Autor: bd


  • Die Leichtigkeit des Seins

    Ein ehemals geflügeltes Wort hat sich angesichts der erbarmungslosen Lebenswirklichkeiten erübrigt. Ich beobachte nirgends und mitnichten eine permanente Leichtigkeit. Wir alle kämpfen, hadern und zaudern zuweilen. Wir verlieren uns. Wir stemmen uns gegen den wirtschaftlichen und sexuellen Verteilungskampf. Wie lange wir noch standhalten können?

    Wir sind alle verpflichtet, müssen arbeiten oder Partnerschaften pflegen. Manche verantworten bereits einen Kleingarten, andere Kleinkinder. WIr müssen unsere Verwandte treffen, mit unseren Freunden ausgehen; wir müssen uns weiterhin sozial auffrischen, verjüngen und stets den Wettbewerbsernstfall proben. Wir sind stets gefordert.

    Gelegentlich vertrösten wir uns mitm Eskapismus der zeitgemässen Kulturindustrie, streamen, fernsehen; durchklicken kuratierte Playlisten. Manche verreisen, weitere betäuben sich jeden Freitag; sie spülen den Zivilisationsdreck weg. Sie reinigen den Körper mitm grössten rezeptfreien Gift Alkohol. Das verbessert keine Gesamtsituation.

    Die Leichtigkeit des Seins empört mich. Wir können das Leben durchaus vereinfachen, wir können Unangenehmes ignorieren, das Ausgesprochene unaussprechen. Wir können uns bishin verstecken. Wir können Konflikten ausweichen. Ja, wir können die Leichtigkeit simulieren. Doch später erwachen wir immer wieder; die harte Lebenswirklichkeit existiert.

    Wir sollten uns alle mal entspannen und beruhigen; wir sollten Geschwindigkeit drosseln, wir sollten gelegentlich pausieren, die Umgebung erkunden. Wir sollten Zwischenhalte einplanen. Doch wir wir fürchten, dass wir etwas verpassen können. Deswegen beschleunigen wir unser Leben. Aber wir versäumen die Leichtigkeit des Seins.

    Stattdessen pulsieren wir, wir überdrehen, wir überfordern unseren Körper. Wir können nicht Lebenszeit verschwenden. Deswegen verausgaben wir uns; wir intensivieren die Jahre der begrenzten Schaffenskraft. Damit drangsalieren wir die eigentlich angeborene Leichtigkeit des Seins; diesen grossen Gleichmut des Weltgeistes gegenüber; eine Gelassenheit.

    Ich berate Menschen in Gelassenheit; sie sollen keinem unternehmerischen Aktionismus verfallen. Doch Menschen wollen stets reagieren, sie wollen Handlungsfähigkeit vorzeigen. Sie wollen nicht hinnehmen, sie können nicht akzeptieren. Aber manchmal muss mal warten; abwarten, aussitzen. Man muss nicht immer eine Gegenreaktion provozieren.

    Gewiss kann ich nicht uneingeschränkt Gelassenheit und Leichtigkeit predigen. Ich bin meistens mindestens acht Stunden täglich angespannt; ich prüfe mich selber, ich notiere ständig Verbesserungen; unternehmerische oder persönliche. Ich kann nichts weglassen; ich bin befähigt und ausgebildet, Systeme zu verbessern, immer weiterzuentwickeln.

    Ich bin ein Gegenteil der Leichtigkeit und Gelassenheit. Dennoch möchte ich verfügen, dass wir gelegentlich verzeihen, gelegentlich erdulden, gelegentlich einfach gestatten. Wir müssen nicht alle Konflikte austragen, wir müssen nicht die Welt retten, wir müssen nicht unsere Mitmenschen bekehren und belehren. Wir müssen uns einfach arrangieren.

    Passt das?


  • Masterarbeit verschoben

    Ich muss serialisieren. Ich kann nicht alles gleichzeitig erledigen, ohne irgendwo meine Qualitätsanforderungen zu reduzieren. Ich muss fokussieren. Mein ehemaliger Arbeitgeber hat mir das ebenfalls attestiert; ich war eine Art “Gemischtwarenladen”. Ich beherrschte viele Disziplinen und Künste, ich konnte sie einmalig kombinieren. Doch ich war keine Marke.

    Denn ich hatte keinen Fokus; kein eigentliches Kernthema. Dieses Thema habe ich mir vor allem im 2015 und 2016 erarbeitet; ich drängte und stürmte aufm Markt. Jetzt bin ich längst unterwegs zum nächsten Thema. Weil ich mich nicht lange thematisch fesseln kann. Das erklärt, wieso ich Unternehmensberater bin. Vier Jahre im selben Büro kann ich nicht.

