• Herkunft Olten

    Meine Herkunft ist eigenartig. Olten ist in der Schweiz bekannt, doch nicht gerade für Schönheit und Urbanität. Olten fristet im Mittelland. Olten war jahrhundertelang ein Untertanenstädtchen des schön-fernen Solothurns. Erst die Industrialisierung und damit die SBB befreiten Olten. Seitdem hat sich Olten einigermassen “entwickelt”.

    Es ist eine mittelländische Kleinstadt. In Nachbarschaft liegen Zofingen, Langenthal und Aarau. Diese Städte konkurrieren stets. Sie sind alle innerhalb zehn Minuten Zugverkehr erreichbar. Aarau gleicht aber bereits Zürich West. Die Bars und Menschen orientieren sich nach Zürich. Zofingen harmoniert mit Luzern und Bern. Langenthal kennt nur Bern.

    Olten ist ein Kaff. Olten aber behindert einen nicht oder nie. Die Stadt ist grossgenug, dass man jahrzehntelang nebeneinander leben kann. Ich kenne weiterhin Menschen, die weiterhin in Olten wohnen, die ich aber nirgendwo treffe. Manchmal erstaunt mich diese Art der Fragmentierung. Bereits in Olten existieren Parallelgesellschaften.

    Gewiss können die Menschen hier einen erschrecken und ekeln. Wer den Bahnhof betritt, muss sich mitm Elend, was die Schweiz zu bieten hat, auseinandersetzen. Dieses Elend kann man zwar nicht mit deutschen Grossstädten mithalten. Dort, wo eine richtige Unterschicht sich ausbreitet. Aber für schweizerische Verhältnis dennoch beachtenswert.

    Unsere Oltner Literatur beschreibt schwierige Lebensläufe. Fragile, gescheiterte. Sie streben nach Glück, werden aber enttäuscht. Sie zerbrechen. Sie sind nicht geschult oder trainiert fürs Leben. Sie alle wollen das Kaff verlassen, wollen in die ferne Grossstadt auswandern. Sie alle fühlen sich erdrückt und beobachtet. Man kennt sich.

    Aber die Literatur dramatisiert. Sie überzeichnet. Die Lebenswirklichkeit in den mittelländischen Kleinstädten ist weitaus unaufgeregter. Olten ist ein solider Wohnort, die Mieten sind preiswert, das Angebot bemerkenswert. Die Kultur lebt. Die Randständigen sind gut versteckt. Die Ausländer hausen in Rankwog und Chalchofen und rauchen Shishas.

    Derzeit formiert sich eine Gruppe Bekannter. Ich habe kürzlich ihren Antrag auf politische Ernsthaftigkeit bezeugt. Diese Gruppe möchte demnächst kandidieren. Ihr Frontmann K. gastierte an den letzten Wahlen auf einer sozialistischen Freak-Liste. Er konnte immerhin weitaus mehr als zweitausend Stimmen mobilisieren. Beachtenswert.

    Oltens Ausgangslage ist nicht so trostlos wie oftmals bedauert. Ich möchte Olten nicht heiligsprechen. Olten kämpft mit gewissen issues. Doch die schlimmsten wie Drogenhandel und Prostitution konnten eingedämmt werden. Auch die Finanzkrise ist mittlerweile überwunden. Das vormals national bekannte Budget-Desaster ist weitgehend vergessen.

    Ich werde Oltens Schicksal gewiss weiterhin beobachten. Wenn auch aus der Ferne. Trotz alldem bin ich der Stadt verbunden und auch dankbar. Dankbar, dass sie mich stets aufgenommen hat. Dass sie mich niemals verurteilt oder ausgestossen hat. Olten ist eine geduldige und leidensfähige Mutter. Sie liebt alle.


  • Der Sumpf Oltens

    Ich stampfe im Sumpf, gewiss. Ich stamme aus Olten, diese beschauliche Kleinstadt, die momentan literarisch bescheint ist. Olten verkleinert mein Potential, weil Olten meinen Benchmark verfälscht. Weil ich mich nicht wirklich messen und vergleichen kann. Solange ich in Olten hause, werde niemals wissen können, ob ich wirklich so gut, so einzigartig und so unvergleichbar bin wie ich mich manchmal fühle.

    Ich brauche Konkurrenz. Nicht alle Männer wollen nach Olten konkurrieren, nicht alle tummeln sich im Coq d’or. Darüber schrieb ich bereits jüngst einen Beitrag. Das Thema beschäftigt mich dermassen, dass ich mich heute wiederholen möchte. Ich muss ausbrechen und hinaustreten. Ich muss mich messen und vergleichen können. Ich muss meine Wettbewerbsfähigkeit stählern können.

    Olten ist vermessen. Unsere Kleinstadt beherbergt einige Grüppchen. Wir zählen etliche Randständigen, die mir gut vertraut sind. Ich erhalte dort gewissen Strassenkredit. Das tröstet, wenn in den grossen Städten die dortigen Randständigen mich beglotzen-beargwöhnen. Wir besitzen in Olten auch eine kleine Yuppie-Szene. Diese ist aber nicht spektakulär; man arbeitet in den grossen Städten.

    Manche verdingen sich als Anwälte, andere als Wirtschaftsprüfer, einige als Ärzte, andere als App-Entwickler. Ich kann sie alle namentlich erwähnen, ich teilte Schule oder Frauen. Sporadisch auch eine wilde Nacht Oltens, wo wir uns gegenseitig befeuerten. Sie waren zu keinem Zeitpunkt klüger als ich. Sie werden mich auch nicht überholen können, obgleich ich viel mehr mich verausgabt-verschwendet habe.

