Autor: bd


  • Der Verfemte

    Meine Situation ist delikat. Ich bin öffentlich innerhalb der Firma verleumdet worden. Man identifiziert mich als Verschwörer. Ich habe gegenüber der Geschäftsleitung signalisiert, dass ich diese Darstellung nicht goutiere und mein Missfallen ausgedrückt. Ich habe mündlich um eine Gegendarstellung gebeten.

    Ich konnte anerkennen, dass eine solche Gegendarstellung nicht durchsetzbar sei, da sie das Gesicht der Geschäftsleitung verletze. Heute habe ich das erste Mal seit dieser schwammigen Anschuldigung meine Persönlichkeit am überschicken Hauptsitz am Paradeplatz ausgestellt. Mit leichtem Alkohol.

    Meine ehemaligen Kollegen wandten sich ab. Einige verhielten sich weiterhin loyal; die alte Prätorianer-Garde, welche das business erst aufbauten, welche den Markt zusammen mit mir eroberten. Die Neulinge, die Nachzügler distanzierten sich. Sie versicherten mir alle synchron und vermeintlich unabhängig, sie seien bloss Beobachter und wollen nicht werten.

    Man kämpft immer alleine. Ich kann bloss den Zuspruch einer verschworenen Truppe erwarten. Immerhin konnte ich mich mit dem zweiten Mehrheitsaktionär versöhnen und gut verständigen; über Familie, Ferien und Kindergeburtstag und über die Zukunft der privaten Gesellschaft. Der dritte Minderheitsaktionär blickte bloss enttäuscht.

    Der Hauptaktionär und der ultimative Gegenspieler war absent. Seine neue Rolle als Verwaltungsratspräsident fordert ihn wohl vollkommen und an anderen Fronten. Ich bin immerhin angemessen verabschiedet worden. Eine kleine, aber rührende Rede eines Bekannten. Das tröstete mich.

    Auch der dritte Minderheitsaktionär würdigte meine Leistung. Immerhin. Das besänftigte mich. Ich habe mich daraufhin bedankt, den Mitarbeitenden, dem Arbeitgeber. Ich habe meine Rede improvisiert; wie so oft. Sie glückte einigermassen. Dennoch musste ich mich später rechtfertigen. Hinterbänkler wollten alles wissen.

    “Ohne Anwalt kann ich nicht reden”, beschwichtigte ich jeweils. Das ist die Wahrheit. Ich kann nicht offen kommunizieren. Ich kann bloss auf den CEO verweisen. Er kann auf Anfrage richtigstellen; seinen Kontext vermitteln. Ich möchte meinen noch nicht kundgeben; noch ist es zu früh. Denn bald werde ich das Unternehmen konkurrieren.

    Meine Konkurrenz ist hart. Es ist schwierig. Eventuell übernehme ich mich auch. Ich verschulde mich, ich werde scheitern und muss dann alles zurückzahlen; ohne Aussicht auf bedeutendes Mehreinkommen; ohne Mehrheitsanteile an einer rentablen Gesellschaft. Das verdüstert meine Weihnachtsstimmung.

    Aber ich muss es riskieren. Ich könnte mir niemals verzeihen, es nicht zu tun. Ich will den Markt beherrschen, dominieren. Ich will den Markt zerstören. Ich will die Unternehmen befreien. Ich habe Ideale; ich habe eine Vision. Theoretisch kann man mich nicht aufhalten; das erzählt meine Biografie und Entschlossenheit.


  • Der volle Kalender

    In big companies hat sich das Statussymbol des vollen Kalenders durchgesetzt. Umso mehr meetings, umso grösser der Respekt und die Anerkennung eines Mitarbeitenden. Ein voller Kalender verheisst Betriebsamkeit, verspricht Begehrtheit. Insbesondere das middle management ist angesteckt worden.

    Alle vice presidents oder managing directors konkurrieren, wer beschäftigter, nachgefragter sei. Schliesslich sind das eben jene Positionen, die den grossen Wasserkopf einer ebensogrossen company bilden. Sie erwirtschaften keinen direkten Gewinn, sie verursachen bloss Kosten. Niemand weiss, was sie tun.

    Also hängen sie in meetings herum. Sie simulieren Gewicht, obwohl sie keines haben. Die aktuelle Agile Transformation bedroht diese Arbeitsplätze. Der klassische Manager ist abgeschafft; ein Übrigbleibsel der bürokratisierten Neunziger. Den langsamen Tod kann man mit meetings verzögern, aber nicht verhindern.

    Meine Aufgabe ist es, diese unproduktiven Bürokraten auf ihre neue Herausforderung, Aufgabe vorzubereiten. Ich versuche ihnen weiszumachen, dass sie ohne Bedeutung und Zweck sind und eine Fachkarriere anstreben sollen. Ich entzaubere ihre Managementlehren der business school der Neunziger.

    Sie wehren sich manchmal. Sie vereinbaren meetings, sie erfinden boards und sonstige Gremien, die entscheiden, worüber längst gerichtet ist. Sie beschaffen sich Arbeit und Sinn. Irgendwie bedauere ich sie. Sie sind in den Neunziger grossgeworden, everything goes. Und nun werden sie überflüssig, selber wegrationalisiert.