    Jetzt zumindest habe ich mich befreit von einer Last. Ich habe meine Master Thesis verschoben; vermutlich in den nächsten Zyklus. Ich hatte in weiser Voraussicht meine vormals ambitionierten Anforderungen bereits gedämpft. Nun beende ich das komplette Vorhaben. Gewiss kränkt das meine Eitelkeit, meinen Stolz. Ich schwächle.

    Und ja, ich habe auch das Gefühl, mich rechtfertigen zu müssen. Ich verliere mein Gesicht; der unbesiegbare, unaufhaltsame David genügt sich. Er bremst. Obwohl er noch nicht müsste, obwohl er noch rasen könnte. Was ist los? Bin ich vernünftig geworden? Werde ich alt? Ist etwas vorgefallen? Wo bleiben Hochmut und Entschlossenheit?

    Ich bedauere meinen Entscheid nicht. Ich möchte mein Leben zunächst stabilisieren; beruflich wie privat. Ich habe genügend Themen zu bewältigen. Beruflich bin ich selbständig; ich arbeite selber und ständig. Ich geniesse jeden Abend noch ein bis zwei Stunden Nacharbeit. Die Auftragslage ist zwar gut, aber kann sich sofort ändern.

    Auch privat ist meine Situation noch nicht vollends geklärt. Noch habe ich keinen Betriebsmodus finalisiert, der mir eine sichere Basis bietet, wovon ich operieren kann. Ich bin noch zu sehr schwebend; es sind noch nicht alle Abläufe eintrainiert und abgestimmt. Unerwartete Ereignisse können das ganze System destabilisieren.

    Ich will die Zusatzbelastung einer Masterarbeit erst hinnehmen, wenn der “Rest” einigermassen funktioniert. Ich würde mir selber vertrauen, dass ich alles irgendwie hinkriege. Aber ich würde damit meine Mitmenschen vernachlässigen. Ich würde berufliche wie private Kontakte auslassen. Dort, wo ich nicht sparen möchte.

    Ich schütze eigentlich nicht bloss mich, sondern auch mein direktes Umfeld. Ich werde weniger schluderig, ich bin weniger gereizt, weil weniger gestresst und schlaflos. Ich verfüge dann noch Kapazitäten, unerwartete Ereignisse verarbeiten zu können. In einer Daueranspannung könnte eine Bagatelle mich jedoch auseinanderbrechen.

    Vermutlich werde ich einfach älter.


  • Das ewige Machtringen

    Beziehungen erfordern Gleichgewicht. Wir balancieren zwischen Selbstaufopferung und Selbstüberschätzung. Zuweilen verschütten wir etwas; wir überladen uns, den Partner und riskieren damit den Fortbestand der Beziehung. Ich selber pendle zwischen Aufopferung und Überschätzung. Ich übertreibe in beiden, allen Extremen.

    Einerseits: Du willst alles tun, du würdest dich totalst aufopfern; du investierst, du verausgabst dich. Du willst alles geben, alles zeigen, allen beweisen, wie sehr du jemanden magst. Du verknappst deine eigenen Ressourcen, Ansprüche; du reduzierst, du schweigst bishin. Du erduldest fast alles. Du bist wahrhaft verpflichtet und fühlst dich gut dabei.

    Andererseits: Du sehnst nach Anerkennung, Bestätigung. Du rast, du zweifelst konstant. Du fühlst dich nicht ausreichend gewertschätzt, ausreichend gewürdigt. Du bist schliesslich ohnegleichen; ohne Beispiel und wahrlich ein flotter Gewinn. Du erwartest, dass man in dich investiert, dass jemand alles für dich aufgibt, dich überallhin begleitet und hochblickt.

    Eine ausgemittete Beziehung kann gut funktionieren. Aber sie entwickelt keine Spannung, weil niemand angespannt ist; man ist stets sicher, sicher seiner selbst oder auch der Liebe des Partners. Man kann heimkommen und muss nichts befürchten. Man ist gemeinsam routiniert; man hat sich seit Jahren bereits arrangiert, bishin eine Erziehung geteilt.

    Menschen mit ähnlicher Persönlichkeitsstruktur stimulieren, überfahren einander. Wenn beide einerseits himmelhoch nach Anerkennung jauchzen, nach Selbstaufopferung gieren und andererseits gleichzeitig mit sich hadern, sich überfordern und Anspruch und Wirklichkeit verwechseln, dann ist eine “lebendige” Beziehung vorherbestimmt.