    Daneben haben wir noch eine Kunstszene. R. und S. komponieren Stücke. K. schreibt. R. ist nach Bern ausgewandert; bewährt dort sich als Aktions- und Performancekünstler. Der gestalterische Künstler L. inspirierte kürzlich mich. K. und S. sprachwitzeln, ziemlich erfolgreich mittlerweile, vor allem K. Und ja, D. schauspielert, ebenfalls sehenswert. S. illustriert Wissenschaft. Diese Herren haben mich kunstmässig getoppt.

    Ich kann weder musizieren, schauspielern noch sprachwitzeln. Ich kann ein wenig über meine Befindlichkeit bloggen, für das privat geweihte Publikum. Ich kenne auch die Jungpolitiker oder politisch Engagierten. So arbeitet J. beispielsweise bei der UNO, C. amtet als Kantonsrat im fernen Solothurn. S. hat sich im Gemeindeparlament verewigt. Sie streuen von der Jungen Alternative bishin zur dumpfen SVP.

    Das war’s. Ich rivalisiere bloss mit den gleichaltrigen Männern. Da ich aber nicht mehr beanspruche, in allen Disziplinen zu dominieren, habe ich meine Energie fokussiert. In meinem Berufssprache nennt man das Vorgehen crossing the chasm. Ich muss einen Graben überwinden, um zu reüssieren. Ich kann irgendwie reüssieren, es ist gleichgültig mit welchem Produkt. Wichtig ist, dass ich reüssiere, impact und reach schaffe.

    Sobald ich einmal reüssiert habe, kann ich meine Tätigkeitsfelder ausweiten. Derzeit plane ich beruflich zu reüssieren. Danach investiere ich in Kunst. Ich möchte mit der Politik abschliessen. Um daraufhin mich zurückziehen zu können. Dieser grosse Plan unterscheidet mich. Diese grossen Ziele sind auszeichnend, weil kennzeichnend. Sie motorisieren mein Leben.

    Der Sumpf Oltens orientiert mich. Er vergewissert mir, dass ich mich und alle anderen Gleichaltrigen übertreffen kann. Er bewahrt mich vor Depressionen, wenn ich gelegentlich und im Kleinen scheitere. Aber er redimensioniert zugleich meine Ziele. Vermutlich sind weitaus grössere Ziele möglich. Aber niemand hat mich angespornt, niemand provoziert mich. Niemand kitzelt mich. Niemand hat mich herausgefordert.

    Ich quäle mich stets, ob mehr möglich sei. Ich hungere nach Leben. Ich bin entfesselt. Könnte ich noch mehr erzielen? Könnte ich noch mehr Gewinne heimbringen? Olten beengt meine Fantasie. Olten beschränkt aber auch meinen Grössenwahn. Wenn wirklich everything goes, was dann? Was würde eine grosse Weltstadt mit und in mir auslösen? Würde ich umherfransen, ausfransen, mich verzetteln und verlieren?

    Ich will es aber irgendwann genauer wissen.


  • Eine Nacht in Olten

    Olten, wo sonst feiert man? Wo sonst verausgaben sich alle Hungrigen? Ich möchte hiermit einen jungen Abend einigermassen rekonstruieren. Vermutlich dramatisiere ich. Die Mitwisser dürfen mich korrigieren oder mir einige Details nachreichen, die ich nicht mehr klarstellen kann. Also, Olten.

    Ich torkelte, schob mein Velo. Ich war bemüht, nicht zu stürzen. Ich aktivierte mich mit Disco-Funk. Bis S. mich überholte. Er flitzte den strengen Hang hinauf. Vermutlich euphorisiert. Frauen können einen wahrhaftig anfeuern, antreiben. Wenn ich verliebt bin, kann mich nichts bremsen, stoppen, aufhalten oder schwächen. Ich bin die und in Manie.

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    Also hat mich S. überholt. Wir versuchten den Abend zu rekapitulieren. Dort einige Brüste, die mich nicht interessierten. Hier eine geil-willige, für mich nicht empfängliche Achtzehnjährige. Ich kann mich nicht erinnern. Vermutlich war der monatliche Fruchtbarkeitszyklus wohlgesonnen, er vertröstete die alternden Männern Oltens.

    Ein offensichtlicher Frauenüberschuss motivierte verheiratete, ledige oder in Scheidung gequälte Männer. Ich habe mich mit der Gesellschaft von R. begnügt. Alkohol hat mich angetrieben. Ich habe grosszügig dosiert. Ich habe ausnahmsweise keine Lokalrunden spendiert, keine Muschishots verschüttet. Ich habe mich nicht verschuldet.

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    Ich startete mit Bier, bis ich nicht mehr Bier trinken konnte. Dann steigerte ich mich mit Gin Tonic. Als ich schliesslich so besoffen war, dass ich nicht mehr tanzen konnte, beschwipste ich mich wieder mit Bier. Ja, zwischendurch tanzte ich. Ich tanzte einen versoffenen Ausdruckstanz. Ich schwebte, wippte und hüpfte durch den verdunkelten Keller.

    Ich traf eine Halbcousine N. Ich habe höchstwahrscheinlich Peinliches gebeichtet. Vermutlich muss ich mich schämen. Aber wer mich kennt, weiss, dass ich nichts bereue. Ich telefoniere nächsten Tag nicht herum. Mein Drauf- und Doppelgängertum ist so offenkundig, dass es mir nicht einmal schaden würde, wenn alle Welt davon wüsste. Ich entschuldige mich nicht.

