• Das Los der vielen Begabungen, Optionen und Möglichkeiten

    Ich bin multibegabt. Ich kann vieles, ich kann einiges. Ich hätte viele Optionen veräussern können. Ich habe Potentiale. Diverse. Doch das ist gleichsam eine Bürde. Eine grosse Verantwortung. Denn die zu schultern erdrückt, bedrückt mich zuweilen. Denn ich bedauere manchmal einiges.

    Ich könnte bereits eine Familie haben, ich könnte Kinder mit einer Frau gezeugt haben. Ich könnte einen Mercedes fahren. Ich könnte in einem freistehenden Einfamilienhaus übernachten. Ich könnte einen Garten unterhalten. Ich könnte ein normales Leben führen. Doch ebenso könnte ich ein teuflischer Künstler sein. Ich könnte Massen verführen.

    Ich könnte auch Politiker sein. Ich war mal sehr engagiert. Ich versuchte Jugendliche für die Politik zu begeistern. Ich lockte sie mit dem Versprechen eines H&M in Olten. Ich besuchte die berüchtigte Oberschule Oltens am Froheim. Ich war motiviert. Ich wollte die schöpferische Kraft der Politik vermitteln.

    Doch ebensogut könnte ich ein erfolgreicher Architekt sein. Der Avantgarde entwirft. Der im Hochparterre publiziert. Den davetower verwirklicht. Ja, ich war mal bestrebt. Aber ich könnte geradesogut Fondsmanager sein. Ich könnte meine «Familien» auf allen Kontinenten ernähren.

    Ich hätte sogar sportlich mich betätigen können. Ich hätte auch in Oltens Unterwelt absteigen können. Ich hätte aber auch bloss Germanistik und Philosophie studieren können. Ich hätte auch ein exzentrischer Partyveranstalter werden können. Alle Möglichkeiten, alle Potentiale hatte ich. Ich habe sie noch immer. Aber sie sind verwirkt.

    Und das bedrückt mich zuweilen. Was bin ich geworden? In der Not ein windiger Unternehmensberater. Das durchaus. Aber naja. Ich stand zeitlang auch kurz vorm relativen Durchbruch als Schreiberling. Als depressiver Autor Oltens. Bevor K. und Konsorten überhaupt jemals ans Schreiben dachten.

    Wenn man diese Möglichkeiten und Optionen hat, muss man sich immer wieder mässigen. Man muss sich immer wieder beruhigen, dass zwar everything goes, aber in Wirklichkeit überhaupt nichts geht. Dass man sich bloss hier und da weiterentwickelt, einwenig weiterlernt. Aber schlussendlich immer bloss bejammert, was man verpasst hat.

    Ich habe vieles verpasst. Viele glückliche Hände verspielt. In allen Bereichen. In der Liebe, privat oder beruflich. Ich kann auf ein volles Leben des Scheitern zurückblicken. Ich bin zwar gewachsen und einigermassen lebenserfahren. Dennoch bin ich unglücklich und ausgelaugt. Ich sehne mich nach Ruhe und Einfachheit, nach keinen Optionen mehr.


  • Der schicke Deutsche

    Ich liebe deutsche Männer. Sexuell natürlich nicht. Sexuell bin ich klassisch. Ich bevorzuge Frauen, die schweizerdeutsch sprechen können. Egal welchen Dialekt. Ich mag die deutsche Sprache. Ich mag den schicken Seitenscheitel. Ich mag das üppige Haar, den vollen Bart. Ich bewundere die Zielstrebigkeit und klassisch deutsche humanistische Bildung.

    Ein guter Deutscher nämlich kann spontan einen Dichter zitieren. Sei es Goethe, Hesse oder Kleist. Er kann’s, weil’s seine Muttersprache ist. Und weil seine deutsche Bildung ihn befähigt. Ich bin dann jeweils erstarrt und bewundere, bewundere ihn. Ich mag die Deutsche meines Jahrgangs. Ich mag München, Hamburg wie Düsseldorf. Ich mag sogar Berliner. Ich mag sie alle.

