Der einsame Wolf

Der einsame Wolf erwacht abends. Er wäscht sich. Trockenfleisch stärkt ihn. Ein Schluck Wodka, mit Red Bull gemischt. Nun ist er wach. Sein Hemd bügelt er nicht. Er trägt abgewetzte Lederschuhe. Sein Schal stinkt nach Rauch. Vermutlich der gestrige Abend. Sein Magen brennt. Sein Nateldisplay ist zerkratzt.

Er wappnet sich gegen die Kälte der Nacht. Bloss seine überholte Jacke wärmt ihn noch. Ansonsten ist er erkaltet. Kalt wie die Nacht. Stumpf wie Grossmutters Schere. Heute irrt er nochmals durch die Strassen. Er quält sich durch Bars, er tanzt in Clubs. Niemand begleitet ihn. Niemand kennt ihn. Er ist einsam. Die grosse Stadt hat ihn verschluckt.

Er verpasst die U-Bahn. Er raucht eine Zigarette. Er studiert den Zonenplan. Er löst kein Ticket. Er rebelliert. Junge Mädchen queren seine Blicke. Er beobachtet ihre Strümpfe. Er inspizierte die geputzten Schuhen. Er fantasiert die Mädchen nackt und wild. Geile Miezen, die enthemmt und empfänglich sind. Die U-Bahn bremst.

Er reist einige Stationen. Das städtische Ausgehviertel erwartet ihn nicht. Niemand erwartet ihn. Neonlichter, bezahlbare Frauen, lärmige Bars zieren die Strasse. Autos kurven und hupen. Junge Menschengruppen kichern und protzen. Alt und jung lallen. Die Nacht verspricht allen alles. Die Nacht erlöst, überwindet den Alltag.

Die erstbeste Bar betritt er. Er setzt sich an die Trese. Er bestellt ein wässriges Bier. Den obligaten Jägermeister spült er hinunter. Er dreht sich um. Hintenlinks knutscht ein junges Paar. Hintenrechts langweilt ein Männerabend. Er blickt zurück ins Glas. Sein Natel vibriert nicht. Er liest in seinem Buch. Alle dreissig Sekunden unterbricht er mit einem Schluck.

Das erste Bier ist leer getrunken. Was nun? Weiter in die nächste Bar? Ins Puff? Wieder nach Hause? Was verspricht die Nacht? Er bestellt das nächste. Erneut ein Jägermeister. Er liest weiter. Spannende Lektüre. Döblins Alexanderplatz. Knapp hundertjährige. Eine vergleichbare Epoche, denkt er sich kurz. Das zweite Bier ist ergebnislos leer.

Er verlässt die Bar. Er lungert weiter. Die Massen bevölkern die Strassen. Die Menschen werden lauter. Sie schwanken mehr und mehr. Die Lichter und Leuchtreklamen werden intensiver. Er wendet sich mehrmals; zurück und links und rechts und wieder vorwärts. Verfolgt man ihn? Vermutlich nicht. Niemand beschattet ihn.

Er stoppt hin und wieder, glotzt in die Bars. Er kann sich nicht entschieden. Soll er gehen oder nicht? Soll er warten? Worauf wartet er? Wonach sucht er? Er kann es nicht beantworten. Er kauft ein Mitnahmebier. Dosenbier. Im Zweifel ein Bier mehr. Er schlürft. Es schäumt. Das Bier unterkühlt ihn. Er raucht und taumelt weiterhin.

Die stadtbekannte Datingbar. Diesmal ist er fähig. Er versteckt sich Vornelinks. Bei der Bedienung ordert er einen Cocktail. Standesgemäss, meint er. Er lehnt sich zurück. Er erfasst den Raum. Sieben Dates zählt er. Blinddates. Die Menschen scheuen sich. Sie sind nervös. Sie wollen anbandeln. Sie begehren Nähe. Sie wollen sich verlieben.

Es wird misslingen. Davon ist er überzeugt. Es wird misslingen. Die Menschen können sich nicht verlieben. Sie müssen sich selber optimieren. Eine Partnerschaft belastet bloss. Der Cocktail ist geleert. Nochmals bitte, verkündet er selbstbewusst. Die Toilette verschiebt seine Feldstudie. Ein Pärchen knutscht aufm Nebenklo. Die Frau stöhnt, leicht hörbar.

