• Meine erste Kommune Oltens

    Olten. Eine derzeit gerne beschriebene Stadt. Der Literarische Monat fokussiert in der aktuellen Ausgabe ausschliesslich Olten. Mein Kollege K. darf Oltens Status bestätigen. Auch L. schreibt einen weiteren Text über Olten. Bekanntlich stamme ich ebenfalls aus Olten. Das ist nicht zu überlesen. Heute dramatisiere ich eine Kommune Oltens. Viel Vergnügen.

    Vor mehr als dreizehn Jahren hat der Zufall einer Alten Aare Sause einige Menschen zusammengewürfelt. Der eine bestrebt, von der Wohnung seiner Mutter sich loszusagen. Der andere aufgefordert, endlich auszuziehen. Der eine, nennen wir ihn ehrlicherweise O., hat bereits recherchiert. Er werde morgen eine Wohnung besichtigen. Der andere?

    «Kann ich auch mitkommen?», unterbrach ich jugendlich-unschuldig, weil naiv. Der Kollege hatte nichts einzuwenden. Wir verabredeten uns, wir inspizierten die Wohnung. Beste Lage, günstigster Preis. Im selben Haus hatte sich bereits die A. eingenistet, die grosse Schwester meiner späteren Freundin M.

    Irgendwie bin ich mit O. in dieser Wohnung gelandet. Der Umzug war meinerseits chaotisch und unstrukturiert. Ich zügelte hauptsächlich mit dem Bus. Das meiste Mobiliar beschaffte ich in der lokalen Brocki, deren Hauptkunde ich bald wurde. Wir improvisierten unsere 4-Zimmer-Wohnung gut und gemütlich.

    Wir waren cool. Wir waren Helden. Man beneidete unsere Wohnung. Den Alltag überbrückten wir mit Arbeit. Gelegenheitsarbeiten in den grossen Hallen des nahen Gäus. Manchmal haben sich unsere Schichten überschnitten. Wir trennten die Rollen; der eine arbeitete, der andere führte den bescheidenen Haushalt.

    Das Klo war meistens sauber, die Küche meistens geputzt. Der Salontisch im Wohnzimmer war nicht überstellt. Ich glaube, wir hatten sogar mal Staub gesaugt. Ob wir den knirschenden Holzboden jemals feucht aufgewischt haben, weiss ich nicht mehr. Vermutlich nicht, denn unser Sauberkeitsbedürfnis war noch nicht voll entwickelt.

    Nach einigen Monaten vergrösserten wir unsere Wohngemeinschaft. Die geschätzte A. ausm oberen Stock wechselte in die hippere Rosengasse. Diese 3-Zimmer-Wohnung besetzten weitere Kollegen. Im oberen Stock wohnten fortan zwei Frauen, L. und M. In unserem Stock drei Herren, O., B. und ich. Wir waren nun zu fünft.

    Diese beiden Wohnungen waren aneinander gekoppelt. Wir nutzten die Dusche im 2. Stock. Das Wohnzimmer installierten wir im 1., das Gemeinschaftsbüro im 2., die Küche im 1. Die beiden Wohnungen bildeten eine grosse Wohngemeinschaft; unsere Kommune, unsere erste Kommune. Denn sehr bald konzentrierten wir darin unseren Lebensmittelpunkt.

    Weitere Kollegen waren quasi permanente Gäste. M. war ein Untermieter in L. Zimmer. S. nächtigte vorzugsweise aufm grosszügigen Ledersofas O. In der besten Jahren duschten, assen, kackten und kifften sieben Leute in dieser Kommune gleichzeitig. Wir feierten gemeinsame Abendmahle, Spielrunden. Weitere Gäste besuchten uns stets.

    Ich kann mich nicht mehr an alle Sofa-Konzerte erinnern. Ich kann auch nicht mehr alle Videoclips auflisten, die beispielsweise unser Gast K. und ich in L. Zimmer drehten. Auch beflissenste deadheads musizierten in unserer Stube. Auch etliche Lokalpunks tranken Denner-Bier, so auch der schwarze R. oder der kleine Bruder von M.

    Wir änderten gefühlt jeden zweiten Monat die Zimmerbelegung. Irgendwann verliessen uns B. und M. Sie begründeten ihre eigene Verliebtpaar-Wohnung. Ich glaube, sie bewohnten fortan ein Häuschen mit einem Gärtchen an der weiterhin hippen Rosengasse. Die Mitbewohner fluktuierten. O. erkundete das ferne Nepal.

    L. war immer irgendwie hier, irgendwie auch nicht. Weitere Gäste sind eingezogen und wieder ausgezogen. Einmal R., der nun in Mannheim reüssiert. Einmal T., dessen Verbleib ich nicht mehr rekonstruieren kann, vermutlich weggesperrt. Und einmal P., der kleine Bruder eines Lokalpunkes. Bis zu dessen Gefangennahme in M.

    Hunde wie Ratten hausten gleichermassen, aber nicht gleichberechtigt. Die erste Ratte verschlang unsere friedliche Hausmaus, die uns nicht störte. Wir mussten die böse Ratte zu Dritt einfangen und sie am Aareufer entsorgen. Die Lokalpunks überwinterten. Sie teilten sich Sofa und Boden. Ihre Hunde belagerten das Treppenhaus.