    Ich bin nicht homoerotisch, aber ich erkenne, wann ein Mann «perfekt» ist. Wenn er surft, wenn er sich für fremde Länder interessiert, wenn er wissbegierig ist. Dann weiss ich, er macht alles richtig und gut. Und wenn er in der Schweiz lebt, bin ich froh, dass er bei uns ist. Und damit unsere Volkswirtschaft stärkt. Unsere Frauen beglückt. Unseren Genpool vervielfältigt.

    Natürlich könnte ich ihn ebensogut beneiden. Denn ich habe keine klassisch deutsche humanistische Bildung. Ich wirke verlebt, nicht mehr ganz so frisch. Ich habe keine exklusiven und extremen Hobbys. Ich bin zwar auch irgendwie zielstrebig und fleissig, doch im Grunde einer grosser Minimalist, der bloss all-in geht; manchmal viel gewinnt und viel verliert.

    Daher danke ich heute allen gutaussehenden und erfolgreichen Deutschen, die in der Schweiz leben. Ihr erinnert mich, dass man auch anders sein könnte. Ihr macht für mich die Vielfalt der DACH-Region erlebbar. Weiter so! Doch Vorsicht, ich hoffe, Deutschland verkümmert nicht. Deutschland verliert nicht den Anschluss. Wenn die Coolsten, Schönsten und Gescheitesten bei uns gedeihen wollen.


  • Schule befreit

    Ich liebe meine Weiterbildung. Ich liebe sie wirklich. Es ist wie ein Frauentausch. Ich tausche mein Leben gegen ein anderes. Ich bin beliebt, ich werde anerkennt, bewundert. Man überhöht mich zuweilen. Man attestiert mir Talente und Kompetenzen. Meine Wirkung auf fremde Menschen ist ziemlich beeindruckend. Ich kann gut beeindrucken. Ich kann gut auftrumpfen. Ich kann gut spielen. Ich kann sogar charismatisch sein. Vermutlich bin ich einfach wohl charismatisch. Der Bericht. 

    DBE-Benuetzen-sie-mich

    Meiner Rolle als Unbändiger würde ich heute mehr als gerecht-entsprechend. Ich habe meine Abschlusspräsentation absichtlich versaut. Dies bloss, weil ich konnte. Die schriftliche Arbeit habe ich ausgezeichnet abgeschlossen. Mir fehlten bloss noch zwei «Punkte», damit ich ein weiteres Zertifikat erlangen kann. Ich habe meine Abschlusspräsentation nicht vorbereitet, nichts geübt. Nicht einmal das Thema habe ich eingegrenzt. Ich hatte heute vormittags meinen Themen dreimal revidiert.

    Die Prüfungsexpertin war irritiert. Seit zehn Jahren nehme sie Prüfungen ab, eidgenössische und so. Wirklich wichtige Anlässe, wo man im Anzug und so auftreten solle. Ich war mit Adiletten, kurzen weissen Hosen, mit einem erotisch aufgeknöpften Hemd. Und ich hatte keinen Plan. Meine Kollegen applaudierten, sie kannten mich. Ein Verdikt eines Kollegen behauptete, ich sei im Unterricht masslos unterfordert gewesen. Vermutlich ja, ich habe etwas in dieser Hinsicht angedeutet, aber wollte niemanden beleidigen.

    DBE-Fahrstuhl-Selfie

    Die Prüfungsexpertin tat sich schwer, mich zu bewerten. Sie klammerte sich an ihrem Bewertungsbogen. Sie bemängelte dies und das; formal alles gerechtfertigt. Der grosse Mangel war, dass ich nicht abschliessend präsentierte, sondern meine Präsentation als Unterricht gestaltete. Die Mitschüler konnten profitieren, die Prüfungsexpertin erwartungsgemäss nicht. Sie war auch nicht mein Fokus, weil ich bereits meinen Abschluss in diesem Modul sicher wähnte.