    Der untypische Frauenüberschuss hat meine Kollegen O. und S. herausgefordert. Wir versteckten uns im Raucherbereich. Dorthin verlaufen selten Frauen. Frauen sind eher im Tanzkeller oder im geselligen Aufenthaltsbereich des Lokals zu treffen. Im Raucher verstümmeln sich bloss die Lokalhelden, die einander vertrauten Berufsjugendlichen.

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    Bekanntlich flirte ich selten. Flirten kann zwar den Sinn, die Sprache und die Empathie schärfen. Denn ein Flirt ist wie ein Spiel, ist wie ein Training. So wie die Katze spielt, um in Form zu bleiben, für den Ernstfall, für die Entscheidungsschlacht sich zu rüsten. Aber ich spiele nicht, ich flirte nicht. Ich mag nicht üben, wenn ich stattdessen lieben kann.

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    Ich kann bloss trinken. Nichts kann mich aufhalten oder davon abhalten. Meine Kollegen verschwinden entweder oder flirten. Ich sitze dann dort und trinke. Ich mag nicht mit Frauen quatschen, die ich nicht kenne. Ich mag nicht erklären müssen, was ich arbeite. Ich vereinfache mich dann einfach als Alkoholiker, was auch nicht gelogen ist.

    Viel passiert ist nicht. Es war kein klassischer futuristischer Abend. Wir haben nichts zertrümmert oder zerstört. Aber es war ein anständiger Exzess. Ich habe kein Sozialkapital vernichtet. Ich bin nicht Amok gelaufen. Ich bin auch ruhiger geworden. Aber ich mag weiterhin, wenn ich anständig besoffen bin.


  • Meine erste Kommune Oltens

    Olten. Eine derzeit gerne beschriebene Stadt. Der Literarische Monat fokussiert in der aktuellen Ausgabe ausschliesslich Olten. Mein Kollege K. darf Oltens Status bestätigen. Auch L. schreibt einen weiteren Text über Olten. Bekanntlich stamme ich ebenfalls aus Olten. Das ist nicht zu überlesen. Heute dramatisiere ich eine Kommune Oltens. Viel Vergnügen.

    Vor mehr als dreizehn Jahren hat der Zufall einer Alten Aare Sause einige Menschen zusammengewürfelt. Der eine bestrebt, von der Wohnung seiner Mutter sich loszusagen. Der andere aufgefordert, endlich auszuziehen. Der eine, nennen wir ihn ehrlicherweise O., hat bereits recherchiert. Er werde morgen eine Wohnung besichtigen. Der andere?

    “Kann ich auch mitkommen?”, unterbrach ich jugendlich-unschuldig, weil naiv. Der Kollege hatte nichts einzuwenden. Wir verabredeten uns, wir inspizierten die Wohnung. Beste Lage, günstigster Preis. Im selben Haus hatte sich bereits die A. eingenistet, die grosse Schwester meiner späteren Freundin M.

    Irgendwie bin ich mit O. in dieser Wohnung gelandet. Der Umzug war meinerseits chaotisch und unstrukturiert. Ich zügelte hauptsächlich mit dem Bus. Das meiste Mobiliar beschaffte ich in der lokalen Brocki, deren Hauptkunde ich bald wurde. Wir improvisierten unsere 4-Zimmer-Wohnung gut und gemütlich.

    Wir waren cool. Wir waren Helden. Man beneidete unsere Wohnung. Den Alltag überbrückten wir mit Arbeit. Gelegenheitsarbeiten in den grossen Hallen des nahen Gäus. Manchmal haben sich unsere Schichten überschnitten. Wir trennten die Rollen; der eine arbeitete, der andere führte den bescheidenen Haushalt.

    Das Klo war meistens sauber, die Küche meistens geputzt. Der Salontisch im Wohnzimmer war nicht überstellt. Ich glaube, wir hatten sogar mal Staub gesaugt. Ob wir den knirschenden Holzboden jemals feucht aufgewischt haben, weiss ich nicht mehr. Vermutlich nicht, denn unser Sauberkeitsbedürfnis war noch nicht voll entwickelt.

    Nach einigen Monaten vergrösserten wir unsere Wohngemeinschaft. Die geschätzte A. ausm oberen Stock wechselte in die hippere Rosengasse. Diese 3-Zimmer-Wohnung besetzten weitere Kollegen. Im oberen Stock wohnten fortan zwei Frauen, L. und M. In unserem Stock drei Herren, O., B. und ich. Wir waren nun zu fünft.

    Diese beiden Wohnungen waren aneinander gekoppelt. Wir nutzten die Dusche im 2. Stock. Das Wohnzimmer installierten wir im 1., das Gemeinschaftsbüro im 2., die Küche im 1. Die beiden Wohnungen bildeten eine grosse Wohngemeinschaft; unsere Kommune, unsere erste Kommune. Denn sehr bald konzentrierten wir darin unseren Lebensmittelpunkt.

    Weitere Kollegen waren quasi permanente Gäste. M. war ein Untermieter in L. Zimmer. S. nächtigte vorzugsweise aufm grosszügigen Ledersofas O. In der besten Jahren duschten, assen, kackten und kifften sieben Leute in dieser Kommune gleichzeitig. Wir feierten gemeinsame Abendmahle, Spielrunden. Weitere Gäste besuchten uns stets.