    S. hatte mir später eine Art Büro finanziert. Dorthin habe ich mich verkrochen. Ich las und schrieb dort. Mein Arbeitsplatz war eine Müllhalde. Ich trank damals Redbull-Cola. Jede Dose war ein Aschenbecher. S. wohnte mit seiner damaligen Freundin nebenan. Wir grüssten uns täglich. Das war im 2. Stock. Der 1. Stock war von Lokalpunks belegt.

    Mein Schlafzimmer war weiterhin im 1. Stock, begehbar durch die Küche. Meine Küche desinfizierte ich bei Frauenbesuch. Alle zwei Wochen wollte mich eine oder eine neue treffen. Ohne Frauen wären meine Küche und mein Zimmer wohl vergammelt. Denn die Tauben haben bereits unseren Balkon verdreckt-verschissen.

    Irgendwann besserten sich meine Lebensumstände. Ich war nicht mehr arm, asketisch und in mich gekehrt. Ich war wieder regelmässiger lohnabhängig, extrovertiert, hungrig und durstig. Diese heruntergekommene Kommune passte nicht mehr. Denn auch S. flüchtete. Die Lokalpunks haben sich ausgebreitet. Die Fenster waren teils bereits zertrümmert.

    Ich musste also meine Situation verändern. Ich vermachte dem Lokalpunk P. meine Hammond-Orgel, Schätzwert mehrere tausend Franken, in den 60er produziert. Diese sollte alle Ansprüche der Verwaltung decken. Ob und wem er sie schlussendlich veräusserte, weiss ich nicht. Denn daraufhin habe ich die Kommune verlassen.

    Wir haben keine ordentliche Übergabe oder Abnahme organisiert. Ich habe mein Mobiliar auch grösstenteils den Lokalpunks verschenkt. Einzug und Abzug waren gleichermassen chaotisch. Ich war seither nie mehr dort. Wer heute diese Liegenschaft belegt, weiss ich nicht. Vermutlich zelebriert eine jüngere Generation das frohe und gute Leben Oltens. Und so soll es auch sein.

    Leider besitze ich keinen Bildbeweis dieser Kommune.


  • Die Singles Oltens

    In Olten konzentriert sich keine Szene gepflegter und wilder Singles. Wir bedauern die Ledigen. Die begehrenswerten Singles sind allesamt ausgewandert. Eine üppige R. feiert als letzte das Singleleben. Sie wohnt im nahen H., ein arrivierter Vorort Oltens, leider bereits im Bezirk Gäu. Eine wilde A. ertränkt sich in Alkohol. Und eine C. verzweifelt. Das sind die einzigen mir bekannten weiblichen Singles meines Alters.

    Das erklärt die Enge Oltens, wenn man alle Singles beim Namen auflisten kann. Hier kann man ausschliessen, dem Partner des Lebens in einem Terminus zufällig zu begegnen. Etliche haben ihre grossen Beziehungen beendet, sie konkurrieren wieder aufm Sexmarkt. Solche Singles aktualisieren nicht ihren Facebook Beziehungsstatus. Weil sie sich schnellstmöglich wieder verlieben und binden wollen und auch können.

    Im Galicia verelenden die älteren Frauen. Sie vereinsamen dort gemeinsam. Sie flirten mit den jüngeren Herren, die gelegentlich dorthin sich verirren. Sie haben die Familienplanung abgeschlossen. Man hat bereits deren Töchtern flachgelegt, mindestens mal besoffen geknutscht. Und darf nun die von Alkohol zersetzte Mutter kennenlernen. Das sind keine Singles im klassischen Sinne; sie wollen sich nicht mehr paaren.

    Im Vario versteckt sich die Generation Golf. Sie hauert auf der Sitzbank, schlürft Weisswein. Die weiblichen Singles beklagen ihren unfreiwilligen Beziehungsstatus. Sie haben in eine ernsthafte Beziehung investiert. Doch vergebens. Die Beziehung scheiterte. Man hat sich entfremdet, auseinandergelebt. Man hat sich über die Familienplanung nicht geeinigt. Man hatte sich mit überhöhten Anforderungen überfordert.

    Im Coq d’or schliesslich vergnügt sich die junge Generation. Sie meistert die Reifeprüfung, sie studiert das erste Mal in einer fernen Grossstadt, sie verdient das erste Geld. Sie finden sich im Leben. Sie wollen leben, sind hungrig. Doch sie zaudern ebenso. Denn sie leben sowohl in Olten wie auch in einer fernen Grossstadt. Sie bewegen sich auf unterschiedlichen Märkten. Olten ist der sichere Heimathafen, wo sie zurückkehren können.

    In Olten aber verliebt man sich nicht. In Olten lernt man sich nicht kennen. In Olten kann man sich zurückziehen. In Olten verliebt sich bloss, wer im Terminus tanzt. Doch das dortige Angebot verjüngt sich aus meiner Perspektive jährlich. Es sind die sehnige KV-Angestellte, dumpfe Detailhandelsassistentinnen, die dort sich betrinken. Sie knutschen bereitwillig. Die Sehnsucht motiviert sie; Torschlusspanik, Mann mit Job ist das Ideal.