    Ich habe die Genugtuung erlebt, das System erneut subversiv unterwandert zu haben. Ich triumphierte innerlich, als sie mir vorwarf, dass ich zu schulisch, zu oberflächlich und zu unkonventionell war. Dass ich keine Beispiele hätte. Natürlich hatte ich nichts gestellt, ich habe bloss improvisiert. Ich habe einige Flipcharts spontan gemalt. Ich habe mich aber nicht besonders bemüht, meine Schrift war lausig und kaum lesbar. Ich habe aber die Aufmerksamkeit meiner Klasse gewonnen. Ich bin quasi ein Gewinner der Herzen oder so. Ich bin der grosse Verführer. Ich habe meinen Auftritt als MVP, meine Kernbotschaft, vermarktet.

    Im Schlusswort habe ich dramatisch reuig erklärt, meine nächste Abschlusspräsentation werde allen Anforderungen einer Schule genügen. Ich war trotzig. Dies war schliesslich bloss ein MVP, um Annahmen zu testen, um die Anforderungen der Schule zu erheben. Weil schliesslich habe ich mich nicht vorbereitet. Und jede Vorbereitung wäre vergebens, wenn ich nicht unmittelbares Feedback erhalte, das ich sofort umsetzen könnte. Ein Kollege begriff diese grosse Ironie; er hat den MVP-Charakter der Präsentation ausserordentlich gelobt und als learning mitgenommen.

    Ja, so eine Schule ist immer ein ego boost, er füllt meine Anerkennungsreserven. Mich irritiert bloss, dass ich immer irgendwie der abgefahrenste Typ bin. Gibt’s niemanden, der mich bodigen kann? Der mich stoppen kann?


  • Keine Erinnerung

    Das Leben verflüchtigt sich. Die unendliche Vergänglichkeit. Ich altere. Doch kann ich mich noch erinnern? Ich habe kaum Gegenstände, die mich erinnern. Mein Zimmer ist kahl. Einige Bücher sind zufällig angereiht. Viele Gebrauchsgegenstände lagere ich; eine Schere, Malstifte, Ladekabel des Typs USB-C. Ich habe nichts, was an meine Vergangenheit mich erinnert.

    Meine Kleidung sortiere ich regelmässig. Hemden der dritten Generation werden ausgemustert. Socken bereits nach der zweiten. Ich verbrauche Material. Ich verschwende und kaufe. Ich sammle nicht. Ich habe nichts, was ich bereits mit 18 trug. Ich habe nichts, was ich bereits mit 18 hatte. Selbst meine Möbel sind frisch und neu. Sie werden abgenutzt. Im Mai 2017 brauche ich wohl eine neue Wohnung.

    Woran kann ich mich mit vierzig erinnern? Was kann mich fesseln? Die meisten Geschichten meiner Jugend habe ich gelöscht, die Bilder vernichtet, das komplette SOU-Archiv, Szene Olten und Umgebung. Darin waren unsere Exzesse dokumentiert. Eine erdrückende Beweislage. Ich habe sie entsorgt. Im persönlichen Gespräch mit damals Beteiligten erwecken wir Nostalgie, versuchen uns zu erinnern.

    Was bleibt nach diesem Leben? Hätte ich Kinder, könnten sie mich erinnern. Sie werden sich erinnern. Das Buschi meiner Wohngemeinschaft mag sich eventuell an mich erinnern. Sie mag mit 16 von einem coolen stellvertretenden Onkel erzählen. Der stets besoffen hineinschlich und kaum hörbar masturbierte. Das sind Geschichten des Lebens. Vermutlich werden sie oft und gerne erzählt.

    Doch immerhin habe ich meine Tagebücher. Darin sind meine Gefühle, meine Befindlichkeiten einigermassen akkurat dokumentiert. Chronologisch sortiert. In der Cloud persistiert, hochverfügbar. Ich zahle sogar einige Dollars monatlich. Gelegentlich stöbere ich darin. Ich lese nach, was ich damals fühlte. Das tröstet. Denn ich fühle mittlerweile mehr, ich weiss mehr. Ich bin erfahrener geworden.