    Das ist hart. Auch diese Menschen haben ein soziales Umfeld. Auch sie müssen von ihrer Arbeit erzählen können. Sie müssen ihre Frauen selbstbewusst penetrieren können. Sie müssen prahlen können; in den Skiferien, in den Badeferien oder sonstwie. Sie dürsten nach Anerkennung wie wir alle, wie jedermann.

    Mein Kalender war und ist nicht besser. Ich bin per Definition stets ausgebucht. Meine Ressource ist per Definition verknappt. Ich bin kostbar, ich verrechne meinen exakten Aufwand. Der Kunde muss stets abwägen, ob er mich wirklich konsultieren soll. Denn ich koste unmittelbar.


  • Im Trott

    Ich experimentiere weiterhin. Das letzte Mal eine Kurzgeschichte über einen einsamen Wolf. Zuvor beim Besuch einer Prostituierten. Oder bettelnd in der grossen Stadt. Oder die Erzählung eines Fernsehmachers. Oder das Familiendrama. Oder das Ende von P. Oder der untröstliche Alltag, der dieser Geschichte hier ähnelt. Es geht weiter. Viel Vergnügen.

    Ich zähle die Tage. Wie lange muss ich noch harren? Wann bin ich erlöst? Heute muss ich erneut trotten. Ich muss in eine ferne Stadt pendeln. Dort werde ich Excel-Tabellen schubsen. Ich warte seit Wochen auf meine Ferien. Endlich Ferien. Endlich Freizeit. Endlich kann ich mein Leben wieder mit Sinn aufwerten.

    Der Zug ist überfüllt. Der frühere Zug hat sich verspätet, bis er komplett ausfiel. Die doppelte Menge zwängt sich in einen ohnehin zu knapp dimensionierten Zug. Alle leiden. Alle hüsteln. Sie infizieren mich. Ich werde erkranken. Ich werde pünktlich vor Ferienbeginn ins Bett geschlagen. Dort sieche ich dann.

    Im Büro löse ich Kaffee. Ich zahle einen Franken. Meine Karte ist aufgeladen. Ich kann mir heute etwas spendieren. Ich muss nicht haushalten. Ich kann verschwenden. Ich besorge mir ein Gipfeli. Das kostet drei Franken. Vier Franken meines Einkommens sind verschleudert. Ich setze mich auf den Bürostuhl.

    Ich justiere den Bürostuhl für meine Körpergrösse. Desk-Sharing entwurzelt den Menschen im Büro. Jeden Tag kämpfe ich um meinen Platz. Nichts ist sicher, nichts ist gewohnt. Ich kann meinen Arbeitsplatz nicht mit meinen Habseligkeiten schmücken. Kein Ferienfoto erinnert mich an eine unbeschwerte Zeit.

    Ich verkable meinen Laptop. Jeden Tag dasselbe. Heute fehlt aber das Stromkabel. Ich besorge mir eines an der nächsten Versorgungsstation. Ich rüste mich mit frischen Schreibmaterialien. Ich bin bereit, ich kann arbeiten. Ich starte mein Outlook. Der Server sortiert meine Emails. Die wichtigen werden hervorgehoben, automatisch.

    Ich habe keinen neuen Auftrag erhalten. Das System vermeldet eine offene Pendenz. Ich muss meine Formel vollenden. Diese Formel ermittelt die fehlerhaften Verkäufe der Dienststellen vom ganzen Land. Diese fehlerhaften Verkäufe konnten aufgrund Synchronisationsproblemen nicht im zentralen Server verarbeitet werden.

    Diese fehlerhaften Verkäufe werden folglich nicht verbucht. Sie unterfliegen unseren betriebswirtschaftlichen Radar. Die Revision wird solche Missstände aufdecken und das interne Kontrollsystem nochmals verschärfen. Das werden alle beklagen, das wird die Arbeit aller verlangsamen. Und meinen Chef erzürnen.

    Ich verstehe bis heute nicht diese Synchronisationsprobleme. Als asynchrone Kommunikation umschreiben die Techniker die Situation. Mich interessiert das nicht sonderlich. Ich muss schliesslich bloss meine Formel fertigstellen. Die einzelnen Dienststellen liefern mir ihr tatsächlichen Verkäufe.

    Diese Verkäufe aggregiere ich jeweils täglich. Meine Formel vergleicht die Tagessummen der Dienststellen mit dem zentralen Server. Falls die Summen abweichen, rechne ich jeden Verkauf nach. Ich tüftle noch, wie mein Excel Abweichungen auf einen bestimmten Verkauf zurückschlüsseln kann. Ich konsultiere dafür deutschsprachige Office-Foren.

    Ich bin zuversichtlich, dass ich in einer Woche die Aufgabe abschliessen kann. Doch mein Kopf raucht. Ich muss rauchen. Ich schlendere zum Raucherbereich. Einen weiteren Kaffee gönne ich mir. Kaffee und Zigaretten. Auf meinen Natel wische ich durch die neuesten Nachrichten. Das Mädchen des Tages möchte man absetzen.

    Die gestrige Unterhaltungssendung hat einen neuen Sieger gekürt. Mein Liebling, ich bin zufrieden. Die scheidenden Tagesmädchen bedauere ich kurz. Danach ist die Geschichte vergessen. Ich rauche eine weitere Zigarette. Ich scrolle durch meine Youtube-Abos. Ein humoristisches Video über die Unterschiede zwischen Albaner und Schweizer. Prächtig.