    Ich kann mich nicht mehr an alle Sofa-Konzerte erinnern. Ich kann auch nicht mehr alle Videoclips auflisten, die beispielsweise unser Gast K. und ich in L. Zimmer drehten. Auch beflissenste deadheads musizierten in unserer Stube. Auch etliche Lokalpunks tranken Denner-Bier, so auch der schwarze R. oder der kleine Bruder von M.

    Wir änderten gefühlt jeden zweiten Monat die Zimmerbelegung. Irgendwann verliessen uns B. und M. Sie begründeten ihre eigene Verliebtpaar-Wohnung. Ich glaube, sie bewohnten fortan ein Häuschen mit einem Gärtchen an der weiterhin hippen Rosengasse. Die Mitbewohner fluktuierten. O. erkundete das ferne Nepal.

    L. war immer irgendwie hier, irgendwie auch nicht. Weitere Gäste sind eingezogen und wieder ausgezogen. Einmal R., der nun in Mannheim reüssiert. Einmal T., dessen Verbleib ich nicht mehr rekonstruieren kann, vermutlich weggesperrt. Und einmal P., der kleine Bruder eines Lokalpunkes. Bis zu dessen Gefangennahme in M.

    Hunde wie Ratten hausten gleichermassen, aber nicht gleichberechtigt. Die erste Ratte verschlang unsere friedliche Hausmaus, die uns nicht störte. Wir mussten die böse Ratte zu Dritt einfangen und sie am Aareufer entsorgen. Die Lokalpunks überwinterten. Sie teilten sich Sofa und Boden. Ihre Hunde belagerten das Treppenhaus.

    S. hatte mir später eine Art Büro finanziert. Dorthin habe ich mich verkrochen. Ich las und schrieb dort. Mein Arbeitsplatz war eine Müllhalde. Ich trank damals Redbull-Cola. Jede Dose war ein Aschenbecher. S. wohnte mit seiner damaligen Freundin nebenan. Wir grüssten uns täglich. Das war im 2. Stock. Der 1. Stock war von Lokalpunks belegt.

    Mein Schlafzimmer war weiterhin im 1. Stock, begehbar durch die Küche. Meine Küche desinfizierte ich bei Frauenbesuch. Alle zwei Wochen wollte mich eine oder eine neue treffen. Ohne Frauen wären meine Küche und mein Zimmer wohl vergammelt. Denn die Tauben haben bereits unseren Balkon verdreckt-verschissen.

    Irgendwann besserten sich meine Lebensumstände. Ich war nicht mehr arm, asketisch und in mich gekehrt. Ich war wieder regelmässiger lohnabhängig, extrovertiert, hungrig und durstig. Diese heruntergekommene Kommune passte nicht mehr. Denn auch S. flüchtete. Die Lokalpunks haben sich ausgebreitet. Die Fenster waren teils bereits zertrümmert.

    Ich musste also meine Situation verändern. Ich vermachte dem Lokalpunk P. meine Hammond-Orgel, Schätzwert mehrere tausend Franken, in den 60er produziert. Diese sollte alle Ansprüche der Verwaltung decken. Ob und wem er sie schlussendlich veräusserte, weiss ich nicht. Denn daraufhin habe ich die Kommune verlassen.

    Wir haben keine ordentliche Übergabe oder Abnahme organisiert. Ich habe mein Mobiliar auch grösstenteils den Lokalpunks verschenkt. Einzug und Abzug waren gleichermassen chaotisch. Ich war seither nie mehr dort. Wer heute diese Liegenschaft belegt, weiss ich nicht. Vermutlich zelebriert eine jüngere Generation das frohe und gute Leben Oltens. Und so soll es auch sein.

    Leider besitze ich keinen Bildbeweis dieser Kommune.


  • Die Singles Oltens

    In Olten konzentriert sich keine Szene gepflegter und wilder Singles. Wir bedauern die Ledigen. Die begehrenswerten Singles sind allesamt ausgewandert. Eine üppige R. feiert als letzte das Singleleben. Sie wohnt im nahen H., ein arrivierter Vorort Oltens, leider bereits im Bezirk Gäu. Eine wilde A. ertränkt sich in Alkohol. Und eine C. verzweifelt. Das sind die einzigen mir bekannten weiblichen Singles meines Alters.

    Das erklärt die Enge Oltens, wenn man alle Singles beim Namen auflisten kann. Hier kann man ausschliessen, dem Partner des Lebens in einem Terminus zufällig zu begegnen. Etliche haben ihre grossen Beziehungen beendet, sie konkurrieren wieder aufm Sexmarkt. Solche Singles aktualisieren nicht ihren Facebook Beziehungsstatus. Weil sie sich schnellstmöglich wieder verlieben und binden wollen und auch können.

    Im Galicia verelenden die älteren Frauen. Sie vereinsamen dort gemeinsam. Sie flirten mit den jüngeren Herren, die gelegentlich dorthin sich verirren. Sie haben die Familienplanung abgeschlossen. Man hat bereits deren Töchtern flachgelegt, mindestens mal besoffen geknutscht. Und darf nun die von Alkohol zersetzte Mutter kennenlernen. Das sind keine Singles im klassischen Sinne; sie wollen sich nicht mehr paaren.

    Im Vario versteckt sich die Generation Golf. Sie hauert auf der Sitzbank, schlürft Weisswein. Die weiblichen Singles beklagen ihren unfreiwilligen Beziehungsstatus. Sie haben in eine ernsthafte Beziehung investiert. Doch vergebens. Die Beziehung scheiterte. Man hat sich entfremdet, auseinandergelebt. Man hat sich über die Familienplanung nicht geeinigt. Man hatte sich mit überhöhten Anforderungen überfordert.