    Erinnern tut weh.


  • Die nicht liebende Sexualität

    Ich kenne die nicht liebende Sexualität. Ich erinnere mich. Sie mag zwar gewisse Lust bereiten. Sie kann animalisch sein. Doch sie hinterlässt mich einsam und leer. Sie ist eine reine Triebbefriedigung. Sie ist kein Modell für die Zukunft. Sie verkümmert uns langfristig. Gewiss kann eine nicht liebende Sexualität in eine Affäre reifen. Aber dann liebt man, man investiert. Man macht sich abhängig.

    Gewiss mögen einige erwidern, Sex spasse, der blosse Sex an und für sich. Ja, ich hätte auch gerne Sex. Ich verstehe diesen Spass. Aber meine Vergangenheit lehrt mir, dass man mit blossem Sex langfristig erkaltet. Man funktioniert. Irgendwann verliert der Sex die animalische Unschuld. Dafür fickt man neurotisch, zwangshaft. Dann erleidet man Grausamkeit. Man fühlt sich von der Welt verlassen. Man verbittert.

    Also meine Lieben, bitte nur mit Liebe!


  • Die Komödie der Unabhängigkeit

    Wir allen wollen unabhängig sein, Optionen offen haben. Doch dadurch können wir uns nicht verlieben. Ich fordere, dass wir die Illusion der Unabhängigkeit endlich aufgeben. Wenn man sich liebt, wieso solle man nicht zusammenziehen? Wieso muss man noch künstlich sich distanzieren? Wir müssen riskieren, wir müssen uns abhängig machen. Investieren. Weil sonst werden wir nichts gewinnen. Sonst vereinsamen wir, haben eventuell hier und da Sex, eine Affäre oder sonst was. Wir verlernen, glücklich zu sein.


  • Der Mädchen-Retter

    Zeitlang begeisterte ich mich für elektronische Foren im Internetz, wo Mädchen mit einer Borderline-Störung ihr Leben preisgaben. Ich war hungrig, hungrig nach Leben, nach Kaputtheit. Ich war dort, ich spielte den Doktor Faustus. Die meisten Mädchen fragten mich immer zunächst, ob ich auf fisting stehe. Leider nicht. Dafür aber auf ihre Abgründe, Sehnsüchte und Sorgen.

    Also begleitete ich die Mädchen. Ich war nett, lieb und verständnisvoll. Ich hörte zu. Ich hörte einfach zu. Ich habe sie für die Kleinigkeiten des Alltags ermuntert. Ich zeigte Verständnis. Ich war selber aber ein hilfloser Helfer. Mir war nicht zu helfen, mir ist nicht zu helfen. Mittlerweile habe ich mich bekanntlich arrangiert. Die Mädchen vertrauten mir dennoch. Einige bumste ich, anderen begegnete ich nie.

    Aber mindestens fünf bedankten sich! Nicht mit Sex ihr Wüstlinge! Sondern mit einfachen Worten. Mit einem grossen Danke. Sie haben mir versichert, dass ich ihr Leben gerettet hätte. Ich war erstummt. Ich wollte zwar irgendwie helfen, aber irgendwie war alles bloss Spass und Zerstreuung. Quasi ein Hobby eines Einsamen. Doch mit diesem Danke verwandelte sich Spass in Ernst.

    Danach habe ich mein Experiment abgebrochen. Ich habe mir neue Hobbys gesucht.


  • Die modernen Nutten

    Ich werde auf einer Webseite angeboten. Man kann mein Profil anfordern. Darin steht, was ich mache und was ich nicht mache. Was meine Spezialitäten sind. Wie gut ich erklären, visualisieren und begründen kann. Mein Wissen, meine Erfahrung ist darin gelistet. Grosse Konzerne, Multimillionenprojekte, verantwortungsvolle Positionen. Zufriedene Kunden belegen meine Kompetenzen.