    Als Single in Olten überlebt man nicht lange. Sowohl als männlicher wie auch als weiblicher. Man muss irgendwo eine ferne Grossstadt aufsuchen. Wo die Berufsjugendlichen leben. Wo man mit Gleichaltrigen einen Montag bewusstlos schlagen kann. Ab dreissig hat man endlich das Geld, den Style, den Erfolg und die Erfahrung, mit dem anderen Geschlecht sich richtig verständigen zu können. Man ist endlich abgestumpft und abgeklärt genug.

    Man kann das NEON konsultieren, mit Freunden am Katerfrühstück in selbstgebastelten Bars die gestrigen Bekanntschaften rezensieren. Man kann sonntags Tatort auf Twitter streamen. Man kann mittwochs das Bergfest anstossen. Man kann donnerstags die lokale Club-Kultur würdigen. Man kann freitags mit Freundinnen beim Asiaten speisen. Man kann samstags im Kaffee den Barista anseufzen.

    Also flüchte, wer sich verlieben und binden möchte. Man kann mit 35 wieder heimkehren, heim ins Reich. Man kann sich am Waldrand Oltens niederlassen, ein Haus ersteigern oder erbauen. Man kann dann im Salmen wie in der Schlosserei den Abend geniessen. Man kann im Stadttheater kleinstädtische Kunst erfahren. Man kann die gemeinsamen Kinder im Robi-Spielplatz versorgen. Man kann irgendwie als Paar fristen.


  • Alkohol, Arbeit und Liebe

    Ich lebe bloss noch von Alkohol, Arbeit und Liebe. Ansonsten ist mein Leben reduziert. Gelegentlich putze ich mein Zimmer, gelegentlich öffne ich meine Briefe, zahle Rechnungen. Gelegentlich bin ich einkaufend. Wie beispielsweise heute. Ich beginne meine ICT Infrastructure vom Arbeitgeber zu befreien. Anderes Thema.

    Wir haben einen kleine Gruppe begründet. Die sogenannten Futuristen. Futuristen beschleunigen, verausgaben sich. Doch die Gruppe verfranzt, fragmentiert. Sie verdünnt sich. Wir alle altern. Vor sechs Jahren stürmten und drängten wir noch. Wir liebten die Leidenschaft; den Alkohol und die wilden Frauen.

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    Wir zerstörten Mobiliar, wir ruinierten unseren Ruf. Wir waren gefürchtet und berüchtigt. Wir hatten das Coq d’or «aufgebaut». Wir hatten das Coq d’or in einen Tempel des Exzesses verwandelt. Wir drehten stundenlang am Glücksrad und provozierten stets alle anderen Gäste. Wir waren unaufhaltbar.

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    Doch die ersten wurden bürgerlich. Ich hatte mich irgendwie verliebt, suchte das Spiesserleben aufm Lande. Ich lernte Auto zu fahren. Auch andere beruhigten sich. Der eine zeugte sogar ein Kind. Ein anderer wanderte vorübergehend aus. Bloss einer war nicht beeindruckt; er drehte erst recht durch und auf.

    Ich entfernte mich während des Spiesserlebens von der Futuristen-Gruppe. Schliesslich durfte ich daheim nicht meine Frau erzürnen. Ich durfte mich nicht blamieren oder sonstwie verausgaben. Ich musste stattdessen haushalten, Geld sparen und an Wellness-Orte verreisen. Nicht wirklich futuristisch.

    Seit Anfang Jahr bin ich aber wieder zurückgekehrt. Die Gruppe hat sich verändert. Die Unbeschwertheit ist natürlich verflüchtigt. Wir können nicht mehr 100 Shots an einem Dienstag konsumieren. Wir können nicht mehr den Vormittag verkoksen. Wir können nicht mehr alle hübschen Herzen brechen.

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    Wir müssen stattdessen arbeiten, Weiterbildungen finanzieren, Kinder ernähren, Frauen besänftigen. Wir müssen stattdessen unseren Körper schonen, unsere Figur stählern. Wir müssen Medikamente schlucken. Wir müssen mit Schwiegereltern speisen. Wir müssen Grosseltern beschenken. Wir müssen Garten pflügen. Fürs Alter vorsorgen.

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    Woran bin ich? Ich investiere in die Liebe! Ich investiere in die Arbeit. Und ich investiere in Alkohol. Derzeit bin ich folglich absorbiert. Wünscht mir Glück!


  • Der Kunde und die Prostituierte

    Sie haust temporär. Sie schaltet Inserate im Internetz. Sie preist ihre Fertigkeiten. Tabulos sei sie. Unverschämt und fordernd. Sie schreibt, was Männer begehren. Vermutlich hat eine Eminenz im Hintergrund ihren Text formuliert. Mag sein. Denn diese Branche tauscht Täuschungen. Sie vermittelt Illusionen. Sie simuliert. Willkommen in der Prostitution.

    Sie ermahnt, dass man sie anrufe. Sie beantworte keine SMS oder Whatsapp. Sie ignoriere «Spinner» und «Absager». Nicht überall ist der Kunde König; hier ist der Kunde Bittsteller. Der Kunde akzeptiert, dass er sexuell frustriert ist. Der Kunde demütigt sich, indem er eine Prostituierte aufsucht. Der Kunde ist ein kleiner Masochist. Für Schläge verrechnet sie aber einen Aufpreis. Der Sexmarkt betrifft jeden; die meisten verlieren aber.