    Oh, ich muss arbeiten. Ich darf nicht zu arbeiten vergessen. Ich bin ja pflichtbewusst, ich bin loyal. Aber ich zweifle, ob ich das Richtige tue. Und ob ich das Richtige auch überhaupt richtig tue. Überhaupt kann ich meine Tätigkeit nicht würdigen. Wozu bin ich angestellt worden? Welchen Mehrwert liefere ich? Wieso stopfe ich bloss Symptome?

    Ich möchte meinen Job kündigen. Ich fühle mich vergeudet. Ich fühle mein Potenzial verkannt. Ich kann hier nicht wirken. Ich kann nichts bewegen. Ich trotte bloss. Ich fühle mich alternativlos. Die Arbeit dominiert mein Leben. Doch meine Arbeit beseelt mich nicht. Vielmehr beelendet sie mich. Sie ruiniert mich.

    Doch ich bin gefangen. Ich erwarte ein regelmässiges Einkommen. Ich muss meine Miete bezahlen. Meine Grundversicherung und meine bescheidene Zusatzversicherung; freie Spitalwahl. Mein Internetz. Meine Spielzeuge. Diese Kosten sind fixiert. Ich kann sie nicht wegdiskutieren. Ich will auch regelmässig verreisen.

    Ich will das mir fremde Land verlassen. Ich will entdecken, ich will nicht an meinen Alltag mich ermahnen müssen. Ich will ausbrechen. Das muss ich alles finanzieren können. Ich bin also auf einen Beruf angewiesen. Ich bin abhängig, lohnabhängig. Mich tröstet, dass wir alle abhängig und gefangen sind. Ich bin nicht alleine.

    Bald Mittagessen. Die grosse soziale Bühne. Wer isst mit wem? Alle beobachten dich. Der Vorhang fällt. Wer isst was? Wer entscheidet sich fürs Budgetmenü? Wer fürs vegetarische? Wer vergnügt sich mit dem frisch zubereiteten Tagesmenü? Wer sitzt wo, wem wie gegenüber? Worüber spricht man? Wer war wo am Wochenende?

    Ich bange. Ich bin nicht verabredet. Ich habe diese Chance verpatzt. Ich bin seit Jahren nicht mehr im Gruppenchat eingeladen. Dort diskutiert man die Mittagspläne. Man schnuppert im vorab publizierten Menü. Man bereitet sich vor. Ich bin ausgestossen, ich habe mich selber verabschiedet. Seitdem irre ich mittags.

    Meistens flüchte ich in die nahe Stadt. Dort taumle ich durch die Gassen. Ich verpflege mich hastig und ungesund. Ich möchte bloss den Firmenkomplex verlassen. Ich möchte ungefilterte Luft atmen. Ich möchte den Staub der kleinen Strassen schmecken. Ich möchte meine Arbeit vergessen. Ich möchte fortlaufen, ja.

    Auch dort bin ich alleine. Ich habe vor zwei Jahren bemerkt, dass ich keine Freunde habe. Das hat mich nicht überrascht. Eine späte, aber richtige Erkenntnis. Ich kann auch keine sozialen Bekanntschaften intensivieren. Ich pendle täglich vier Stunden. Abends kehre ich heim, erhitze eine tiefgefrorene Pizza oder rufe einen Türken.

    Ich masturbiere eine halbe Stunde vorm Badezimmerspiegel. Danach esse ich. Das Dosenbier spült meinen allgemeinen und speziellen Ekel herunter. Lustlos zappe ich durchs Abendprogramm. Es ist bereits neun Uhr spät. Noch eine Stunde kämpfe ich gegen meine Müdigkeit. Danach verkrieche ich mich im Bett.

    Ich habe nie behauptet, ich sei ein Mann grosser Leidenschaften. Ich interessiere mich für nichts und niemanden. Das Reisen überdeckt bloss meine Eigenschaftslosigkeit. Ich reise, damit ich Büro etwas berichten kann. Ich muss reisen. Denn ich möchte vermeiden, dass meine Arbeitskollegen mich durchschauen. Ich spiele mit.

    Meine Sexualität ist auf die Masturbation geschrumpft. Gelegentlich stöbere ich sexuelle Kontaktanzeigen. Diese können mich kurzzeitig erregen. Danach lege ich sie wieder hin, ich lösche meinen Browser-Verlauf. Ich sammle Bücher der Weltliteratur. Doch ich bin weder belesen noch sonstwie bewandert. Ich sammle bloss.

    Damit simuliere ich Belesenheit, falls ein Mädchen mich besuche. Ich versuche manchmal, den letzten Besuch zu vergegenwärtigen. War es Valerie oder Chantal? Worüber haben wir uns unterhalten? Durfte ich ihre Scheide berühren? Durfte ich Lust empfinden? Durfte ich sie penetrieren? Ich weiss es nicht mehr.

    Bald ist zehn Uhr, mein Wecker ist programmiert. Morgen wiederholt sich mein Tag. Ich erlebe keinen grossen Verblendungszusammenhang. Mein Leben ist weder spektakulär noch aussergewöhnlich. Ich sorge mich nicht. Nichts befeuert mich, nichts motiviert mich. Ich verplempere gelegentlich tausend Franken für Spielzeuge; Männersachen.