    «Er hat uns gezeigt, dass wir trotz jahrelanger Erfahrungen noch nicht alles wissen.»
    «Dank seiner Unterstützung konnten wir das Projekt erfolgreich meistern.»
    «Er ist kompetent, witzig, gewinnend im Umgang; er kann überzeugen und stufengerecht kommunizieren.»

    Manchmal werden mir sogar sprachliche Fähigkeiten attestiert, die ich selber niemals beanspruche würde. Ich spreche im Nachfragefall fliessend und verhandlungssicher Französisch. In Wirklichkeit kann ich meine drei-vier Sätze rezitieren. Ich bin aufgehübscht, aufgepolstert. Mein Schwanz wird sogar vergrössert. Meine Berufserfahrungen überzeichnet und ausgedehnt.

    Ich bin eine wirkliche Nutte. Ich habe sogar ein Preisschild. Das man aber nie verrät. Denn ich werde stets über meinem Wert verkauft. Der Freier zahlt, er kann von unendlichen Firmenreserven schöpfen. Er bezahlt mich nicht selber, sondern eine abstrakte, anonyme Grosse, ein cost center oder profit center. Ich verrechne manchmal auch Aufwände, wenn ich wirklich unproduktiv bin. Aber ich bin immer noch produktiver als die Mehrheit.

    Das ist mein Leben. Aber heute bin nicht im Business. Heute bin ich woanders.


  • Die Möglichkeit einer Insel

    Ich habe die Möglichkeit genutzt, meine Ferienzeit gut investiert und Houellebecqs Inselmöglichkeit studiert. Bekanntlich die Ferienlektüre schlechthin, so berichtete ich aus Como. Meine zweite Rezension hier, nach dem guten Leben Oltens Capus›. Ob ich die Serie fortsetzen werde, ist so ungewiss wie das Fortbestehen meiner Sex-Geschichten. Mal schauen!

    Der Lebenslauf von Daniel berauscht mich. Ein Leben als Komiker, der witzelt und spottet, wo andere schweigen. Ein Geschäftsmodell, das zugleich ein Leben als Dandy finanziert. Viele Autos, viele Nutten, viele Exzesse. Das alles behagt mir. Ich kann mich gewissermassen mit Daniel identifizieren. Es verkörpert nicht den klassischen Helden, keineswegs. Er ist depressiv, unzufrieden und der Liebe wie des Lebens unfähig.

    Er sehnt und trachtet und schmachtet. Das Glück, das Daniel erfährt, irritiert ihn. Es verflüchtigt sich immer. Manchmal verschuldet er das Unglück selber, manchmal sind’s einfach äussere Umstände, die das Glück verhindern. Liebe bedeutet für Daniel Glück. Doch Liebe ist das fragilste Glück überhaupt. Ich und du, wir alle sind unfähig das Glück namens Liebe zu konservieren. Wir verlieren Glück immer.

    Denn Houellebecq erzählt die Geschichte von Daniel, dem Begründer einer Klonlinie, sowie von dessen Nachzügler, Daniel24 und Daniel24. Diese leben in einer kalten, zerstörten Welt. Die Welt ist deswegen zerstört, weil die Menschen nicht mehr lieben können. Bloss noch Klone funktionieren. Doch jede Liebensfähigkeit der Klone ist wegzüchtet worden. Die Klone sehnen sich nach Leben. Doch ohne Liebe werden sie niemals Leben erfahren. Manche, so wie Daniel25, wagen den Ausbruch. Sie flüchten von ihrer autarken Zelle, die sie nährt. Die Sehnsucht nach liebensfähigen Klonen motiviert sie. Doch vergebens; es ist nicht überliefert, ob jemals ein Klon diese Insel betreten werde.