    Die Prostituierte empfängt den Kunden in ihrer temporär gemieteten Wohnung. Hier lebt also ein gewisser Herr Meier, so die Klingel. Bevor sie den Kunden hineinbittet, prüft sie, ob niemand im Treppenhaus spioniert oder wie sie durch einen Türspalt blinzelt. Sobald eingetreten, umarmt sie den Kunden flüchtig; Luftküsschen links und rechts. Sie simuliert Nähe, wo Distanz ist. Obgleich in wenigen Minuten eine gewisse Intimität beginnt.

    Der Kunde regelt die Bezahlung. Ein Marktpreis. Ein Preiskartell. Die Asylanten und Drogensüchtige aufm lokalen Strich unterbieten sich zwar. Doch die sauber-seriösen Prostituierten beeindruckt das nicht. Sie haben und kennen ihren Marktwert. Die Nachfrage ist konstant und variiert höchstens im Lohnzahlungszyklus der arbeitenden Mehrheit. Alle sehnen sich nach Sex, nach gewisser Intimität, auch wenn sie bloss vorgetäuscht ist.

    Nach der Zahlung darf der Kunde seine Wünsche kommunizieren. Ein Quickie? Spanisch? Französisch? Griechisch? Diese Vielfalt verunsichert den Kunden. Wie in einem gediegenen deutschen Supermarkt: Man will Salz, muss aber von fünfzig Produkten wählen. «Einmal Sex bitte!», beruhigt der Kunde. Die Prostituierte versteht. Sie entkleidet sich funktional. Der Kunde ebenso, bloss nervöser. Die Socken behält er, sie symbolisieren die Distanz.

    Der Kunde darf sich aufs schludrig gemachte Bett legen. Die Prostituierte beschwört ihn, sich zu entspannen. «Ich beisse nicht», witzelt sie. Der Kunde zittert dennoch. Sein Penis schläft. Sein Penis ahnt noch nichts. Die Prostituierte präsentiert ihre Brüste. «Schön», denkt sich der Kunde. Das erregt ihn nicht. Schliesslich begegnet er üppigen Brüsten bei der Arbeit, im Thermalbad und im Internetz. Brüste kennt er gut.

    Die Prostituierte reflektiert nicht lange. Sie muss einen Job erledigen. Rasch verschluckt sie den schlaffen Penis des Kunden. Der Kunde erschaudert. Die Prostituierte erhärtet den Penis rasch. Die Mechanik hat sie verinnerlicht. Sie ist kein braves Mädchen, das noch nie einen Schwanz lutschen durfte. Es ist nicht ihr erstes Mal. Sie hat sich mitm männlichen Geschlechtsorgan arrangiert. Und gewiss nicht das letzte Mal.

    Nach wenigen Minuten prahlt und strahlt die Manneskraft. Das erleichtert den Kunden. Er muss diesmal keine Erektionsschwierigkeiten beklagen. Er muss sich zumindest nicht in dieser Hinsicht auch noch kränken lassen. Lustlos, aber technisch versiert befeuchtet sie den Penis. Sie umschlingt den Penis mit ihrem Mund. Sie dippt die Eichel züngelnd. Sie rutscht rhythmisch mit der Linken dem Schaft entlang.

    «Willst du ficken?», unterbricht die Prostituierte. Der Kunde zögert. Eine rhetorische Frage? Der Kunde gehorcht. «Ja, ich will», lispelt-flüstert er. Er billigt damit keinen Bund des Lebens. Er will bloss Intimität erfahren. Vermutlich will er einen Alltag vergessen. Vermutlich will er sein lebloses Leben beleben. Vermutlich stauen sich auch bloss die Samen. Er will also. Die Prostituierte montiert ein Kondom. Erneut technisch bewandert und unbemerkt quasi.

    Sie beschmiert ihre Vagina. Anschliessend besteigt sie ihn. Sie presst den bereits weicheren Penis ins Standardloch. Der Kunde regt sich nicht. Er stöhnt nicht und nichts. Die Prostituierte aber startet ihre Musik. Sie jauchzt und quiekt. «Ja, fick mich!», singt sie die erste Strophe. «Dein Schwanz ist so hart!», doppelt sie nach. «Du bist so geil!», übertreibt sie. Sie wiederholt ihre Strophen. «Komm, komm!», sehnt sie im Refrain.

    Der Kunde pariert. Er ejakuliert. «Ich bin gekommen.», kommentiert der Kunde. Die Prostituierte reagiert. Sie beugt sich zum Penis, kontrolliert den Samenerguss. Sie nickt. «Geschafft!», sinniert sie rasch. Sie hat ihren Job erledigt. Sie lockert das Kondom, putzt den Penis oberflächlich mit Feuchttücher. Der Kunde resigniert. Er vermisst die Intimität. Doch er konnte keine erwarten. Das hier ist nicht der Ort der Liebe.

    Liebe kann man nicht wünschen, kaufen oder erzwingen. Der Kunde ist sich dessen durchaus gewahr. Doch für eine Illusion musste er heute über hundert Franken investieren. Technisch ist der Kunde zwar entsaftet. Aber besser fühlt er sich nicht. Er ist denn auch nicht glücklicher. Im Gegenteil. Das Ereignis verzweifelt ihn noch mehr. Es vereinsamt und entfremdet ihn noch mehr. Immer mehr. Wie kann er sich befreien?