    Ich verfolge stets eine “ich-auch”-Strategie. Wer will mir das verübeln? Wieso muss ich meinen Individualismus überhöhen? Wieso muss ich mich präsentieren, was nicht bin? Ich meide auch die sozialen Netzwerke. Mit meiner Tarnidentität bin ich zwar registriert, doch ich folge bloss den jung-reizenden Mädchen.

    Ich zähle bloss noch die Jahren. In zwanzig Jahren bin ich pensioniert. Ich begrüsse die grosse Leere. Ich kann dann mein Leben gleichmässig unwürdig fortfahren. Ich muss nicht mehr pendeln und arbeiten. Ich kann bloss noch davoneilen, durch die Welt hasten. Ich kann mich und alles vergessen. Ewige Ferienzeit.

    Meine Ferien. Auch die sind repetitiv. Sie versüssen mein Leben. Sie befriedigen aber nicht. Sie beruhigen mich temporär. Die ewige Ferienzeit würde mich wohl deprimieren. Denn ich könnte mich nicht mehr freuen, ich könnte mich nicht mehr beschwichtigen. Ich würde auflaufen, ich würde wohl zusammenbrechen. Mein Leben verkürzen.

    Dennoch schätze ich meine Ferien. Ich organisiere sie immer mit demselben Muster. Eine Woche verstecke ich mich daheim. Ich ordne die Dinge, ich prüfe meine Versicherungen, ich regle meinen privaten Bürokram. Ich veradministriere mich selber. Meine Sozialversicherungsnummer in der einen, meine Bankzugangsdaten in der anderen Hand.

    Um zwölf gastiere ich in meiner Stammbeiz. Dort bestelle ich eine Maschine Weizen und Geschnetzeltes Zürcher Art. Ich blättere durch die Lokalzeitung. Ich könnte jede zweite Person kennen, doch ich habe mich längst entfremdet. Man grüsst mich zwar, doch Gespräche können nicht entstehen.

    Die zweite Woche fliege ich weg. Möglichst exotisch. Iran möchte ich in diesem Frühling besichtigen. Ich habe in Magazine gelesen, dass das Land noch unbefleckt sei. Noch kein Massentourismus verfälscht den wahren Eindruck. Gewiss lügen die Magazine. Zwei Arbeitskollegen schwärmen bereits vom Iran. Bald kann ich auch mitreden.

    Doch vorerst darf ich arbeiten. Meine Formel ist fehlerhaft. Sie funktioniert nicht. Ich habe die Rundungsdifferenzen übersehen. Das zentrale System rundet mit sechs Nachkommastellen, die von den Dienststellen bereitgestellten Daten bloss mit drei. Für Normalsterbliche müssen drei Nachkommastellen ausreichen.

    Ich muss die Rundungsregeln der dezentralen Dienststellen nachbauen. Damit kann ich die zentralen mit derselben Regeln runden. Damit werden sie vergleichbar. Meine Formel darf immer mehr Geschäftslogik abbilden. Sie wächst und wächst. Ich selber durchblicke kaum noch die Logiken. Excel verweigert ab 256 Verschachtelungen die Berechnung.  

    Ich muss meine Formel aufteilen. Ich lagere gewisse Vorberechnungen aus. Damit ist die Formel auch wartbarer. Doch für wen? Ich habe keinen Ersatz, niemanden, der mich bald ablösen könnte. Ich harre quasi auf vergessenem Posten. Mein Chef ahnt, was ich tue. Ich kann meine Tätigkeit auch nicht meiner Mutter erklären. Ich mache Excel-Formeln.

    Ohnehin ist meine Mutter verstorben. Keine Familie deckt oder schützt mich. Bald ist Weihnachten. Das einsamste Wochenende hierzulande. Die Bars sind leer, sie füllen sich erst gegen Mitternacht mit den unzähligen Heimkehrer. Bis dahin bin ich längst allem überdrüssig. Ich verpasse den Anschluss. Ich war ja auch nie fort.

    Das ist nicht meine Zeit, nicht meine Generation, nicht mein Jahrgang. Das ist nicht mein Leben. Ich bin verpflanzt worden. Ich will nicht wachsen. Ich will nichts. Ich begehre nichts. Aber ich muss fristen. Ich bin ungewollt, wieso ist meine Schwangerschaft nicht abgebrochen worden? Wieso musste man mich herauspressen?

    Ich huste im Zug, am nächsten Halt muss ich umsteigen. Die SBB schätzt dafür drei Minuten. Das ist machbar. Mein Zug hält am Perron 7A, der Anschluss 4B. Drei Minuten sind grosszügig bemessen. Ich kann 4B in einer erreichen. Ich kann mir das zutrauen. Als Dauerpendler bin ich geübt. Ich danke der SBB für die Regelmässigkeit.

    Die SBB enttäuscht einen nie. Wenn der erste Schnee in den Voralpen fällt, können sich die ersten Züge verzögern. So wie gestern. Nach dreissig Minuten Verspätung löscht die SBB einen Zug; er würde bloss das Netz destabilisieren; eine Dissonanz der Fahrplanmelodie. Das verzeihe ich. Die SBB hat mich gestern mit einem Kaffeegutschein entschädigt.