    Das Geschick Houellebecqs ist, dass die Taten, dass die Gedanken von Daniel1, der in einer verhängnisvollen Klonsekte sich bewegt, die Zukunft der Menschheit erheblich beeinflussen. Die sogenannten Lebensberichte Daniels sind Klassiker für die späteren Klone. Sie begründen, veranschaulichen, wieso die Welt der Liebe unfähig ist. Sie schildern den Aufstieg der Sekte, den Aufstieg des Bösen geradezu. Denn die Sekte will die körperliche Liebe abschaffen. Liebe ist das eigentliche Böse. Stattdessen verkündet die Sekte, Unsterblichkeit sei das Gute, das Erstrebenswerte. Wir haben alle Zeit der Welt. Und damit sind wir nicht gezwungen, hier und jetzt, spontan und manchmal zufällig zu lieben.

    In der Gegenwart überholt die Sekte alle klassischen monotheistische Religionen. Sie befreit den Menschen vom Streben nach Liebe und Glück. Sie hat ein diesseitiges Glücksversprechen. Sie lindert die Sehnsucht, indem die Sekte Botschafterin in die Städte schickt, die Orgien veranstalten. Privat organisierte Liebesdienerinnen quasi. Sie verplakatieren Wände mit Sprüche, die von Goebbels stammen könnten. Blosse Sprüche wie «Die Ewigkeit, ein sinnliches Abenteuer», «just say no, use condoms» oder «Macht den Leuten eine Freude – gebt ihnen Sex». Sprüche, die darauf abzielen, die Vaterschaft, die Mutterschaft zu verachten und den Inzest zu loben. Ein Text, eine Telefonnummer, mehr nicht.

    Bloss radikalisierte islamistische und katholische Gruppierungen terrorisieren die Sekte. Für den Durchschnittsverbraucher befriedigt die Sekte ein hedonistisches Bedürfnis, verspricht Sinn und Unendlichkeit. Keine faustische Sehnsucht mehr. Doch stattdessen bestraft die Sekte den Menschen mit einem ereignislosen, schmerzfreien Leben. Der Gleichschritt im Mittelmass ist perfektioniert. Die Klone funktionieren dann bloss noch. Sie müssen sich bloss von funktionalisierten Kapseln ernähren; können Hitze und Kälte ertragen und haben schliesslich auch einen oder mehrere Atomkriege überlebt. Das ist die schöne, aber leere Zukunft, die Houellebecq umtreibt.

    Der Roman zerfranst nicht. Er ist fokussiert. Alles Erlebte von Daniel oder den späteren Daniels thematisieren die Sehnsucht nach unerfüllter Liebe. Zuweilen übersteigt sich Houellebecq darin, die Intensität des reinen Geschlechtsaktes zu dramatisieren. Hier entschuldigen aber Sexszenen, bei denen ich mir gerne vorstelle, dass sie bloss in Houellebecqs Fantasien wurzeln und keinen autobiografischen Bezug haben können. Denn typischerweise fickt Houellebecqs Antiheld junge und geile Miezen, so seine Sprache, die sexuell total entladen-enthemmt, aber dafür unendlich liebenswürdig sind. Solche Frauen existieren durchaus, das zeigt mein Bericht.

    Aber meine und auch Houellebecqs Erfahrung bestätigen, dass solche Erlebnisse bloss kurz dauern. Hier ist Sexualität die Projektion für Glück. Ich persönlich sehne mich mehr als bloss nach Sexualität. Ich wünsche mir geistige Auseinandersetzung, Anziehung, Lust, aber gleichwohl Geborgenheit, Sicherheit, Akzeptanz, Respekt und Geborgenheit. Ich habe unlängst aufgelistet, was Liebe mir bedeutet. Das gilt weiterhin. Houellebecqs omnipotente Figuren beschränken sich bloss aufs Sexuelle. Sie kennen bloss bloss Entweder-Oder. Entweder sich geistig auseinandersetzen, stimulieren zu können. Oder sexuell sich befreien, austoben zu können. Ich kenne nicht bloss Entweder-Oder, sondern Sowohl-Als-Auch. Das macht wohl meine Situation tragischer, aber hat nichts mit einer Möglichkeit einer Insel zu tun.