    Denn ansonsten würde ein Partnerteil automatisch glätten, abfedern; die Beziehung insgesamt beruhigen und damit entspannen, eben auch Spannung entladen und so verlangsamen. Ich könnte gut funktionieren; ich kann monatelang schweigen und ausharren, ich kann warten. Aber ich muss gelegentlich ausbrechen und eine Linie markieren.

    Mit Selbstüberschätzung argumentieren. Ich bremse die Selbstaufopferung. Ich kann bissig, irrational sein und mich zuweilen selber verschrecken. Doch ich stabilisiere mich schnell wieder; ein lieber Satz, eine liebe Geste und oder eine späte Selbsteinsicht normalisieren mich. Ich taumle dann wieder regulär zwischen Selbstaufopferung und Selbstüberschätzung.

    Ich habe vielfach beobachtet, dass Paare einander mit Machtspielchen anketten. Sowohl Mann wie auch Frau verfügen über eine gewisse naturgemässe “Hausmacht”. Der Mann droht mit fehlender Aufopferung, die Frau mit fehlender Zuneigung. Sie können sich tagelang ignorieren und aneinander vorbeileben. Eine kleine Gest kann’s unterbrechen.

    Ansonsten eskaliert das Machtspiel. Denn wenn beide einigermassen “ebenwürdig” sind, möchte niemand sich zurückziehen, so sich blossstellen und vermeintliche Schwäche offenbaren. Im Machtspiel muss man Härte und Entschlossenheit strotzen; man simuliert Unbeirrtheit und Unfehlbarkeit, obwohl alle wissen, dass wir uns selber täuschen.

    Ich habe unlängst übers Wechselwirken geschrieben. Das Machtspiel steigert das natürliche Wechselwirken innerhalb einer Beziehung. Die Intensität hat sich erhöht, was vor einigen Monaten noch harmlos war, kann sich nach Monaten folgenschwer und als verletzend herausstellen. Denn die Verletzungsgefahr wächst; man ist nicht mehr so immun.

    Man schwankt immer mehr. Die Alternative wäre, dass man nichts mehr zulässt oder wahrnimmt, der Partner bloss noch da, daneben und selbständig lebend ist. Man sich also allmählich entzweit, dennoch gut funktioniert. Selten darf man sich überschneiden; gemeinsame Kinder können das begünstigen.

    Eine Konklusion? Man soll sich nicht entmutigen lassen. Man soll weiter seiltanzen. Beziehungen erfordern kontinuierliche Aufmerksamkeit und Achtsamkeit. Man darf vor allem nicht bloss den anderen beschuldigen; man haftet immer gemeinsam, man bürgt gemeinsam. Und sobald institutionalisiert, bis zum Tod.


  • Wir kapitulieren

    Unterwerfung. Diesmal verknüpft Houellebecq die Alterung eines Mannes, der zurückgezogen haust, bloss noch an jungen Studentinnen und Negernutten sich ergeilt, mit der Degeneration der westlichen Zivilisation im Allgemeinen und Frankreichs im Speziellen, das ohnehin im schweizerischen Massstab bald als gescheitert gilt. Eine Besprechung.

    Das ist der Hintergrund. Demgegenüber strotzt ein vitaler, männlicher und kräftiger Islamismus, der zunehmend die Mitte der Gesellschaft Frankreichs erobert. Die Vielehe stimuliert normalerweise mit ihren unbeweglichen und aufsässigen Frauen überforderten Altherren. Eine junge Frau fürs Sexuelle, eine mittlere fürs Soziale.

    Die Hauptfigur verdingt sich als Kenner des historischen Schriftstellers Huysmans. Damit möchte Houellebecq auf die ziellose, identitätsgestörte und vor allem ausweglose Gegenwart referenzieren; auf ein Europa, das sich zunehmend paralysiert aufgrund Angst vor Rechts und Furcht vorm Islam respektive vor der Überfremdung.

    Das gelingt gut. Der Islam, verkörpert durch ihren Anführer Ben Abbes, agiert behutsam, aber entschlossen. Der Islam spaziert durch die Institutionen und bemächtigt sich kontinuierlich; die klassischen Parteien erodieren und kapitulieren. Allein die rechtsnationale Front wehrt sich. Ein Bürgerkrieg tobt im Verborgenen.

    Houellebecqs Hauptfigur beteiligt sich aber nicht gross. François ist mässig vernetzt. Neue Fertiggerichte oder Prostituierte können ihn begeistern. Er versinnbildlicht einen müden, widerstandslosen, bewegungslosen, gealterten und uninspirierten Westen. Schliesslich liebäugelt auch François mit der Unterwerfung.