    Soll ich mich anonym bedanken? Soll ich auf Facebook kommentieren? Ich bin bereits angeschwipst; ich leere das zweite Dosenbier. Heute möchte ich mich nicht verpflegen. Jeden zweiten Tag ernähre ich mich bloss flüssig. Ansonsten verdickt mein Körper. Dann könnte ich mich nicht mehr im Badezimmerspiegel masturbierend anstarren.

    Schliesslich habe ich mich nicht überwunden. Ich habe nichts auf Facebook publiziert. Ich habe meine Liebe zur SBB nicht geäussert. Die SBB hat einen heimlichen Anhänger. Das muss die SBB nicht unbedingt wissen. Ich goutiere die jährliche Preiserhöhung wie Anfang Dezember beim Fahrplanwechsel. Überhaupt der Fahrplanwechsel; magisch.

    Die SBB eröffnet den Gotthard-Basistunnel. Ein Meisterwerk. Kann ich darauf stolz sein? Ich habe Anfang Neunziger meine Zustimmung abgelegt; brieflich. Ein Milliardenprojekt. Damals noch optimistisch geschätzt. Ich habe die Kostenerhöhung Ende Neunziger ebenfalls bewilligt. Ich bin das Volk. Ich gehöre dazu. Meine Stimme zählt.

    Die vierteljährlichen Abstimmungen vergewissern mir, dass ich noch lebe. Ich kann mich periodisch äussern. Ich werde befragt. Denn ansonsten interessiert sich niemand für mich. Das Steueramt erkundigt sich zwar jährlich, dass ich Einkommensänderungen gerne mitteilen solle. Aber abgesehen davon schweigen die Ämter. Stille.

    Die letzte Abstimmung habe ich verschlafen. Ich wollte nicht brieflich wählen. Ich wollte die Zeremonie zelebrieren. Doch ich habe verpennt. Der Alltag hat mich entkräftet. Insgeheim beeinflusst mich nicht der Akt der Wahl, auch nicht das Ergebnis am späten Sonntagnachmittag. Das Gefühl des Gebrauchtwerdens genügt.

    Ich werde gebraucht. Ich stifte Sinn. Meine Arbeit mag mich zwar verzweifeln, aber der Staat will meine Meinung, immerhin der Staat. Das ist ein grosser Trost eines kleinen Mannes. Doch zu mehr könnte man mich auch nicht gebrauchen; mehr Bürde könnte man mir auch nicht überantworten. Ich bin und bleibe der kleine Mann.


  • Bald Weihnachtsferien

    Mein gekündigtes Arbeitsverhältnis endet per 23. Dezember. Bis dahin darf ich noch arbeiten. Alles muss fertig und erledigt werden. Ich werde nicht geschont oder freigestellt. Ich darf Kurse halten, ich darf Rechnungen schreiben. Mein bald ehemaliger Arbeitgeber braucht das Geld, meinen Umsatz.

    Ich sehne mich bereits heute nach den Weihnachtsferien. Es ist zwar bloss eine Woche, weil Weihnachten das Wochenende besetzt. Ich kann mich nicht mehr an meine letzten Ferien erinnern. Vermutlich im August in Como. Das ist zu lange her. Seitdem hatte ich einige Freitage, aber keine durchgehende Woche.

    Auch sozial bin ich gefordert. Ich treffe mich mit ehemaligen Teams, Arbeitskollegen. Ebenfalls veranstalte ich meinen eigenen Abschied. Den plane ich für den 22. Dezember. Ein kleines Fest. Ich habe einige hundert Franken budgetiert. Die dürfen ausreichen für Bier und Fleisch. Ich teile mir die Kosten mit zwei Kollegen, die ebenfalls der Firma austreten.

    Auch müsste ich mich um meine eigene Familie kümmern. Doch ich möchte manchmal auch bloss daheim sein. Ich möchte nichts unternehmen müssen. Ich möchte einfach entspannen und mich heruntertakten. Mich beruhigen. Denn im nächsten Jahr werde ich aufdrehen müssen. Ich werde mich nochmals beschleunigen dürfen. Freuen wir uns.

    Die Vorweihnachtszeit ist wiederkehrend hektisch. Da meine sozialen Verpflichtungen ohnehin minimalisiert sind, kann ich meinen Aufwand einigermassen drosseln. Ich muss maximal zehn Geschenke organisieren. Ich muss keinen Weihnachtsbraten vorbereiten. Ich muss keine Kinder aufs Christkind vertrösten. Immerhin.

    Für Familien ist diese Zeit wohl besonders herausfordernd. Ich kann es mir zumindest vorstellen. Die häusliche Gewalt ist zunehmend, die Selbstmordrate hoch. Die Liebe bangt. Alles kann zusammenbrechen. Der 24. Dezember soll alles und alle wieder versöhnen und zusammenbringen, was übers Jahr sich entfremdete.

    Ich habe keinen Streit offen. Ich habe keinen Konflikt zu bewältigen. Ich muss mich nicht aussöhnen oder aussprechen. Meine Situation gefällt mir derzeit. Ich beklage mich bloss über Stress. Ich kann keine Stressbewältigung entwickeln. Ich muss einfach noch zwei Wochen überstehen. Und dann habe ich es geschafft.