    Im Coq d’or schliesslich vergnügt sich die junge Generation. Sie meistert die Reifeprüfung, sie studiert das erste Mal in einer fernen Grossstadt, sie verdient das erste Geld. Sie finden sich im Leben. Sie wollen leben, sind hungrig. Doch sie zaudern ebenso. Denn sie leben sowohl in Olten wie auch in einer fernen Grossstadt. Sie bewegen sich auf unterschiedlichen Märkten. Olten ist der sichere Heimathafen, wo sie zurückkehren können.

    In Olten aber verliebt man sich nicht. In Olten lernt man sich nicht kennen. In Olten kann man sich zurückziehen. In Olten verliebt sich bloss, wer im Terminus tanzt. Doch das dortige Angebot verjüngt sich aus meiner Perspektive jährlich. Es sind die sehnige KV-Angestellte, dumpfe Detailhandelsassistentinnen, die dort sich betrinken. Sie knutschen bereitwillig. Die Sehnsucht motiviert sie; Torschlusspanik, Mann mit Job ist das Ideal.

    Als Single in Olten überlebt man nicht lange. Sowohl als männlicher wie auch als weiblicher. Man muss irgendwo eine ferne Grossstadt aufsuchen. Wo die Berufsjugendlichen leben. Wo man mit Gleichaltrigen einen Montag bewusstlos schlagen kann. Ab dreissig hat man endlich das Geld, den Style, den Erfolg und die Erfahrung, mit dem anderen Geschlecht sich richtig verständigen zu können. Man ist endlich abgestumpft und abgeklärt genug.

    Man kann das NEON konsultieren, mit Freunden am Katerfrühstück in selbstgebastelten Bars die gestrigen Bekanntschaften rezensieren. Man kann sonntags Tatort auf Twitter streamen. Man kann mittwochs das Bergfest anstossen. Man kann donnerstags die lokale Club-Kultur würdigen. Man kann freitags mit Freundinnen beim Asiaten speisen. Man kann samstags im Kaffee den Barista anseufzen.

    Also flüchte, wer sich verlieben und binden möchte. Man kann mit 35 wieder heimkehren, heim ins Reich. Man kann sich am Waldrand Oltens niederlassen, ein Haus ersteigern oder erbauen. Man kann dann im Salmen wie in der Schlosserei den Abend geniessen. Man kann im Stadttheater kleinstädtische Kunst erfahren. Man kann die gemeinsamen Kinder im Robi-Spielplatz versorgen. Man kann irgendwie als Paar fristen.


  • Das gute Leben in Olten

    Wir haben in Olten einige Literaten. Alex Capus ist der wohl bekannteste und vor allem erfolgreichste. Er schreibt für den Markt. Sein neustes Werk habe ich beschafft und bereits gelesen. Das Leben ist gut. Willkommen bei meiner Rezension. Die NZZaS hat’s bereits getan. Der Tagesanzeiger ebenfalls

    Ja, das Leben ist gut. Capus beschreibt darin seinen “Alltag”. Die Geschichten basieren grösstenteils auf, weil sind in seiner Bar. Seine Bar, die ich auch regelmässig besuche, versammelt unterschiedliche Geschichten. Auch ich wünsche mir eine Bar. Ich werde irgendwann eine Bar besitzen. Vorerst begnüge ich mich mit Capus’ Bar und jener des von mir sehr geschätzten K.

    Denn so eine Bar füllt unendliche Geschichten. Sie erzählt wirklich ausm Alltag. Denn eine Bar, vor allem wenn’s Capus’ Bar ist, lockt und verführt unterschiedliche Gestalten. Auch mich. Ich beneide ihn gewissermassen. Darin begründe ich auch meine latente Abneigung. Aber grundsätzlich respektiere ich ihn, ich anerkenne ihn. Und das gipfelt auch in dieser persönlichen Rezension. Also.

    Hauptsächlich schildert Capus “bloss” sein Leben. Die Geschichten darin sind wohl grösstenteils wahr. Sie sind zwar sicherlich ausgeschmückt, übertrieben, dramatisiert, verschönert. Doch ich vermute, Capus’ Autobiographie hat das Buch schlussendlich produziert. Er verdichtet darin die Monaten, seit er eine und seine Bar betreibt. Denn einen klassischen Plot vermisst man.

    Die Sehnsucht oder die Beziehung mit seiner fernen Frau umrahmt grob das Werk. Den Rest füllen Kleingeschichten, Kleinschicksale Oltens. Diese Kleinstadt, wo ich und Capus gleichermassen aufgewachsen und irgendwie doch heimisch sind. Weil wir, so Capus, nie genötigt waren, fortziehen, fortgehen zu müssen. Oltner werden denn auch dieses Buch lieben, weil sie mutmassen, tratschen und rätseln dürfen, wer wen inspirierte. Capus kann dann grosszügig verkünden, alles sei erlogen, erfunden, erstunken und so worden.

    Gewiss ist’s ein Werk eines fleissigen Literaten. Es ist eine Art Gegenwartsbewältigung. Capus schreibt, damit er weiss, wo er in der Welt steht. Gegenwartsbewältigung. Nebenbei verdient er Geld. Wir dürfen darin keine ewigen Weisheiten vermuten; er schreibt für sich selber. Aber er lässt teilhaben. Er verpackt Geschichten; er komprimiert sie, damit sie lesbar sind. Das ist sein grosses Geschick. Und das ist schliesslich der oft erwähnte und auch bewunderte Capus-Stil.