    Der Roman soll einen empören und wachrütteln. Der Zeitgeist beglückte Houellebecq. Die Promotion des Buches unterbrach ein islamistischer Terroranschlag; dieser Zufall ist frappierend. Ich möchte keine Zusammenhänge konstruieren. Das beweist bloss, dass Houellebecq auf der Höhe der Zeit ist. Nicht, ob er Recht behalten würde.

    Den Roman kann man nicht in die Schweiz übersetzen. Unsere SVP operiert ziemlich gemässigt. Die Überfremdung ist vernachlässigbar. Wir kultivieren keine Gebiete der Abgehängten und Randständigen. Unsere Politik ist seit Jahrhunderten im Grundsatz elitenfeindlich und populistisch. Das Volk hat immer Recht.

    Wir fürchten uns also weder von Rechts noch vorm Islam. Wir haben Minarette rechtzeitig verboten, als Muslime sie bauen wollte. Wir diskutieren über ein Verhüllungsverbot, doch bislang ohne nennenswerten Konsens. Das Christentum beseelt uns längst nicht mehr. Wir identifizieren uns mitm Sonderfall Schweiz. Die übrigen mit ihrem Job und/oder Arbeitgeber.

    Das ist Houellebecqs jüngster Roman. Im vergangenen Jahr hat er ein Gedichtband publiziert. Wie Houellebecq Unterwerfung noch toppen kann, weiss ich nicht. Vermutlich ist seine Schaffenskraft angejährt. Er kann bloss noch den Dandy kopieren, hier und da Weltuntergangsstimmung verkünden. Einen würdigen Abschluss seiner Karriere lieferte er mit Unterwerfung.


  • Zweckloser Widerstand im Tatort

    Kürzlich habe ich eine Tatort Folge begleitet. Ich bevorzuge eigentlich den schweizerischen Bestatter. Dieser wirkt im schweizerischen Mittelland, konkret in meiner Heimat. Dennoch hat mich die Tatort Folge überrascht. Sie thematisierte den zwecklosen Widerstand gegen die aktuelle Gesellschaft. Ein technisch erfolgreicher Bursche quittiert alles.

    Er rebellierte mit einer Tat, die niemand erklären konnte. Er drohte mit der Vergiftung seiner weitaus erfolgreicheren Eltern; einen Politiker und eine Juristin. Zuvor hat er sie betäubt und entführt. Er hat sie in einem verlassenen Industriekomplex zwischengelagert. Von dort streamt er im Internetz seine Erläuterungen und Erklärungsversuche.

    Ich möchte bloss das Motiv des zwecklosen Widerstands aufgreifen. Die restliche Handlung der Serie möchte ich nicht nachbauen; im Internetz tummeln sich genügend Rezensenten. Die Folge hat einmal mehr bewiesen, dass Widerstand zwecklos ist. Dass man sich nicht wehren kann. Man muss sich fügen und anpassen. Man kann keine Alternative entwerfen.

    Man muss arbeiten. Man kann zwar innerhalb der privilegierten Arbeit gewisse Freiräume simulieren, einen gewissen Willen ausspielen. Doch im Grundsatz sind unsere Lebensentwürfe vorherbestimmt, festlegt. Man kann nicht ausbrechen. Man darf die Missstände anprangern, sich empören und beklagen, doch verändern kann man nichts.

    Entweder profitiert man, integriert sich. Oder man verliert. Dazwischen ist nichts. Dazwischen ist bloss das Leiden. Man quält sich. Als Verlierer kann man sich immerhin vertröstet, dass man sich bewusst verabschiedet und ausgegrenzt hat. Dass man darin seine bescheidene Freiheit zulässt. Das ist legitim. Ich verurteile das nicht.

    Kluge Eltern wollen das Kind vorbereiten. Sie wollen es rüsten für den Verteilungsdschungel grosser Konzerne. Für die Intrigen und Machtkämpfe grosser Organisationen. Für das Politische und für die bescheidene Liebe. Sie meinen es durchaus “gut”. Sie wollen bloss das beste, fördern und fordern das süss-verspielte Kleinkind.

    Sie entzaubern die Kindheit, damit das Erwachsenenleben nicht zu sehr enttäuscht und verletzt. Schliesslich mussten sie selber die Kosten der Anpassung ertragen, sie mussten selber die Schmerzen des Systems erdulden. Sie haben selber Träume geopfert, Ziele verschoben und Ideale preisgegeben. Das darf sich nicht wiederholen.