  • Bin ich ein Buchhalter?

    Momentan schultere ich die finanziellen Aktivitäten und Überlegungen meiner Selbständigkeit. Doch ich vermisse einen Treuhänder. Ich rätsele, wie ich das Geschäftsjahr 2017 abschliessen soll. Wie ich gewisse Transaktionen verbuchen soll. Ich kann meine alten KV-Bücher hervorkramen, damit ich einen Gewinn in den Bücher journalisieren kann.

    Aber ja, das ist nicht mehr mein Fachgebiet. Die Ausbildung ist angejährt. Ich müsste mich rasch wieder einlesen. Doch diese Zeit ist nicht effektiv investiert. Ich könnte mit anderen Tätigkeiten Umsatz schaufeln. Mit Buchhaltung jedoch nicht. Das bildet bloss einen Wasserkopf, den man immer variabilisieren müsste.

    Das Problem ist noch nicht akut, denn derzeit sind keine aktiven Buchungen zu tätigen. Ich übe in einer Sandbox fürs nächste Geschäftsjahr. Das aktuelle ist fiktiv. Ich habe das ERP bereits einigermassen konfiguriert. Ich habe viele Vorlagen übernommen. Den Kontenplan habe ich bloss gestutzt, die MWSt-Abrechnung vorkonfiguriert.

    Ich habe auch bereits eine Lohnabrechnung vorbereitet. Ich habe die Sätze definiert. Jedoch bloss fürs 2016, für 2017 sind die Optionen noch nicht freigeschaltet. Ich habe das gesamte ERP in die Cloud ausgelagert. Ich möchte alle Finanzprozesse digitalisieren; jeder Beleg mit einer App scannen und dann dunkeln verarbeiten.

    Ich bin derzeit der Buchhalter der Firma. Ich prüfe die Finanzplanung. Ich aktualisiere neueste Erkenntnisse, integriere Offerten. Ich kalkuliere. Die Planerfolgsrechnung, konservativ geschätzt, beruhigt mich. Meine Schulden werde ich tilgen können. Das erste Geschäftsjahr ist gesichert.

    Doch früher oder später werde ich einen echten Buchhalter engagieren müssen. Ich werde ihn im ERP berechtigen. Er wird mein Vertrauen gewinnen. Ich werde ihn entschädigen. Ich freue mich. Das wird mich entlasten. Ich kann weiterhin mitreden. Denn ich besitze das gesamte Grundwissen. Immerhin.


  • Ich im Krankenhaus

    Ich fürchte mich vor der Medizin. Ich kann mich nicht für die Biologie interessieren. Die Psychologie hingegen besorgt mich nicht. Aber ich ekle mich vor Spritzen, Krankenhäuser und Ärzten. Mich kann man kaum verarzten. Ich verschiebe jede Blutentnahme, ich vergesse jeden Arzttermin. Ich ignoriere jede mögliche Erkrankung.

    Meine Phobie grenzt am Pathologischen. Wieso empfinde ich Medizinisches als unangenehm? Wieso zittere ich bei einer Blutentnahme? Wieso schwitze ich bei einer Arztvisite? Wieso kann ich mich nicht für meine Gesundheit begeistern? Wieso kann ich nicht über Herzbeschwerden diskutieren?

    Bin ich verletzt oder traumatisiert worden? Ich kann mich nicht erinnern. Was verursacht meine Medizinphobie? Ich kann diese Angst nicht rationalisieren. Diese Angst erklärt, wieso ich beispielsweise jeden Zahnarzt mied, ich keinen Hausarzt besitze oder nichts über meinen Gesundheitszustand aussagen kann.

    Ich bin sogar schlechter geimpft als eine Hauskatze. Mein Impfausweis ist veraltet. Die letzten Einträge stammen aus den Neunziger. Das letzte Mal immunisierte man mich an meinem ersten Schultag der Kanti. Das kann erschrecken, ich bin quasi unterversorgt. Doch beklagt darüber habe ich mich nie.

    Grundsätzlich fasziniert mich das Spital als Unternehmen. Darin sind unterschiedliche Disziplinen kombiniert. Ein Spital benötigt Ärzte, Pflegepersonal, einen fundierten technischen Dienst, eine Administration. Als Unternehmensberater beäuge ich Krankenhäuser kritisch; die Automatisierung und Digitalisierung sind gering.

    Ich könnte mir sogar vorstellen, ein Spital zu optimieren. Ein Kanban-System für die Patientenaufnahme, mit unterschiedlichsten Serviceklassen anhand Lebensbedrohung; transparent mit Kanban-Karten am Haupteingang platziert. Mit einer geschätzten Wartezeit. Mit Standardprozeduren, die von flexiblen mechanical turks erledigt werden können.

    Und so weiter. Ich könnte problemlos dort wuseln. Ich könnte sogar Blut wegwischen, solange es nicht mein eigenes ist. Ich habe bekanntlich in der Pflege gewirkt; dort verstarben Menschen. Dort durfte ich Unrat, Erbrochenes wegputzen; ich durfte das Siechen begleiten. Das hatte mich nicht erschaudert.

    Doch sobald es persönlich wird, bin ich blockiert. Ich kann nicht mehr funktionieren. Ich kann problemlos retten, helfen, Wunden desinfizieren und verbinden. Aber ich könnte mir selber nicht helfen. Eigenartig, nicht wahr? Aber wiederum habe ich mich gebessert. Ich besuche Ärzte, ich lasse mich untersuchen.