    Denn Prostitution ist eine Geisel. Für die Prostituierte wie für den Kunden gleichermassen. Sie befriedigt nicht. Sie entfernt bloss. Sie lässt Menschen erkalten, wo sie sich erwärmen sollten. Der Akt ist funktionalisiert-reduziert. Keine Liebe versprüht einen Zauber des Moments. Die post-coital tristesse infiziert Prostituierte wie Kunde. Den Kunden belastet das stärker. Denn die Prostituierte schützt sich mit einer Maske ihres Berufes.

    Die Prostituierte verabschiedet den Kunden. Höflich bemüht sie eine beiläufige Konversation. Sie erkundigt sich nach Beruf, nach Ferienziele. Aber sie erinnert niemals an eine Familie. Der Kunde quält sich; er antwortet pflichtbewusst und ebenso höflich. Doch er mag kein Gespräch fortführen. In wenigen Minuten ist der Kunde wieder angezogen. Er verlässt die Prostituierte und wird ihr nie mehr wieder begegnen.


  • Das NEON Magazin

    Im  grossen deutschen Land feiert sich die aufgeklärte studentische Subkultur. Sie isst vorzugsweise vegetarisch, mindestens aber gesund und bewusst. Sie verpönt Atomenergie. Sie ist sexualisiert; Tinder und so. Sie reist, pilgert und versteht. Sie ist cool, sie hört zeitgenössische Musik. Sie lebt in grossen Städten (Hamburg!). Und sie liest NEON.

    Gemäss Wikipedia fokussiert die Zeitschrift «Menschen zwischen 20 und 35 Jahren mit hohem Bildungsstand und überdurchschnittlichem Einkommen». Die Lieblingszielgruppe aller Blofelds. Ein überdurchschnittliches Einkommen, das verschleudert werden will. Die Redaktion repräsentiert die Zielgruppe wohl bestens; abgesehen vom Einkommen.

    Ich scrolle durch die Beiträge, ich blättere durchs physische Heft. Die aktuelle Ausgabe poltert beispielsweise «Gib alles für die Liebe». Ein sehniger Beitrag, der an Wir können uns nicht verlieben oder an Ohne Liebe kein Leben erinnert. Ich fühle mich aber nicht inspirierter. Auch die übrigen Beiträge bannen mich nicht. Irgendwie ist’s so la la.

    Vermutlich kann ich mich nicht anfreunden, weil ich mich nicht mit der angestrebten Zielgruppe identifiziere. Ich entstamme nicht diesem Milieu. Ich lebe in Olten. Wir haben hier keine homogene Schicht, die das junge, gebildete und einkommensstarke Leben zelebriert. Wir haben keine solche Subkultur; wir haben bloss das Coq d’or, das Vario und das Galicia.

    So schliesse ich nun die Webseite, ich entsorge das Heftchen. Ich bin weder deutsch noch in einer grossen Weltstadt lebend. Ich interessiere mich weder fürs gesunde Leben, für zeitgenössische Musik, für hippe Ausgehtipps in irgendwelchen osteuropäischen Grossstädten noch für den Exodus türkischer «Intellektuelle» seit Erdogan.


  • Das liebe Geld

    Ich weiss nicht, wann und wie ich mich besser fühlte. Mit mehr oder weniger Geld? Ich habe mittlerweile einigermassen Geld. Aber dennoch bin meistens ziemlich prekär. Natürlich verjuble ich vieles. Ich spare gewiss; aber meine Quote ist gering. Die Sparquote korreliert mit der Lebensfreude. Eine hohe Sparquote symbolisiert beispielsweise eine latente Zukunftsangst. Als Futurist fürchte ich weder Vergangenheit noch Zukunft. Also verausgabe ich mich hier und jetzt.

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    Gewiss ist meine Situation auch nicht so prekär, dass ich sofort verhungern müsste. Ich konnte mir eine neue Jacke, ein frisches Hemd, einige Hosen problemlos leisten. Ich muss deswegen nicht betteln oder darben oder sonstwie mich einschränken-peinigen. Allerdings endet der Monat nicht mit einem markanten Überschuss, den ich grosszügig übers Portfolio verteilen könnte.

    Das ärgert mich. Ich kann zwar alles irgendwie begründen. Ich kann meine gestiegenen Fixkosten (kalte und warme Miete) beklagen. Ich kann meine überteuerte business school bedauern. Ich kann meinen ausschweifenden Alkoholkonsum bereuen, der in berühmten Muschishot Lokalrunden zusätzlich mich belastet. Auch wenn ich diese Ausgaben dereinst kürzen könnte, ich wäre gleich blank. Ich würde mein Geld bloss anders verschwenden. Vermutlich für schicke Anzüge.

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    Ebenso könnte ich meine Situation, weil mein Verhalten nicht bessern, wenn ich plötzlich noch mehr Geld monatlich erhalte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass ich demnächst bedeutend mehr Geld verdienen werde. Es sind gewiss keine fünfzig Millionen. Zumindest vorerst nicht. Vermutlich brauche ich jemanden, der mich ein wenig mässigt. Nicht massregelt! Aber ein wenig beruhigt. Denn mein exzessives Verhalten ist total; so auch finanziell.

