren, wann ein solcher Anfall sich ereignet. Meistens sehr unerwartet und natürlich auch sehr unwillkommen, weil man bereits verplant ist.

    Das Mädchen ist dann nicht mehr ansprechbar. Es zuckt, bevorzugt mit dem rechten Arm und dem rechten Bein. Man fürchtet, sie zerbeisst die Zunge. Sie ist erstarrt und schlaff gleichzeitig. Man kann sie kaum tragen oder transportieren. Man muss dann einige Minuten warten, ob der Anfall zurückweicht. Diese Minuten ähneln Stunden naturgemäss.

    Danach muss man ein Valium rektal einführen, oder so. Auch als Tollpatsch sollte man nichts verschütten. Nun bangt man erneut einige Minuten, ob sich das Mädchen beruhige. Falls nicht, muss man den Notarzt anrufen. Das vorletzte Mal habe ich im Affekt den Notarzt zu früh benachrichtigt. 

    Diesmal habe ich gewartet. Als ich den Notarzt bereits meine Adresse mitteilen wollte, packte das Mädchen ganz belämmert meine Hand. Sie hat sich wieder «normalisiert». Doch ihre Augen, ihr Mimik war betoniert, ausdruckslos, gefangen. Sie war seitlich gelagert aufgrund akuter Erstickungsgefahr durch Erbrechen. 

    Eltern wollen sich ja um ihre Kinder sorgen, manchmal auch jenseits der gesellschaftlich tolerierten Altersgrenze. Eltern wollen ihren Kindern vermitteln, dass sie die Verhältnisse kontrollieren könnten. Eltern sind omnipotent, so die Perspektive eines bedürftigen, wehrlosen und verletzlichen Kindes.

    Mein Mädchen kann ich aber nicht retten oder beschützen. Ich kann ihr auch nicht helfen. Ihre Erkrankung ist ursächlich nicht behandelbar, das alleine ist bereits eine unendliche Ohnmacht für die Eltern. Auch Symptome wie Epilepsie kann ich nicht verhindern. Ich kann bloss warten, die Minuten zählen und hoffen.

    Wir haben uns alle an eine gewisse Ohnmacht gewöhnt. Wir können die kosmologische Konstante nicht beeinflussen. Wir können den Hunger der Welt nicht lindern. Wir können nicht allen Menschen eine Decke und Dach hierzulande garantieren. Wir können unsere liebgewonnenen Menschen nicht vor der Barbarei wahren. 

    Das ist alles okay und einigermassen hinnehmbar. Wir sind diszipliniert, beherrscht und dürfen stets unsere Möglichkeiten vergegenwärtigen. Falls nicht, werden wir freundlich gemahnt. Aber falls du nicht einmal dein Mädchen behüten kannst, das ohnehin nicht alleine lebensfähig ist – dann fühlst du dich schon recht mies.

    In diesem Moment erleide ich auch einen kleinen Anfall. Ich werde sentimentaler, emotionaler und bedürftiger als normalerweise. Ich fühle mich verletzt, einsam und hilflos. In solchen Situationen wünsche ich mir bloss Nähe und Geborgenheit oder radikaler Stressabbau, z.B. mittels Sexualität.

    In diesem Moment falle ich maximal auf mich selbst zurück. Ich bin zwar geschult, dass dort nicht viel bis nichts ist, dennoch übermannt mich der Moment. Gewiss werde ich den nächsten Anfall meines Mädchens leichter, gefasster und abgeklärter bewältigen können. Ich war bereits jüngst viel entspannter und weniger verwirrter. 

    Dennoch ist die Ohnmacht der Eltern, das Schicksal der eigenen Kinder nicht beeinflussen oder verändern zu können, wohl die grösste, die man irgendwie verkraften muss. Man kann bloss akzeptieren und sich arrangieren. Ich trainiere noch. Seien wir gespannt aufs nächste Mal.