    Ich gewinne aber keine neuen Erkenntnisse. Capus verarbeitet nicht sein Leben. Er schildert bloss, er beschreibt. Dieser Stil ist aber angenehm; er belehrt nicht, er hinterfragt nicht. Manchmal kann man ihn als Romantiker verübeln. Wenn er beispielsweise immer wiederholen muss, er besitze kein Natel. Er ist kein Futurist; er liebt nicht die Beschleunigung. Er liebt das Beständige. Er trotzt und leistet Widerstand. Das besänftigt mich dennoch, weil’s ihn menschlich und fehlbar macht.

    Das Buch liest sich schnell und gut. Die Sätze sind kurz. Zwischendurch erheitern einen Dialoge. Immer wieder offenbart er romantische Zivilisationskritik, die aber immer wieder berechtigt ist und wohl alle berührt. Als Gelehrter der Produktentwicklung spekuliere ich, er schreibe für eine Zielgruppe. Seine Zielgruppe jubelt; sie sucht diese Passagen der romantischen Zivilisationskritik. Capus verkörpert die Sehnsüchte älterer Frauen; er ist Mann, durchaus, offenkundig romantisch. Seine Frau wird’s wohl danken.

    Der Roman entspannt und beruhigt. Er hatte mich mit der Person dahinter, mit Capus selber, befriedet und versöhnt. Aber ich erwarte mehr. Es ist noch nicht sein finales Alterswerk, das alles vereint. Dafür ist’s noch zu früh. Also warten wir. Also warte ich. Ich danke ihm dennoch.


  • Wofür bin ich dankbar?

    Ich habe mich längst mit etlichen Privilegien arriviert. Meine übliche Wohnsituation, die besonderen Umständen derzeit ausgenommen, ist sehr komfortabel. Ich habe alles, was man zum gediegenen Leben benötigt. Gewiss wäre noch Eigentum erstrebenswert, aber das ist mit der jetzigen Einkommenssituation nicht zu finanzieren. Ich habe Tumbler, Abwaschmaschine, eine begehbare Dusche, eine Badewanne, technisch genügend Stauraum, einen grosszügigen und schattigen Balkon mit direktem Blick auf die A2 und Wohnateliers der lokalen Berufskünstler. Das ist alles sehr angenehm. 

    Zudem habe ich eine wunderbare Tochter, die hauptsächlich mich anstrahlt und – obwohl sie spezielle Bedürfnis hat – eigentlich ziemlich bedürfnisarm ist. Sie braucht Aufmerksamkeit, Nähe und ihre Esswaren – fertig. Natürlich erfordert sie Pflege, aber sie ist dankbar und vor allem mit mir gnädig. Man kann sich kaum eine bessere Tochter vorstellen. Natürlich vermisse ich auch das normale Familienleben, aber das ist ohnehin vergebens und bloss eine Illusion der Kinder, dass sowas überhaupt funktioniere und Glück verspreche. Ich kann echt nicht klagen.

    Ich bin sogar sozial einigermassen eingebunden, ich bin Teil einer kleinen Bewegung Oltens. Wir sind unbedeutend und ohne jeglichen sozialen Einfluss. Wir bespassen vor allem uns selber. Das ist okay. Der Zusammenhalt existiert, auch wenn die Exponenten verteilt und persönlich mannigfaltig herausgefordert sind. Wir können uns aufeinander verlassen – lediglich IT-Support bieten wir kaum, weil einige besser mit Computer als mit Menschen umgehen können, vermutlich auch ich. Man könnte in meinem Alter auch bereits vollends vereinsamt sein. Ich bin es nicht. Ein Jugendfreund wohnt sogar ebenfalls in Basel, wir treffen uns sporadisch und unternehmen Gemeinsames.

    Meine Arbeit ist natürlich auch sehr aussergewöhnlich. Ich bin sehr flexibel, auch wenn meine Arbeit kaum planbar ist. Ich weiss selten, was mich morgen erwartet. Ich kann mich bloss einige Minuten vorbereiten. Ich muss stets improvisieren, bin ständig in einem neuen Kontext unterwegs. Ich lerne, zeitgleich vermittle ich Wissen und Erfahrung, ich kann wirklich helfen. Ich befeuere und befreie Organisationen. Ich arbeite auftragsbezogen. Alle Aufträge sind terminiert. Sie sind endlich. Ich kann mich stets notfalls abgrenzen, weil ich ausserhalb des Systems schwirre. Ich bin selten Teil des Problems, sondern ich bin die Lösung. Ich agiere gelegentlich als Diva. Ich regle meine Arbeitszeiten selber. Ich bin nicht auskunftsfähig über mein Feriensaldo. Ich walte mit “Gefühl”. Manchmal verstecke ich mich seit Corona im Homeoffice, ich trete bloss virtuell an. Ich sitze in Badehosen in meinem klimatisierten Homeoffice, ich esse Burger mittags, spaziere morgens und abends. Weil ich kann und will. Ich bin gleichzeitig abhängig und unabhängig. Ich weiss, dass die wenigsten Menschen so arbeiten können. Mein Einkommen dabei ist bemessen, wer es nachfragt. Und alles ist legal und ich kann es auch moralisch vertreten. 