    Ich hatte mich vor einigen Jahren komplett zurückgezogen. Ich wollte mich von dieser Welt verabschieden und ich wollte trotzen. Doch vergebens. Gewisse Makel dieser Vergangenheit bezahle ich noch heute; mit Unverständnis meiner Mitmenschen. Doch ansonsten bin ich so gut als möglich im System beteiligt und vor allem verpflichtet.


  • Der erfolglose Karrierist

    Er atmet Grossstadtluft. In der Schweiz. Er wohnt angemessen. Er arbeitet durchaus solide. Das Gehalt entschädigt für die Längizyt. Seine Anzüge sind geschneidert, seine Schuhe geschustert. In der Newsbar ordert er sein feierabendliches Heineken Lagerbier. Dort versammeln sich die Arbeitskollegen. Ein-zwei Bierchen, danach ins nahe Movie.

    Die Anstellung definiert, wer und was er ist. Die Visitenkarten sind stets griffbereit, im preisunsensitiven Piquadro Leder-Etui einsortiert. Ein englischklingender Titel imponiert. Mit 30 zuletzt noch Associate, einige Jahre später eventuell Consultant. Vermutlich bald das nächste Lohnband erkämpfend. Ein SSC in Breslau digitalisiert seine Belegspesen.

    Er wühlt im Verteilungsdschungel eines weltweiten Grosskonzerns. Wo EOB immer eine Frage der Zeitzone ist. Wo die Miezen kostümiert, parfümiert und geschminkt sind. Wo die Altherren meliert, klobige Uhren tragend und Geckos Weisheiten posaunend sind. Wo es sich anschickt, Überzeiten zu vertuschen und Schwächen auszunutzen.

    Davon erzählt er stets. Er will aber nicht bemitleidet werden. Er will anerkannt werden. Dass er dort überleben kann. Auch wenn sein MD ihn wieder piesackt; ihn zu Mehrarbeit drängt, Verrechenbarkeit verlangt. Er wünscht, dass er mich beeindruckt. Er möchte, dass ich ihn billige. Doch ich verwehre. Ich frage, wer und nicht was er ist.

    Danach schweigt er. Er schluckt. Die Jahre fristet er. Doch bewirken kann er nichts. Die interne Prozesse lähmen und paralysieren ihn. Er muss Stellvertreterkriege führen. Er muss sich politisch äussern. Er muss Loyalität simulieren. Er muss Kunden melken. Er muss Kennzahlen optimieren. Nach zehn Jahren landet er im Partner Fastrack.

    Bis dahin hat er sich verausgabt. Zwischenzeitlich inspiriert ihn House of Lies. Alle fünf Minuten beteuert er seinem Mitbewohner, dass die Serie bloss Tatsachen spiegle, dass sein Konzern nicht besser sei. Er schmachtet im kokettierenden Zynismus. Er sei halt ein harter Krieger, jahrelang erprobt und erfahren.

    Jahre später zerstört ein weitaus agiler, weil anpassungsfähiger Mitbewerber aus dem Mittelland, aus einer unscheinbaren Adresse Oltens, das komplette Geschäftsmodell. Die Kunden bezahlen nicht mehr den Namen, sondern die Leistung. Der Kunde ist fortan ein Prosumer. Der Kunde ist autonom, selbständig und unabhängig.

    Er bewirbt sich, aber vergebens. Er gilt als ausgestorbene Rasse, die nicht mehr vermittelbar ist. Die Jahre des Verteilungsdschungels, der unsäglichen Budgetdebatten und queren Politik haben ihn verdorben. Er kann nicht mehr den Kundennutzen fokussieren. Er verliert seine Anstellung. Er ist arbeitslos. Was nun?


  • Die unbekannte Schmerzgrenze

    Das Volk ist beunruhigt. Die allgemeine Digitalisierung vernichtet Arbeitsplätze. Die Wirtschaftsflüchtlinge unterminieren den Sozialstaat. Der Städter trennen sich vom kantigen Mittelland. Obama verabschiedet sich von der Weltpolitik, die Briten verbarrikadieren sich auf einer Insel. Die Terroristen durchqueren den Schengen-Raum.

    Mich überrascht nicht, dass das grosse Unbehagen sich entladen muss. Mich überrascht nicht, dass man den Unmut den Fremden zuschiebt, dass man die Fremden beschuldigt. Die Fremden müssen “herhalten”. Denn bloss sie sind fassbar, sie zeigen sich. Sie kann man erkennen respektive unterscheiden und somit beschimpfen.