  • Abermals alternd

    Früher quälte einen, ob man zu schnell, zu früh käme. Ob man die Ejakulation hinauszögern könne. Später sorgte einen, ob man überhaupt noch erigiert, ob nicht nach fünf Minuten Verkehr alles wieder zusammenbricht. Früher freute man sich über jeden Haarwuchs, später spriessen die Haare widerlich aus den Ohren und an den Zehen.

    Wie rasch man altert. Wie rasch der Körper zerfällt. Wie rasch man ermüdet. Das überrascht mich stets wieder. Auch ich altere, mehr oder weniger würdevoll. Ich beobachte die Jugend an den Bahnhöfen der Schweiz, in den belebten Bars Oltens und anderer Städte. Die Jugend ist immer frisch, unverbraucht und voller Leben.

    Ich aber muss mich mit schweren Themen beschäftigen. Beruflicher Erfolg und Anerkennungen knechten mich. Familienplanung und Beziehung fordern mich. Ich kann nicht mehr bedenkenlos feiern. Ich kann nicht alles im Alkohol auflösen. Ich kann nicht mehr Nächte vertanzen. Ich muss spiessiger werden.

    Ich bedauere das nicht. Ich kann mir stets ein wenig Jugend erkämpfen. Ich kann mir Freiräume schaffen. Ich kann diesen Raum mit meinen Liebsten besetzen. Dort kann ich auch jenseits der Vierziger noch meine Jugend simulieren. Dort kann ausbrechen, tanzen und feiern; alles geregelt und eingedämmt.

    Ich bin nicht alleine, der zaudert und zögert. Meine Generation besitzt Ableger in den grossen Städten, die lebenslänglich das Modell der Berufsjugendlichen kultivieren. Dort kann man das vagabundierende, studentische, unbeschwerte und unkomplizierte Leben verwirklichen. Sex ohne Beziehungen, Gin mit Tonic, die Zukunft verherrlichend.

    Ich werde vermutlich Olten verlassen. In einer fernen grossen Stadt das Leben umgestalten. Ich werde einerseits anständig und seriös und gesittet leben, aber gleichzeitig meinen Freiraum mit meinen Liebsten planen. Dort werden wir toben, dort werden wir uns angemessen vergnügen, um wieder heimzukehren.


  • Vergesslichkeit

    Ich vergesse. Ich vergesse, was geschah. Ich verdränge. Ich kann mich kaum noch erinnern. Ich kann bloss schreiben. Schreibend erinnere ich mich. Denn sonst verflüchtigen sich meine Gedanken. Ich fürchte mich vorm Vergessen. Und vergesse daher dauernd und ständig. Ohne Kalender, ohne Backlog wäre ich verloren.

    Ich muss meinen Tag mittels Notizen, Erinnerungen und Hinweisen stützen. Ich kann den Alltag ohne meine Helferlein nicht mehr bewältigen. Das besorgt mich zuweilen. Wieso vergesse ich stets und bloss? Wieso kann ich knapp meine eigene Telefonnummer merken? Aber nicht die meiner Liebsten? Was behindert mich?

    Bereits früher wollte ich alle Gedanken manifestieren, niederschreiben, damit dokumentieren und schliesslich konservieren. Die Vergänglichkeit bedrohte alles. Ich konnte erst einschlafen, sobald meine Gedanken notiert waren. Die modernen Technologien haben diese Angst gelindert. Natels können alles aufnehmen und schultern.

    Unangenehme Gedanken wie einen Arztbesuch kann ich komplett ausblenden. Unangenehme Erfahrungen kann ich komplett ignorieren. Ich kann meine persönliche Geschichte umschreiben. Ich kann mich zwar auseinandersetzen, ich beschäftige mich auch damit. Doch irgendwann beende ich eine Episode.

    Danach verschwinden meine Erinnerungen. Ich muss sie geradezu kultivieren. Ich muss mich stets wieder erinnern, damit ich nicht vergesse. Ich muss also meine gesamte Geschichte stets reflektieren und rekapitulieren; meinen gesamten Kontext. Ansonsten verliere ich ihn; er verdorrt im Tagebuch.

    Normale Menschen denken nicht so viel und zu viel nach. Das weiss ich. Ich quäle mich gewissermassen selber. Doch ich mässige mich auch. Auch hier beherrsche ich mich gut. Ich übertreibe nicht. Ich überfordere mich nicht. Ich weiss, was ich mir zumuten kann. Manchmal muss man einfach abschalten und darf vergessen.


  • Ein Schweizer in Paris

    In der Schweiz lebt es sich gut. Man kann ein gutes und bequemes Leben einrichten. Die Schweiz schockiert und verblüfft nicht. Unsere Städte sind überschaubar, freundlich und sauber. Niemand muss sich verlaufen. Niemand muss sich der Zukunft wegen sorgen. Und wenn, können die Sorgen kaum rationalisiert werden. Die Schweiz ist ein Freizeitpark.