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    Ich habe in meiner persönliche Situation derzeit keine Notwendigkeit, mich zu ändern. Ich muss mein Verhalten nicht anpassen. Meine persönliche Existenz ist gesichert. Mein relativ abhängiges Umfeld ist ebenfalls vorfinanziert. Niemand muss bangen. Niemand muss sich meinetwegen sorgen. Ich habe einfach keine 100’000 CHF liquide. Ich habe keine Sicherheiten, die mich über Monate retten könnten. Das kann einen verängstigen. Aber mich nicht.


  • Der gequälte Künstler

    Ich verstehe alle Künstler, die bloss im Leiden, während grösster Qualen Produktivität ausüben können. Im «normalen», sprich unbeschwerten und frohen Zustande muss man keine Kunst produzieren. Weil man sich nicht ausdrücken muss. Man hat alles ausgesagt, alles ausgekotzt. Nichts mehr, worüber man sprechen, berichten könnte.

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    Ausgenommen die Berufskünstler, sie müssen fortlaufend funktionieren-wirken. Sie müssen auch vom guten Leben erzählen können. Ob ich jemals übers gute Leben schreiben kann? In bekannt gütiger Altersmilde? Heute jedenfalls nicht, denn das Schreiben soll mich bloss befreien, besänftigen und trösten. Ein geheimer Blog als Abfallprodukt davon.


  • Der Fashionblogger

    Frank mag Mode, Frank mag das Leben. Frank hat Style. Manchmal auch das Geld. Frank ist ein Fashionblogger. In Echtzeit berichtet er aus Zürich, der schweizerischen Modemetropole. Frank kleidet sich extravagant. Er stolziert an der Müllerstrasse, Ankerstrasse, überquert den Helvetiaplatz, sitzt lässig im Xenix.

    Frank publiziert in Englisch. Frank beobachtet nicht den street style. Sondern Frank porträtiert bloss sich selber. Deswegen kommandiert er seine Freundin. Hier ein Bild, dort ein Schnappschuss, hier eine Szene, dort eine Impression. Frank erklärt im Blog seinen Style. Frank erklärt seine Welt. Die Welt von H&M und C&A.

    Ein Bildbeweis Franks.

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  • Der Bettler einer westlichen Grossstadt

    Er hat alles verloren. Keine Wohnung, keine Nahrung, keine Freunde. Von der Liebe ist er gänzlich entfremdet. Er ist ein Bettler einer westlichen Grossstadt. Bloss die Bahnhofsmission wärmt ihn. Sie ernährt ihn. Einmal täglich darf er Gemüsesuppe mit Brot kosten. Er ist dort nicht registriert. Weil die Hilfe der Bahnhofsmission ist unbürokratisch. Sie humanisiert. Sie repräsentiert die Reste der christlichen Nächstenliebe, die darin fortwirkt und Jesus› Erbe erhält.

    Unser Bettler schlendert durch die grosse Stadt. Die Strassen sind laut und dreckig und breit. Die Menschen hasten. Die Menschen sind parfümiert. Die Menschen sind rasiert. Die Menschen sind gekleidet. Sein Gesicht ist vernarbt. Seine Stimme verkohlt. Seine Kleidung funktional reduziert. Seine Zähne verfault. Seine Haut vertrocknet. Zwar schlägt sein Herz, doch es ist erkaltet. Seiner Familie ist er entfremdet. Seine Freunde haben sich abgewendet. Ohne Geld und Sinn irrt er durch die grosse Stadt.

    Sein Tag ist strukturiert. Er wird gegen 07:00 Uhr geweckt. Er schläft auf Fussmatten. Diese sind bequem, weil weich und speichern die Wärme. Doch um 07:00 Uhr signalisiert der private Sicherheitsdienst, dass er nicht mehr erwünscht sei. Die Nacht gehöre ihm, der Tag aber den Anständigen. Die Randständigen sollen sich tagsüber verstecken. Sie dürfen das Stadtbild nicht stören. Weil sie erinnern. Denn sie sind lebendige Denkmale. Sie lehren uns die Vergänglichkeit und die Zerbrechlichkeit unserer Gesellschaft.

    Die Bahnhofsmission öffnet mittags um 11:00 Uhr. Um 09:00 reiht der Bettler sich in die Schlange. Er ist unter den seinen. Doch er spricht nicht. Niemand spricht. Alle warten. Niemand will erzählen, niemand muss etwas berichten. Sie kennen alle den Alltag. Sie teilen zwar dieselben Sorgen. Doch sie kämpfen alleine. Sie nicken einander zu. Sie treffen sich regelmässig, sie begegnen sich regelmässig an den unterschiedlichsten Bahnhofsmissionen der grossen Stadt. Doch sie knüpfen keine Netzwerke. Sie werden ohnehin alleine erfrieren.

    Die Nächte sind lang und kalt. Jährlich verschwinden Menschen, jährlich gesellen sich neue Menschen in die Warteschlange. Frischfleisch. Immer wieder einige zum ersten Mal. Unser Bettler fristet bereits seit fünf Jahren auf den Strassen. Viele Leidgenossen sind nicht mehr ausm Winterschlaf erwacht. Andere sind durch hedonistische Spassterroristen verstümmelt und entstellt worden. Niemand rächt einen Obdachlosen. Sie sind Freiwild. Man kann sie jagen, bespucken und vergewaltigen. Sie sind alle selber schuld.