    Der abstrakte Feind der globalisierten Digitalisierung kann man nicht verorten. Er versteckt sich hinter, in Logen grosser Netzunternehmen und Beratungsdienstleistern. Man kann dagegen keinen Widerstand leisten; man ist einmal mehr ohnmächtig. Auch Terroristen enttarnen sich naturgemäss nicht. Genauso der intellektuelle Stadt-Land-Graben.

    In der Schweiz kann man keinen Graben identifizieren. Wer mitm Interregio von Zürich nach Basel via Baden fährt, wähnt sich dauernd in einer gigantischen Stadt mit sechs Millionen Einwohnern. Die in der lokalen Kulturindustrie beschönigte Schweiz ist mindestens hundert Kilometer entfernt, quasi kaum existent.

    Anfangs Jahr berichtete die NZZaS über organisierte Krawallen gegenüber Ausländern in Polen. Gewiss ist Polen weit entfernt, gewiss kann man polnische Zustände nicht mit den Rankwogs und Chalchofens der Schweiz vergleichen. Unsere Rechten wie Linken sind gemässigt, sind allesamt gebändigt.

    Ich befürchte also nicht, dass freitags ein Mob Muhens im dortigen Flüchtlingsheim zündelt, Frauen und Kinder aufspiesst und die Nachbarschaft aufschreckt. Ich glaube nicht. Ein kleines Zeichen aber könnte mich umstimmen. Ab einer allgemeinen Arbeitslosenquote von 10% könnte ich mir eine gewisse Radikalisierung vorstellen.

    Die Schweiz dümpelt aber seit Jahren unterhalb der 4%-Marke. Wir feiern eine quasi Vollbeschäftigung. Wir sind einigermassen gesättigt. Die Jugendarbeitslosigkeit ist vernachlässigbar, jeder Pensionierte startet mit einer minimalen Pensionskasse von einer halben Million. Die soziale Situation ist entspannt.

    Ich bin überzeugt, dass die allgemeine soziale Stimmung einer Nation deren Alltags- und Wahlverhalten beeinflusst. Der Aufstieg radikalisierter Gruppierungen wie beispielsweise in Frankreich, Deutschland und Italien und schliesslich in den USA beweist, dass eine Nation sozial nicht mehr ausreichend geeint und befriedet ist.

    Ich möchte gerne eine “Schmerzgrenze” erraten, ab wann sich eine Nation fundamental wandelt und allen den Krieg erklärt. Ab wann die Öffentlichkeit toleriert, dass fremde Mitmenschen gejagt und gedemütigt werden können. Denn im allgemeinen Umgang mit Armen und Fremden messe ich den Grad der Zivilisation und Vernunft.


  • Herkunft Olten

    Meine Herkunft ist eigenartig. Olten ist in der Schweiz bekannt, doch nicht gerade für Schönheit und Urbanität. Olten fristet im Mittelland. Olten war jahrhundertelang ein Untertanenstädtchen des schön-fernen Solothurns. Erst die Industrialisierung und damit die SBB befreiten Olten. Seitdem hat sich Olten einigermassen “entwickelt”.

    Es ist eine mittelländische Kleinstadt. In Nachbarschaft liegen Zofingen, Langenthal und Aarau. Diese Städte konkurrieren stets. Sie sind alle innerhalb zehn Minuten Zugverkehr erreichbar. Aarau gleicht aber bereits Zürich West. Die Bars und Menschen orientieren sich nach Zürich. Zofingen harmoniert mit Luzern und Bern. Langenthal kennt nur Bern.

    Olten ist ein Kaff. Olten aber behindert einen nicht oder nie. Die Stadt ist grossgenug, dass man jahrzehntelang nebeneinander leben kann. Ich kenne weiterhin Menschen, die weiterhin in Olten wohnen, die ich aber nirgendwo treffe. Manchmal erstaunt mich diese Art der Fragmentierung. Bereits in Olten existieren Parallelgesellschaften.

    Gewiss können die Menschen hier einen erschrecken und ekeln. Wer den Bahnhof betritt, muss sich mitm Elend, was die Schweiz zu bieten hat, auseinandersetzen. Dieses Elend kann man zwar nicht mit deutschen Grossstädten mithalten. Dort, wo eine richtige Unterschicht sich ausbreitet. Aber für schweizerische Verhältnis dennoch beachtenswert.

    Unsere Oltner Literatur beschreibt schwierige Lebensläufe. Fragile, gescheiterte. Sie streben nach Glück, werden aber enttäuscht. Sie zerbrechen. Sie sind nicht geschult oder trainiert fürs Leben. Sie alle wollen das Kaff verlassen, wollen in die ferne Grossstadt auswandern. Sie alle fühlen sich erdrückt und beobachtet. Man kennt sich.

