Mühsal der Selbstauseinandersetzung

Der Notstand provoziert die Selbstauseinandersetzung. Zuhause gefangen, isoliert, ohne Kulturindustrie fällt der Mensch plötzlich auf sich selber zurück. Dasselbe Schicksal teilen die Aufgeklärten, Depressiven und Grübler dieser Welt, die irgendwann – meistens zu spät als zu früh – mit dem Nachdenken und Sinnieren unbeholfen starten. 

Unbeholfen deswegen, weil weder Eltern noch Schule die Selbstauseinandersetzung uns lehrten. Wir alle beginnen mit denselben Unerfahrenheit. Plötzlich, vermutlich allerspätestens mit 40, versuchen wir unser Selbst zu verstehen. Meistens nicht, weil wir wollen, sondern weil wir müssen.

Entweder sind unsere bisherigen Gegenwartsbewältigungsstrategien gescheitert oder nicht mehr angemessen für die jüngsten Ereignisse. Oder die äusseren Verhältnisse haben sich gewandelt dergestalt, dass wir notgedrungen uns auseinandersetzen müssen, wovor wir stets geflohen sind. Das auslösende Ereignis ist – einmal mehr – irrelevant.

Jetzt sind wir unbeholfen, unerfahren – und müssen uns auseinandersetzen. Wir müssen reden, Zwiegespräche führen. Plötzlich ist nicht mehr alles ganz einfach, die Leichtigkeit des Daseins ist verflüchtigt. Plötzlich sind alle Gedanken schwer, jede Tat bedenkenswert. Wir zweifeln hier und da. Die Gedanken wiederholen und kreisen. 

Die Selbstauseinandersetzung ist keine exakte Wissenschaft. Kochbücher, Anleitungen helfen nicht. Sie verunsichern. Die Selbstauseinandersetzung ist, sobald einmal eingetreten, ein immerwährender Prozess und kann nicht storniert werden. Ein Status quo ante kann nicht hervorgerufen werden. Entweder ist man drin – oder nicht.

Ein Prinzip der Selbstauseinandersetzung ist, dass man selber Bewältigungsstrategien entwickeln muss. Man kann zwar sich inspirieren lassen, doch umsetzen muss man selber. Es ist eine Adoption. Die Bewältigungsstrategien entstehen aus gesammelten Erfahrungen. Wir können unsere Strategien teilen, wir können Mitmenschen teilhaben lassen.

Doch bewältigen müssen wir unser Selbst selber. Niemand kann das schultern. Auch kein Psychiater oder Heiler. Der Psychiater bietet Hilfe zur Selbsthilfe. Klassische Ausdruckstechniken können unterstützen. Sie entlasten die Psyche, reinigen. Doch sie erzeugen keine neuen Erkenntnisse. 

Wer bloss ausdrückt, ist irgendwann entleert. Er muss sich wieder frisch stimulieren, wieder dramatisieren – aber ist doch ohne Erkenntnis und Gewinn. Der Ausdruck stärkt die Selbstauseinandersetzung insofern, als man über den Ausdruck reflektiert, man die Botschaften liest und allmählich zu begreifen versucht. 

Wer also ein ausdrucksstarkes Tagebuch schreibt, soll die Botschaften nicht bloss archivieren, sondern regelmässig interpretieren und stets angesichts jüngster Ereignisse bewerten. Oder wer ausdrucksstark tanzt, soll seinen Tanz aufzeichnen, im Nachhinein studieren und Befindlichkeiten in einen Kontext setzen. 

Effektive Methoden, den Ausdruck zu begünstigen, sind alle modellhaften. Ob LEGO oder eine sonstige Knetmasse, ob semiformale Visualisierungen oder Graphen mit Kanten und Knoten. Modelle abstrahieren, vereinfachen und vor allem repräsentieren sie. Man kann ein Modell reformen, zerstören, bewusst überwinden. Und man arbeitet mit Hand und Kopf. 

Es ist stets das Modell, das man betrachtet – und nicht das eigene Selbst. Man kann sich auch distanzieren. Man ist die dritte Person singular. Dadurch kann man ehrlicher, direkter und unmittelbarer interagieren. Man ist authentischer; Selbstbetrug ist minimiert. Und wenn das Modell nicht mehr passt, kann man es entsorgen, ohne die Persönlichkeit zu verletzen.

Doch auch mit geeigneten Ausdruckstechniken gleicht die Selbstauseinandersetzung einer Hydra. Sobald man aus einer Gedankenspirale entwunden ist, folgt die nächste, die einen erstarrt. Die befreienden Erkenntnisse rücken zeitversetzt nach. Was heute absurd ist, ist in einem Jahr plausibel. Kann man diesen Prozess aushalten? Fraglich.

Die Selbstauseinandersetzung in letzter Konsequenz ist grausam, schonungslos. Wir sind perfekt ausgebildet, selber uns zu belügen. Die kleine Notlüge sei ganz harmlos, wollen wir meinen. Schliesslich brüskieren wir damit ja auch keine Mitmenschen – bloss uns selber. Das ist doch hinnehmbar? 

Mag sein, dass eine einzige Notlüge unsere Psyche beruhigen kann. Vielmehr ist es die Summe der Notlügen, die besorgen muss und die Selbstauseinandersetzung insgesamt verunmöglicht. Wer einmal sich selber belügt, kann es mit 50%iger Wahrscheinlichkeit auch ein zweites Mal. Und dadurch verlieren wir uns im Kreislauf des Selbstbetruges.

Hier irgendwann zu bremsen, das grosse Muster zu brechen, kann einen erschüttern und den gesamten Lebenssinn rauben. Man muss eingestehen, was man verfehlte. Man muss seine komplette Biografie neu klären. Ein grausamer, mühseliger Prozess. Es ist durchaus menschlich, die Selbstauseinandersetzung konsequent zu scheuen. 

Ich will meine Leserschaft dennoch zur Selbstauseinandersetzung motivieren. Gemeinsam schreiten wir durchs Tal der Tränen und schöpfen Erkenntnis. Die Selbstauseinandersetzung als Prozess verspricht durchaus Zuversicht und Kraft, weil man stets sich nähert. Mögen Rückschläge uns verwirren, doch letztlich ist jede Selbsterkenntnis wertvoll und stiftet Sinn.