    Auch mein Körper und ich sind okay. Mein Körper ist für Burger und Cordon Bleu optimiert, Weissbier verträgt er auch sehr gut. Ich putsche mich mit Redbull und Zigaretten. Vermutlich lebe ich ungesund, ich erhalte die Rechnung dereinst. Aber ich fühle mich nicht wie 37. Ich konnte zwar den Zerfall einer ehemals lebenshungrigen Frau beobachten, die aber sturr und trotzig alle Anzeichen der natürlichen Alterung ignorierte und kaschierte, sofern möglich – dennoch ist mein Zustand trotz körperlichen Schulden einigermassen vertretbar. Ich habe seit einigen Wochen etwas zu bemängeln, mein rechtes Auge zuckt gelegentlich. Ich vermute, dass ich insgeheim sehr gestresst bin, was sich auch in meiner privaten Wohnungssituation zeigt. Ich spekuliere, dass sich das rechte Auge bald beruhigt, als ich endlich meine Wohnung eigen heissen kann. Ansonsten starten Abklärungen, die oftmals Psychosomatisches diagnostizieren. Hierfür kann ich mich dankbar schätzen. Natürlich weiss ich auch um meine “Baustellen”; Rücken, Computer-Hände, mangelnde Bewegung. Eventuell kann ich mit einer aktiven Sexualität einiges kompensieren. Vermutlich nicht, aber sicherlich hinauszögern.

    Ich kann also sehr gut dankbarst sein. Dessen bin ich mir bewusst, auch wenn diese Leiden hier häufig dramatisiert sind. Danke für alles.


  • Im Theater

    Kürzlich besuchte ich eine lokale Aufführung. Ich bin sehr selten im Theater. Ich kann nicht zwei Stunden mich fokussieren, was nicht mich begeistert oder einnimmt. Ich nenne das auch Arbeit, wo ich ebenfalls mich zwingen muss, Interesse zu heucheln. Jedenfalls sah ich die letzte Aufführung Was geschah mit Daisy Duck der kleinen Bühne Basels. 

    Glücklicherweise kannte ich niemanden. In Olten unmöglich. So musste ich keine Konversationen vor oder nach der Aufführung leisten. Die kleinste Grossstadt Basel schenkt mir gewisse Anonymität und dadurch Unbeschwertheit – gleichzeitig auch Einsamkeit, die mich sozial verwahrlosen lässt. 

    Der Platz auf der Tribüne war diskret gewählt. So konnte ich mindestens einmal meine Schulmädchenblase leeren, ohne das Publikum stören zu müssen. Den zweistündigen Nikotinentzug meistere ich problemlos, schliesslich schlafe ich auch nichtrauchend. Soviel zum persönlichen Rahmen.

    Das Publikum teilte sich zwischen interessierten Schülerinnen der Gymnasien Kirschgarten und Münsterplatz und alten Männern sowie Freunde der lokal integrierten Schauspielern. Vermutlich haben sich einige auch bloss verirrt, waren zufällig und ohne rechte Absichten zugegen. 

    Das Stück sollte unterhalten. Ich glaube, es war eine Komödie. Oder doch eine Tragödie? Ich bin verunsichert. Gemäss Programmheft durfte ich “eine kritische Auseinandersetzung mit Hollywood-Träumen, Daisy & Co” erwarten. Die fehlte jedoch, in energischen Monologen der Schauspielern rutschen zwei-drei Referenzen durch. 

    Vermutlich hatte ich einfach zu hohe Erwartungen. Vermutlich habe ich eine lustige Dialektik der Aufklärung erwartet; dass das Stück die Gegenwart entschlüsselt mithilfe Entenhausens Gleichnissen. Weil diese Comics kenne ich selber, das wäre ein noch zu bergender Schatz voller Gesellschaftskritik und Ironie und vermutlich auch Spass. 

    Die Schauspieler kompensierten. Vermutlich haben sie gut geschauspielert. Ich kann das handwerklich nicht beurteilen, weil ist eben ein Schauspiel. Sie waren wirklich allesamt bemüht, das leere Stück irgendwie zu füllen. Sie folgen ja bloss Anweisungen, daher kann man ihnen nichts vorwerfen. 

    Würde ich dieses Stück einem Freund empfehlen? Leider nicht. Andererseits sind zwei Stunden vergeudete Lebenszeit nicht wirklich erwähnenswert, weil wir bereits anderswo und anderweitig weitaus mehr Zeit verschwenden; sei es in toxischen Beziehungen, in lustlosen und sinnlosen Jobs oder schlichtweg im Stau. 

    Daher ist ein Besuch nichts Falsches. Glücklicherweise wird das Stück nicht mehr aufgeführt, so erübrigt sich die Frage. Und damit ist auch der Wert dieser Besprechung hier fraglich.


  • Mit Gelassenheit

    Eventuell habe ich meine Mikrodosen an Eskapismus der ununterbrochenen Programmierung überstrapaziert. Derweil die Pandemie längst historisch ist, weil alle Menschen hierzulande nicht im Home-Office vereinsamen können oder zwanghaft verreisen müssen, habe ich sie genutzt, um mich zurückzuziehen, um der Welt zunehmend mich zu entfremden.

    Leider muss ich wieder zurückkehren. Zaghaft resozialisiere ich mich. Ich treffe mich in Olten mit Gleichgesinnten. Die politischen Debatten verweigere ich weiterhin. Kommunal wähle ich bloss plusminus gleichaltrige Frauen des Aussehens wegen. Die Vorstellung, dass eine geile Mieze, die höchstwahrscheinlich sexuell aktiv ist, den Stadtstaat regiert, ist eine anregende.

    Föderal sind einige Abstimmungen pendent. Sie sind allesamt uninteressiert, sie betreffen nicht meinen politischen Kern. Daher ignoriere ich sie. In Whatsapp- oder Threema-Gruppen versuchen mich Mitmenschen aufzuklären. Ich erwidere jeweils mit einem angemessenen Emotion. 