    Aber die Literatur dramatisiert. Sie überzeichnet. Die Lebenswirklichkeit in den mittelländischen Kleinstädten ist weitaus unaufgeregter. Olten ist ein solider Wohnort, die Mieten sind preiswert, das Angebot bemerkenswert. Die Kultur lebt. Die Randständigen sind gut versteckt. Die Ausländer hausen in Rankwog und Chalchofen und rauchen Shishas.

    Derzeit formiert sich eine Gruppe Bekannter. Ich habe kürzlich ihren Antrag auf politische Ernsthaftigkeit bezeugt. Diese Gruppe möchte demnächst kandidieren. Ihr Frontmann K. gastierte an den letzten Wahlen auf einer sozialistischen Freak-Liste. Er konnte immerhin weitaus mehr als zweitausend Stimmen mobilisieren. Beachtenswert.

    Oltens Ausgangslage ist nicht so trostlos wie oftmals bedauert. Ich möchte Olten nicht heiligsprechen. Olten kämpft mit gewissen issues. Doch die schlimmsten wie Drogenhandel und Prostitution konnten eingedämmt werden. Auch die Finanzkrise ist mittlerweile überwunden. Das vormals national bekannte Budget-Desaster ist weitgehend vergessen.

    Ich werde Oltens Schicksal gewiss weiterhin beobachten. Wenn auch aus der Ferne. Trotz alldem bin ich der Stadt verbunden und auch dankbar. Dankbar, dass sie mich stets aufgenommen hat. Dass sie mich niemals verurteilt oder ausgestossen hat. Olten ist eine geduldige und leidensfähige Mutter. Sie liebt alle.


  • Die automatische Musterübernahme

    Ich habe ein Muster beobachtet, das mich stört. Wenn mich jemand verletzt, dann verletze ich jemanden. Nicht unbedingt diese Person, die mich verletzt hat. Sondern irgendeine. Den Schmerz leite ich weiter. Das beruhigt mich, macht mich leidensfähiger dort, wo ich verletzt werde. Doch das Muster gefällt mir nicht.

    Wenn ich mich einigermassen unterwerfe, dann dominiere ich eine andere Person. Ich kompensiere stets. Ich tradiere damit Verhaltensmuster, die ich normalerweise nicht billigen würde. Ich mache mich mitverantwortlich. Weil ich das Muster nicht durchbreche. Weil ich mich nicht wehre. Sondern einfach weitergebe.

    Wenn mich also das nächste Mal jemand verletzt, dann stoppe ich. Dann kommuniziere ich, dass ich das Verhalten nicht unterstütze. Ich muss konfrontieren. Im Beruf gelingt mir das mühelos, weil der Geschäftsanzug mich schützt und quasi panzert. Im Privatleben hingegen operiere ich weitaus unreflektierter.

    Im Privatleben möchte ich mich nicht einmauern. Ich möchte in Beziehungen nicht einfach erkalten und erstarren und mich permanent abgrenzen müssen. Ich möchte aber auch nicht mir unliebsames Verhalten imitieren und an Unschuldige weiterreichen. Ich beobachte vielfach, dass dieses Verhalten auch vererbt ist.

    Wenn meine Mutter ihre Mutter schlecht behandelt, behandle ich meine Mutter ebenfalls automatisch schlecht respektive schlechter. Anstatt die Linie zu stören oder zu korrigieren, führe ich sie fort. Die Alternative ist, dass ich das Mutterverhalten ablehne. Und mein Verhalten meiner Mutter und vor allem anderen Menschen gegenüber ändere.

    Dasselbe Muster kann man auch bei Ordnung und Sauberkeit anwenden. Wenn die Umgebung unordentlich ist, ist man automatisch unordentlich. Obwohl man selber normalerweise ordentlicher wäre. Doch die Umgebung beeinflusst einen. Man muss auch hier opponieren. Auch hier muss man Widerstand leisten, ohne dass man kompensiert.

    Co-Abhängigkeit basiert ebenfalls auf diesem Muster. Ich bin gesund, ein Kollege krank. Ich brauche den kranken Kollegen, der mich indirekt aufbaut. Ich kann mich damit vergrössern. Wiederum kopiere ich das Verhalten, indem ich mich anderswo dann beklage, wieviel ich für meinen kranken Kollegen investiere. Dort tauschen sich die Rollen.