    Der Roman umfasst unsere Gesellschaft. Es ist quasi ein halber Gesellschaftsroman. Wir begleiten alle Daniels auf ihrer Suche nach Liebe. Nebenbei kommentiert Houellebecq das Tagesgeschehen. Tagesaktuell sind seine Beiträge durchaus. Das Internet, die aufkommende Mobiltelefone, die Arbeitswelt, die ebenso endlos strebende Wirtschaft. Alles behandelt Houellebecq, natürlich aus der Perspektive eines latenten Pessimisten, natürlich mit zynischen Maske Daniels.

    Ich möchte den Roman empfehlen. Für alle, die sich nach Liebe und Leben sehnen, kann der Roman ernüchtern oder klarstellen, dass es immer schlimmer kommen könnte. Noch dominiert Houellebecqs Sekte nicht die Gesellschaft. Die «autobiografische» Religion heisst sich Raelismus, ist eine kleine und unbedeutende Sekte der Gegenwart. Houellebecq beschreibt sie bloss, er wertet oder kritisiert nicht. Quasi ein «Naturalismus», jenseits von Gut und Böse. Man muss sich selber distanzieren, wenn man will oder kann.


  • Das Leben mit einer Todeskrankheit

    Was würde ich tun, wenn heute mir eine Todeskrankheit diagnostiziert werden würde? Und der Arzt ernst und reuig mir mitteilen dürfe, ich habe noch sechs Monate zu leben? Was würde ich tun? Wie würde ich mich verhalten? Er würde mich zwar  beschwichtigen, dass geringe Chancen existieren können, aber ich viele Entbehrungen zu erdulden hätte. Was würde ich tun? Willkommen.

    Könnte ich noch harren, bis mein Bonus Ende Jahr ausbezahlt werden würde? Würde ich nicht sofort kündigen? Ich würde hier und jetzt meine Anstellung vergessen. Ich würde ohne Kündigung verreisen. Ich würde niemanden etwas mitteilen. Ich bin dann mal weg. Nichts existiert, das mich hier klammert. Mein Lebenswille schwächelt; mein Eros darbt, der Todestrieb jauchzt.

    Ich werde gegenüber den Behörden eine Auswanderung signalisieren. Ich würde meine Pensionskasse leeren. Ich würde alle Konten saldieren. Alles in Bargeld umwandeln. Ich würde mir für einen Tag eine überteuerte Nutte finanzieren. Ich würde sie überall hinzehren; in den Wald, aufs Bahnhofsklo, ins Coqdor. Wir würden feiern und festen, ich an ihre Brüste mich pressen.

    Tagsdarauf würde ich mir ein Ticket nach Thailand buchen. Ich fürchte Thailand. Ich werde mich dort verausgaben. Ich werde meinen Gesellschaftsroman vollenden. Nachts trage ich meine Dandy-Anzüge, kokse und spendiere Lokalrunden. Tagsüber schreibe und kotze ich. Weine ich. Vereinsame ich. Ich warte. In der Schweiz nicht zugelassene, dort aber erschwingliche Medikamente dämpfen mich.

    Ich werde nichts vermeiden, meinen Körper weiter zu schaden. Ich rauche. Ich werde meine Geschichte weiterschreiben. Ich werde das süsse Ende verherrlichen. Ich werde den abstrakten Freitod bejubeln. Ich werde im Blick den Star des Tages kommentieren. Ich werde mich bei meinem Umfeld entschuldigen. Und auf Twitter meinen langsamen, aber stetigen Tod akzentuieren.

    Doch glücklicherweise ist’s nicht soweit. Ich sterbe nicht, ich bin gesund. Ich lebe. Der Gedanke, dass alles enden kann, schneller als man denkt, aber tröstet, beruhigt mich.