    Die westliche Zivilisation ist weiterhin stabil. Die EU existiert, die NATO ebenfalls. Natürlich provozieren die Herausforderer. China, Russland, manchmal sogar der Irre am Bosporus. Das beunruhigt mich nicht. Ich habe die Planspiele Denkfabriken konsultiert, wie hoch die wirtschaftlichen, menschlichen und moralischen Verluste wegen eines konventionellen Taiwan-Konflikts ausfallen könnten.

    Das alles beunruhigt mich nicht. Wir erleben eine typische Transformation. Die Geschichte ist längst nicht aufgehoben. Hier eine mutmassliche zurückfallende Supermacht, die aber unbeirrt einen ganzen Kontinenten beherrscht, wo Einzelne unterdessen den Mars kolonisieren oder die Welt digitalisieren wollen. Dort ein gealtertes Europa, das innerhalb der Blauen Banane weiterhin dynamisch und pulsierend ist. 

    Dazwischen eine Schweiz. Als Kleinstaat sind wir der Geschichte ausgeliefert. Während einer globalen Transformation isolieren wir uns. Emotional mit dem Reiheneinfamilienhaus im dritten Agglomerationsring Zürichs, politisch mit Scheindebatten, ob der unschuldige Berset heimlich eine Corona-Diktatur installiert habe oder ob Pestizide Babys vergiften könnten. 

    Ich bin überzeugt, dass die Transformation glücken mag. Ich favorisiere weiterhin den Endzustand einer globalen Föderation. Ein geeinter Planet. Einheitliche Forschung, soziale Wohlfahrt, Lebensmittelversorgung; kluge und nachhaltige Ausbeutung der regenerativen natürlichen Ressourcen und freilich eine friedliche Erkundigung Sonnensystems. 

    Der Weg dorthin ist beschwerlich. Und gewisse Rückschritte muss man verkraften. Die letzte US-Administration war beispielhaft, dass die Menschheitsentwicklung nicht linear ist. Selbstredend vermute ich noch einen grösseren Krieg, der schliesslich uns befähigt, nicht bloss den Nationalstaat oder halbherzig die EU als grössere Identifikationsnenner zu akzeptieren, sondern auch den gesamten Planeten.

    Bis dahin werden noch einige Krisen, Pandemien und Kriege wüten. Sie werden versuchen uns zu entmutigen. Ich empfehle Gelassenheit. Und natürlich eine nette Aussicht. Dank Internetz ist es möglich, jede Krise, jede Administration, jedes Scharmützel irgendwo auf der Welt in Echtzeit zu geniessen. 


  • Warum ich apolitisch bin

    Ich lebe bekanntlich in einem politisierten Stadt-Kanton. Hier ist alles politisch. Wer nicht Velo fährt, ist sofort verurteilt. Wer nicht lokal einkauft, ist geschmäht. Wer samstags nicht dreissig Minuten auf einen miesen Cappuccino am Matthäusmarkt wartet, verneint die Konzernverantwortungsinitiative, die hier offenbar ziemlich beliebt ist. 

    Ungeachtet dessen bin ich apolitisch. Ich war bereits in Olten apolitisch. In Olten war mein Apolitismus akzeptiert; Olten ist eine abgehängte Randregion, nicht privilegiert, unterentwickelt, mit einem hohen kantonalen und kommunalen Steuersatz. Ausländer, Asoziale und Arbeitslose bevölkern die Stadt und erzeugen eine sanfte Gleichmut. 

    Apolitisch bin ich, weil mich die federale Tagespolitik nicht interessiert. Ich kann mich knapp über die kantonalen Herausforderungen informieren. Eine Trinkgeld-Initiative ist pendent, die Frage, ob ein mehr oder weniger privates Konsortium ein weiteres Hafenbecken ausheben soll, ebenfalls – sowie erneute Regierungsratswahlen.

    Ich bin politisch sehr reduziert. Ich befürworte eine Art Grundeinkommen, ein bedingungsloser EU- und NATO-Beitritt sowie alle Initiativen, die eine Weltföderation verwirklichen wollen. Alle anderen Diskussionen in der Politik sind für mich irrelevant und unwesentlich, weil keine Dekomposition auf meine Ziele möglich. 

    Natürlich muss ich deswegen manche Mitmenschen enttäuschen. Glücklicherweise ist mein Umfeld ebenfalls nicht grossartig politisiert. Man diskutiert gelegentlich über bevorstehende Wahlen, bereits legitime Ergebnisse oder vage Prognosen. Die Diskussionen sind manchmal leidenschaftlich – aber bloss der Diskussion willen.

    Ich diskutiere aber nicht gerne, damit diskutiert ist. Vor allem nicht über Politik. Ich verfolge grosse Ziele, die nicht mit Tagespolitik umgesetzt oder annähernd angenähert werden können. Dadurch kann ich mich distanzieren und muss nicht allzu profan und gewöhnlich diskutieren. Ich kann Diskussionen bequem quittieren damit, dass sie irrelevant sind.

    Eventuell wird mich irgendwann jemand für Tagespolitik oder Lokalpolitik begeistern. Vorläufig bin ich aber nicht zu begeistern. Ich beobachte das Politische mit Desinteresse. Ich könnte für eine Art Tausch notfalls mich engagieren; Sex gegen Politik. Wenn jemand mir regelmässigen Sex verspricht, könnte ich sicherlich Politik simulieren.