    Um 13:00 Uhr ist unser Bettler satter geworden. Doch das Gefühl einer Sättigung kann er nicht mehr erreichen. Er ist unersättlich. Er hungert immer. Er überlistet den Hunger mit Alkohol. Doch Alkohol verschenkt die Bahnhofsmission nicht. Es ist eine christliche Mission. Sie sichert das Allernotwendigste. Doch ohne Alkohol überlebt er nicht. Ohne Alkohol fröstelt seinen Körper. Manche seiner Szene beschaffen sich Alkohol illegal. Er wahrt gewisse moralische Prinzipien. Du sollst nicht das Eigentum anderer stehlen!

    Also bettelt er. Er postiert sich an frequentierten Einkaufsstrassen. Ein beschrifteter Karton schildert sein Leben: «Mit 35 ohne Familie und Geld, ohne Haus und Hund. Brauche Alkohol, sonst verelende ich!» – Das überzeugt, das beeindruckt. Er fleht nicht für eine Mahlzeit. Er braucht Alkohol. Diese Ehrlichkeit entwaffnet die Passanten. Sie spenden ihm grosse wie kleine Münzstücke. Nach zwei Stunden hat er zehn lokale Geldeinheiten geschnorrt. Zehn Geldeinheiten können einen Abend Alkohol finanzieren.

    Im nahen Supermarkt verjubelt er sein Geld. Alkohol! Kein Brot, keine Wurst. Bloss Alkohol. Er verweilt im grossen Stadtpark. Er beobachtet die jungen und schönen Mädchen. Sie kiffen, sie rauchen, sie trinken ebenfalls. Sie plauschen. Unser Bettler schweigt und sauft. Bald muss er einen Schlafplatz suchen. Bald muss er seine heutige Nacht bewältigen. Doch wo? Er muss noch nicht entscheiden. Er kann weitersaufen. Er möchte sich ertrinken. Doch die zehn Geldeinheiten genügen nicht. Er ist noch im Bewusstsein seiner selbst.

    Um 22:00 geistert durch die Stadt. Vor einem Einkaufszentrum stoppt er. Eine Fussmatte? Ja, in einem Seiteneingang für die Belegschaft. Dort installiert er seinen Schlafplatz. Er trägt stets alle seine Gegenstände bei sich. Eine Zeitung als Kissen, ein verdreckter Ledermantel, das Buch Haben oder Sein, Drehtabak, einige Pfandflaschen, ein Foto vergangener Tage. Leider ohne Rückfahrtticket. Ohne Ausweg. Das Buch stützt sein Zeitungskissen. Den Drehtabak versteckt er in der Unterhose. Das Foto im Mantel. Alles ist platziert.

    Endlich erwacht er nicht mehr. Ein privater Sicherheitsdienst entsorgt seine Leiche im Müll. Maden und Ratten zerfressen ihn. Sie führen ihn zurück. Sie beseitigen die Spuren seiner Existenz. Weder lokale Medien noch Angehörige werden informiert. Ein Einzelschicksal verlässt die Welt. Die Welt rotiert, dreht weiter. Die Welt interessiert sich nicht. Niemand interessiert sich. Die Abendnachrichten verlesen die Börsenkurse. Der SMI sank um 27 Punkte. Das folkloristische Format glanz & gloria verkündet die jüngste Scheidung.


  • Die grosse Sendung mit grossem Finale

    Der Protagonist verdingt sich als Drehbuchautor für eine im Hintergrund tätige Produktionsfirma. Diese Firma liefert diverse Formate für den national zweifelhaft berühmten Sender 3+. Dieser Sender hat scripted reality in der Schweiz popularisiert. Das war durchaus des Protagonisten Verdienst. Dies ist seine fiktionale Geschichte.

    Der Protagonist entstammt einer schweizerischen Provinz. Das Studium der klassischen Philologie unterbrach er für einen sogenannten Studentenjob. Das liebe Geld knechtete ihn. Er musste Drehbücher redigieren und inhaltlich ausdünnen. So wie eine fürsorgliche Coiffeuse das voluminöse Haar. Er musste kürzen, streichen und ersetzen. Fast wie Vierjahreswahlen.

    Erwartungsgemäss beseelte die Arbeit ihn nicht. Er verantwortete Vujos schlaksige Dialoge in dessen Bachelor-Debüt. Zuweilen unterstütze Vujo ihn unfreiwillig; er konnte seine Texte sich nicht merken und verdrehte, verhaspelte Buchstaben, Wörter wie ganze Sätze. Diese Situationskomik stärkte Vujos widerliche, aber durchaus fremdbeschämende Ausstrahlung.

    Die Quoten dankten und richteten. 3+ würdigte Vujo mit einer eigenen Format. Der Protagonist lieferte den Text, quasi die Botschaft des dürftigen Mediums. Doch das Spiel langweilte ihn rasch. Mittlerweile ist der Protagonist arriviert. Das abgebrochene Studium lastet nicht. Vielmehr, es rechtfertigt seinen Titel als creative director der Produktionsfirma.

    Als kreativer Chef einer Kreativindustrie ist unser Protagonist herausgefordert, mit immer neueren und wilderen Formate die Sinne des abgestumpften Publikums zu überreizen. Jedes weitere Sendejahr erschwert das unehre Unternehmen. Doch der Protagonist darf und kann nicht kapitulieren. Er muss ganz futuristisch handeln.