    Das sind gängige Beispiele eines Verhaltens, das mittlerweile standardisiert und in der Schweiz akzeptiert ist. Die Liebe mit Bedingung ist ebenfalls darin verwickelt. Wir konstruieren absurde Bedingungen bloss, weil wir das Verhalten beobachtet und als erfolgreich irgendwo anders empfunden haben.

    Ich bemühe mich, diese Muster zu erkennen und mich selber zu hinterfragen. Allerdings muss ich gestehen, dass ich manchmal erfolglos bin. Ich kann mich nicht immer befreien. Stattdessen verfestige ich das Muster, ich versteife. Ich transportiere das Muster damit auf die nächste Generation, auf weitere Menschen.

    Es ähnelt einer sozialen Epidemie. Ich vermute, dass die unterbewusste Musterübernahme grosse soziale Trends wie Individualisierung beschleunigte. Denn die Muster erzielen irgendwo einen beobachtbaren Erfolg und werden daher reproduziert. Sie simulieren eine Alternativlosigkeit. Doch ich behaupte, es existieren immer Alternativen.


  • Was machst du so?

    Du bist in Zürich. Ein Weihnachtsessen eines Finanzberaters blockiert die Bar. Deine Begleitung duzt den Kellner. Du wirst hineingelassen. Du setzt dich nieder. Du lockst und köderst. Du willst zwei Talente abwerben. Du hast eine Mission. Plötzlich gesellt sich eine Gruppe Menschen, gemischt im Geschlecht.

    Die ersten Konversationen starten. Man toppt und übertrumpft. Die erste Frage ist jene des Berufes. Ein Klassiker Zürichs. Die wichtigste Frage überhaupt. Ich beende die Neugierde mit einem simplen “arbeitssuchend”. Ich habe meinen Status masslos heruntergesetzt. Meine Talente wetteifern. Der eine ist bei EY, der andere in der Industrie.

    Ich beobachte die Szene, frage hier und da gezielt nach. Ich entschlüsse den Beruf und die Herkunft der Gegenpartei. Treuhänderin, Horgen. Sie führt einen grossen Bereich. Sie ist ungefähr meines Alters. Sie verschwindet. Ich bin erleichtert. Ich will nicht mit fremden Menschen meine Person inszenieren.

    Ich will bloss meine Talente überzeugen. Ich will sie unterschriftsreif säuseln. Ich will, dass sie die Firma annehmen, dass sie sich beteiligen. Dass sie ihre sicheren Jobs kündigen und das Abenteuer mit mir wagen. Ich bin eine Art Leuchtturm, eine Art Referenz und Grösse. Ich bin eigentlich bemerkenswert. Ich vermittle ihnen meine Kultur.

    Plötzlich nähert sich die Treuhänderin wieder. Ich bin angeschwipst. Natürlich. Das kann ich nicht verschweigen. Ich kann schwatzen, palavern und übertreiben. Sie will endlich wissen, was ich tue. Wer ich sei und so weiter. Woher ich stamme, wie ich wohne. Was ich arbeite. Und überhaupt, was ich hier tue.

    Ich erkläre in totaler Nüchternheit und Unaufgeregtheit, dass ich als VRP hier neue Talente begeistern möchte. Sie interessiert sich für mich und meine Biografie. Ich möchte nicht erzählen, ich möchte nicht ausholen müssen. Ich verkürze und überspringe einige Passagen. Ich will nicht flirten. Sie nähert sich.

    Sie möchte nun konkret erfahren, was ich konkret tue. Sie signalisiert ihr Interesse. Sie blufft mit ihren “alten” Visitenkarte. Doch ich will und kann nicht erklären, was ich so tue. Ich verstecke mich in klassischen Phasen wie “Prozesse verbessern”, “Vorgehensmodelle etablieren”, “Innovationen ermöglichen”. Alles wahr, aber nicht gerade überzeugend.

    Ja, meine Talente doppeln nach, wollen assistieren, wollen beglaubigen und beherzigen. Doch die Treuhänderin amüsiert sich bloss. Sie amüsiert sich, dass wir nicht veranschaulichen können, was wir eigentlich tun. Und das ist das, was mich schlussendlich stört und auch weiterhin beschäftigt. Ich hatte meinen elevator pitch.

    Aber ich bin grandios gescheitert. Ich konnte einer halbklugen Treuhänderin, die einigermassen unterrichtet ist wirtschaftlichen Belangen, nicht aufzeigen, was der added value unserer Unternehmensberatung sei. Das nächste Mal werde ich wohl vereinfachen müssen, ich repariere Computer.