Ein Reissverschluss wird geöffnet. Mann oder Frau? Er kann es nicht bestimmen. Er spült und reinigt die Hände. Wieder hoch. Die schnelle Liebe aufm Klo beglückt ihn. Immerhin der Sexualität noch fähig und willens, beruhigt er sich. Solange die Geburtenraten positiv sind, muss nichts besorgen. Die Nation wächst weiterhin. Perfekt.

Cocktail erneut. Allmählich ist er angeschwipst. Er mag nicht mehr lesen. Er schliesst die App. Doch was nun? Er mag nicht Menschen begaffen. Im Zweifel mehr Alkohol. Ein Shot, intensiv, kurz und schmerzhaft. So wie das Leben. Möglichst eklig. Ein kleiner Sadist. Er verdoppelt die Portion. Nochmals bitte. Er möchte sich vergessen.

Ein Cocktail und sechs Shots später muss er nicht mehr nachdenken. Unterwegs zum Herrenklo stürzt er. Es schmerzt nichts. Alkohol betäubt. Er pinkelt an seine Hose. Er kann nicht mehr gerade stehen. Das bekümmert ihn nicht. Die putzige Bedienung erinnert ihn, gewisse Haltung zu wahren. Er verliert jede Haltung und missachtet das ungeschriebene Gesetz.

Wer sich zu offensichtlich ersäuft, den vertreibt man rasch. Den will man nicht sehen. Weil er erinnert bloss an die Fragilität der Trinkkultur. Jetzt noch ein Held, morgen ein Absturz. Ein Seiltanz. Er ist nun eine unerwünschte Person. Er muss das Lokal verlassen. Er hat es übertrieben. Obwohl er nichts tat, nichts Schlimmes. Keine Randalen provozierte.

Er torkelt hinaus. Wieder auf der Strasse. Weiterhin kalt und dunkel. Die allgemeine Stimmung erlangt einen Höhenpunkt. Er ist aber nicht mehr auf der Höhe. Er verpasst die Stimmung, das Zeitfenster der Optionen. Er hat sich zu früh verabschiedet und abgeschossen. Er ist nicht mehr gesellschaftsfähig, alltagstauglich.

Wohin? Und vor allem wozu? Was motiviert ihn? Die Einsamkeit geiselt ihn zwar. Aber er ändert nichts daran. Er will sich nicht bessern. Er ist ein einsamer Wolf. Darin gefällt er sich schliesslich. Abends durch die Strassen zu schlendern, nicht wissend, wohin und wozu. Keine Bekanntschaften zu beginnen. Nichts zu treffen. Alles zu vergessen. Rhythmisch.

Er möchte heimlaufen. Er möchte nicht mit der U-Bahn fahren. Er möchte die Strassen spüren. So irrt er weiterhin. Das Vergnügungsviertel liegt bereits einen Kilometer rückwärts. Nun kreuzt er Wohnquartiere, Büroquartiere, gemischte Quartiere. Einen Fluss passiert er. Er pisst von der Mitte herunter. Er grinst kurz.

Ein Automat tröstet ihn mit Süsswaren. Weiter geht’s. Immer vorwärts, niemals rückwärts. Er nähert sich seinem Viertel. Bald erreicht er seine Strasse. Seine Strasse ist leer. Keine Anwohner flanieren. Keine Autos parkieren. Alles schläft. Alle Pärchen verwöhnen sich daheim. Vielleicht auch im Bett. Er partizipiert nicht. Er ist ausgestossen.

Er entsichert die Türe. Er fällt aufs Sofa. Er streift sich die Schuhe ab. Er deckt sich mit seiner Jacke zu. Er aktiviert den Fernseher. Er vergiftet sich mit Nazi-Dokumentationen. Die vergessene Front im Norden, so fühle er auch. Er ist die vergessene Seele. Bestellt, aber niemals abgeholt. Verpflanzt, aber nicht gehegt. Er fristet.

One thought on “Der einsame Wolf

  1. […] experimentiere weiterhin. Das letzte Mal eine Kurzgeschichte über einen einsamen Wolf. Zuvor beim Besuch einer Prostituierten. Oder bettelnd in der grossen Stadt. Oder die Erzählung […]

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