    Ich mag Bequemlichkeit und Gemütlichkeit. Ich faulenze gerne. Ich entspanne mich damit. Dennoch besuche ich gelegentlich fremde Länder. Ich war kürzlich in Paris, eine klassische Weltstadt, eine klassische Sehnsuchtsmetropole. Gross, verwegen, bishin gefährlich. Die Stadt kann einen überfordern. Die Stadt überreizt die Wahrnehmung. Sie betört.

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    Allein die Sehenswürdigkeiten. In Bern kann man einen Nachmittag spazieren und alles Sehenswerte bequem erledigen. In Paris müsste man eine Woche verplanen, um alles und jeden zu besichtigen. In drei Tage schafft man nichts. Die Vielfalt lähmt, blockiert einen. Man müsste priorisieren und sich fokussieren. Ich war nicht gross interessiert.

    Ich hatte andere Interessen, die ich nicht publizieren muss. Ich habe den Eiffelturm funkelnd gesehen. Ich habe das Montparnasse-Hochhaus dominierend gesehen, das ich ausm Franzbuch noch kenne. Ich habe La Défense überragend gesehen. Den Triumphbogen habe ich einmal umkreist. Die Sacré-Cœur de Montmartre war auch irgendwie sichtbar.

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    Ich war einkaufend. Punkt. Die grossen und breiten Boulevards haben meinen Geist nicht angeregt oder irgendwie inspiriert. Die verwinkelte Metro ebenfalls nicht. Die vielen Problemausländer auch nicht, welche die Stadt überbevölkern. Paris war nie meine Sehnsucht, die viele Intellektuelle der Schweiz befällt.

    Dennoch ist die Stadt schön anzusehen. Man spürt, dass Frankreich zentralistisch regiert ist. Das gesamte Volksvermögen Frankreichs konzentriert sich in Paris. Die französische Industrie mag darben, der Kulturkonflikt verzweifeln und die politische Komödie erschaudern, aber solange der Franzose Paris hat, kann er gut schlafen.

    Der Prunk beeindruckt mich. Paris konserviert den französischen Weltanspruch. Paris dokumentiert die Grösse Frankreichs. Als Schweizer kann man das nicht verstehen; wir haben keine Alleen, wir haben keine Statuen. Wir haben kein Obelisk des alten Ägyptens, das einen grossartigen Platz schmückt. Wir haben keine Helden des Krieges.

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    Die Schweiz mag zwar kompetitiv, wirtschaftlich effektiv und effizient sein. Wir sind reich, angeblich glücklich und besonnen versichert. Aber unsere Städte können nicht verzaubern, nicht faszinieren oder imponieren. Wir haben das auch niemals beansprucht. Deswegen irritieren Städte wie Paris. Paris muss fesseln, muss kitzeln. Das ist Paris’ Zweck.

    Denn Paris eint Frankreich. Die Schweiz konnte sich nie richtig auf eine Hauptstadt verständigen. Bern war ein fauler Kompromiss, immerhin besser als Aarau. Eine Planstadt in meiner Nachbarschaft hatte man früh verworfen, weil zu teuer und weil damit Bern, Basel oder Zürich oder die West- oder Südschweiz brüskiert worden wäre. Kompliziert.

    Ich war also in Paris. Ich bin beeindruckt. Paris war bislang meine grösste Weltstadt. Berlin ist ebenfalls mächtig. Aber Berlin hat keinen Charme, keine historische Grösse, keinen Prunk. Berlin ist zu hässlich, die Alleen wirken künstlich und wie von Hitler erzwungen. Zudem ist Berlin komplett zerstört und hastig wiederaufgebaut worden. Paris nicht.


  • Die Jahre des Schaffens

    Ich bin besessen, dass unsere schöpferische Lebensenergie endlich ist. Wir können zwar wirken und überzeugen, aber bloss befristet. Wir können nicht die Energie konstant gleich hoch dosieren. Wir verpuffen und verausgaben uns alle. Früher oder später. Wir verbrennen. Wir verwelken. Wir sterben.

    Ich prognostiziere allen Menschen mindestens fünf Jahre intensiver Schaffenskraft. Für fünf Jahre kann man lodern. In einem Thema, in einer Domäne. Man kann eventuell weltweit oder mindestens regional reüssieren. Sei es als Barkeeper, Journalist, Schriftsteller, Künstler, Geschäftsmann oder Playboy.

    Aber irgendwann ist die Energie verbraucht. Man verflacht. Man verfault. Man erschöpft das Thema. Man erzwingt, man ist verkrampft. Man ist nicht mehr spontan und schöpferisch und ungestüm. Man verliert gewisse Unschuld. Man ist zu bemüht. Denn alles, was entsteht, ist es wert, dass es zugrunde geht.

    Auch ich bin endlich. Auch ich kann alles verballern. Ich verschwende. Ich verschwende meine Themen, ich verschwende mein Leben. Doch bewusst. Ich achte und respektiere meine Zyklen. Ich starte bald eine berufliche Wiedergeburt. Meine künstlerische Phase endet aber. Vermutlich verhungert dieser Blog.

    Ich habe mich irgendwie verpflichtet für eine Kunstausstellung im Dezember. Aber diese werde ich vermutlich nicht mehr umsetzen. Ich will haushalten. Ich will mich schonen. Weil ich andere Ziele ebenfalls verfolge. Ich möchte meine künstlerische Energie nicht heute fehlinvestieren. Ich kann alles später nachholen.