    Er hat das Steigerungsspiel der Moderne begriffen und verinnerlicht. Auch Begriffe wie Hyperrealität sind ihm vertraut. Sein nicht ausgewiesener humanistischer Bildungshintergrund mag helfen, kann aber nicht klären und kann auch seine kreative Krise nicht überwinden. Er muss also paktieren. Notfalls teuflisch, bestenfalls nihilistisch.

    Er zauderte keinen Moment, als ein neuartiges Format skizzierte. Dieses Format soll seine Karriere krönen. Sie soll sein Leben als unabhängiger Autor finanzieren. Er möchte sich damit endgültig freikaufen. Er möchte diese Medienszene verlassen, entfliehen. Er möchte nicht mehr mit den Blofelds Zürichs 25-jährige Social Media Verantwortliche belauern.

    Wie tief kann man eine Menschenwürde bemessen? Jeder Mensch nennt einen Preis. Doch welcher Preis ist der geringste? Das interessiert ihn. Das neue Format «Fünfzig Rappen» fokussiert diese Frage. Darin werden gewöhnlich-normale Menschen unangenehmen Alltagssituationen ausgesetzt. Also Situationen, die jedermann kennt.

    Einige Situationen sind harmlos; man muss allen Bettbekanntschaften anrufen und beichten, man habe Aids und habe sie infiziert. Das Publikum bestimmt den Preis. Je mehr Menschen bei einer überteuerten Automatenhotline anrufen, umso mehr sinkt der mögliche Verdienst des Teilnehmers. Andere Situationen sind hingegen bedeutend schwieriger.

    Der maximale Gesichtsverlust. Zum Beispiel muss der Teilnehmer seinen Eltern wie Grosseltern eine Frau als grosse Liebe vorstellen, die eine offensichtliche Transe ist. Oder der Teilnehmer muss seinen Job möglichst dramatisch und ohne Hintertüre kündigen. Oder er muss sich die Hose anpinkeln lassen und dann in einer hellen Szene-Bar Bier ordern.

    Unser Protagonist erweitert die Situationen beliebig. Persönliche Situationen inspirieren ihn, manche werden auch von begeisterten Zuschauern eingereicht. Das erleichtert ihn, weil verwirklicht das lukrative prosumer Prinzip. Das Format kann nicht erschöpft werden. Die Zuschauer definieren die Vergütung. Scheitern die Teilnehmer, verflüchtigt sich deren Guthaben.

    Unser Protagonist erlebt einige Jahre des ultimativen Erfolges. Man feiert ihn hinter der Bühne. Die Blofelds Zürichs hofieren, schmeicheln ihn. Er tanzt im Gonzo wie im Hive, trotz seines fortgeschrittenen Alters. Er zelebriert den reichen und doch sündigen Berufsjugendlichen. Koks und Nutten entzünden ihn.

    Medienjournalisten verurteilen ihn. Sie enthüllen die Ausschweifungen unseres Protagonisten. Sie moralisieren. Doch dadurch verehren ihn die Blofelds der Stadt umso mehr. Diese FDP wählende, aber für junge Werbeannatinas grün geschönte Hedonisten, die im Zynismus der Welt sich bequemen. Unser Protagonist bannt, verzaubert sie alle.

    Die Jahre des Exzesses haben keinen Kater hinterlassen. Er ist weiterhin jugendlich, frisch. Er kann mithalten. Sein Format erzielt weiterhin gute Quoten. Die Menschen lassen sich für einige Rappen demütigen. Sie ruinieren freiwillig ihre soliden Lebensläufe. Das sind keine Asoziale, die bereits verloren und in einer Parallelgesellschaft hausen.

    Es sind gesunde Menschen. Doch die grosse Gier nach Reichtum und sozialer Aufmerksamkeit motiviert sie. Mag sie noch so negativ sein, mag sie noch so einen zerstören. Die ebenso hungrigen Medien berichten über alle neuesten Situationen. Die grösste Steigerung unseres Protagonisten war der Amoklauf.

    Ein Teilnehmer konnte fünfhundert Franken mit einem Amoklauf häufen. Das Publikum empörte sich anfänglich. Doch die Neugier verführte sie alle. Welche Grenze kann das Format wirklich überschreiten? Wo endet oder beginnt die Realität? Die Neugier siegte. Schliesslich massakrierte der Teilnehmer Frauen und Kinder, unschuldige Beteiligte.

    Die Sendung bedauerte offiziell die Todesopfer. Sie organisierte ein Sondersetting, das die Psyche des Teilnehmers ergründete. Man pathologisierte. Der Teilnehmer sei seit jeher «krank» und «psychopathisch», so ein fingierter Psychologe. Die Sendung triggerte bloss. Doch das beruhigte die Öffentlichkeit nicht mehr.

    Unser Protagonist muss auf Titelseiten sein Format bereuen. Sein Vermögen musste er aufgrund der öffentlichen Meinung den Angehörigen der Opfer überweisen. Er war blank. Auch die Blofelds distanzierten sich. Er konnte nirgends mehr auswärts essen. Er wurde nirgends mehr bedient. Er war nun selber tot.

    Was blieb übrig? Sein Leben ist verpatzt.