Month März 2017

Fragend führen

Auf Team-Level glücke ich; ich bin der bodenständige Kumpel. Ich bin eine Vertrauensperson. Mit meinen Techniken kann ich gut beeinflussen, formen und gestalten. Ich bin sehr suggestiv, sehr manipulierend. Und sehr erfolgreich. Aber aufm C-Level scheitere ich derzeit grandios. Ein ehemaliger CEO hat mich mal enttarnt.

Er hatte aufgedeckt, dass ich ihn permanent beeinflusse und unter Druck setze, um meinen Willen durchzusetzen. Auf C-Level sind die Eier grösser, die Egos komplizierter. Mit meinen althergebrachten Techniken scheitere ich dort. Es geht nicht also nicht darum, dass das C-Level eine Idee von mir “mietet”, sondern meine Ideen “besitzt”.

Nicht Rent-a-David, sondern Own-a-David. Ich muss sie so überzeugen, dass sie einerseits die Dringlichkeit erkennen und andererseits die Lösung dazu selber erarbeiten können. Und das Gefühl haben, dass das alles ihre Eingebungen waren, aber sie dennoch mich in diesem Prozess als unerlässlich und kompetent empfunden haben und mich jederzeit empfehlen würden.

Eine klassische Prozessberatung quasi. Doch ich bin derzeit ratlos, wie mir das gelingen soll. In der Theorie bin ich einigermassen geschult; ich glaube sogar zertifiziert darin. Aber in der Praxis noch nicht ausreichend erprobt. Deswegen konstruiere ich derzeit einige Rollen-Spielchen. Das mag wohl “muschihaft” anmuten, ist aber notwendig.

Denn im C-Level hat man bloss eine Chance. Sobald ein C-Level bemerkt, dass man ihn beeinflussen, ja gar manipulieren möchte, wird man sofort entfernt. Ich kann mir einen solchen Fehler nicht erlauben, ich schultere erhebliche unternehmerische Risiken und muss daher ein wenig strenger sein. Folglich übe ich bloss, trainiere für den Ernstfall.

Die Verantwortungs-Falle

Ich lebe derzeit prekär. Ich muss erstmals grosse Verantwortungen schultern. Nichts kapselt oder beschützt mich. Der Überlebenskampf ist besonders im Geschäftsalltag brutalst. Alle existenziellen Situationen durchbohren mich. Ein neuer Mitbewerber räkelt sich, ein ehemaliger CEO droht; ich werde hinterfragt, ich werde herausgefordert.

Früher bewahrte mich eine grosse Gelassenheit, ich wurde nicht unruhig. Doch mittlerweile werde ich affig, ich brunze und brülle. Ich will einschüchtern. Mein Ego überspannt. Das Verhalten irritiert meine Kollegen; sie kennen mich nicht so. Bislang ist’s dreimal ereignet. Erst, ja. Dreimal zu viel aber, denn erst jetzt konnte ich das Muster reproduzieren.

Jede Eingangsrechnung belastet mich. Wenn das Kontokorrent das einbezahlte Aktienkapital unterschreitet, muss ich durchseufzen. Wenn der Kunde eine Rechnung zwei Tage verspätet bezahlt, besorgt mich das. Alles ist so unmittelbar. Niemand filtert; niemand deckelt das unternehmerische Risiko. Ich fühle mich totalst tiefergelegt, näher am Asphalt.

Ja, und deswegen bin ich überreizt und überreagiere beruflich. Ich bin ziemlich angespannt; ich kontrolliere täglich das Kontokorrent. Obwohl ich weiss, dass ich weder einen grossen Zufluss noch Abfluss befürchten müsse. Meine Kollegen sind diesbezüglich entspannter. Sie tragen bereits Verantwortung; sie haben bereits eine kleine Familie zu nähren.

Ich konnte mich bislang durchmogeln. Ich konnte mich in Kommunen verstecken. Ich konnte mich immer irgendwo versorgen. Mich knapp ernähren, manchmal Geld leihen, eine grosse Liste führen. Doch nun haben sich die Verhältnisse geändert. Nun will man sich auf mich verlassen können. Ich werde erwachsener, ich werde ruhiger.

Die berufliche wie private Verantwortung intensivieren das Leben. Plötzlich betrifft einen alles. Man kann nicht mehr hinwegsehen, etwas weglächeln oder auch wegtrinken. Man muss sich immerzu stellen, man kann nicht mehr sich verkriechen. Man muss stattdessen Herausforderungen meistern. Jetzt zeigt sich erst wahre Gleichmut, wahre Gelassenheit.

Jetzt erst trennen sich Selbstwahrnehmung und Wirklichkeit. Wie cool bin ich wirklich? Ich fühlte mich früher im verantwortungslosen Zustand immer cool. Rückblickend kann man denn das auch stimmig begründen. Werde ich in verantwortungsvoller Zukunft weiterhin cool bleiben? Oder werde ich eine kleine Diva, eine kleines Sensibelchen? Ein Dramaqueen?

Wie cool bin ich, wenn die konservative Finanzplanung einen Verlust von 9’000 CHF jährlich vorrechnet? Wie cool bin ich, wenn die Anwaltskosten sich noch verdreifachen können? Wie cool bin ich, wenn ich als Privatperson rechtlich belangt werden kann? Wie cool bin ich, wenn ich einige einflussreiche Feinde kenne? Wie cool bin ich mit knapp 8’000 CHF monatlichen Fixkosten? Ziemlich uncool, oder?

Ich glaube, ich muss mich erst an diese grosse Verantwortungen gewöhnen. Mich einleben und arrangieren. Ich darf nicht erwarten, dass ich bereits heute alles locker-flockig wegstecke, locker-flockig durch den Alltag tänzle, locker-flockig auf Konfliktsituationen antworte, locker-flockig unter der Dusche Diskodauerbrenner nachäffe. Alles muss ich mich gedulden; mal schauen.

Meine politische Partei

Ich liebäugle seit zwanzig Jahren mit einer eigenen Partei. Das Parteiprogramm konnte ich jeweils locker-flockig ausschütteln. Ich bin irgendwie besessen. Ich weiss, dass ich noch ein wenig gedulden muss. Ich musste bereits meinen ersten grossen Eifer mit sechzehn bremsen; damals war ich ungestüm und motiviert.

Mittlerweile begünstigt der Weltgeist mein Ansinnen. Die meisten Parteien verbreiten keine grossen Ideen mehr. Das Zeitalter der grossen Ideen ist seit den Neunziger offiziell beendet; der Islamismus war bloss ein symbolischer Widerstand gegen die Alternativlosigkeit. Der islamistische Terrorismus verpufft heute mehr denn je; er ist einkalkuliert, berechenbar.

Jüngst triumphieren die Populisten. Sie ködern mit grossen Ideen, sie beantworten schnell und rasch, versprechen zu lösen und zu handeln statt zu diskutieren. Sie überrennen fast alle politischen Systeme, ausgenommen das schweizerische. Jedesmal ärgere ich mich, weil ich das auch könnte und dürfte, doch stattdessen verstecke ich mich.

Ich warte seit Jahren auf ein dringliches Erweckungserlebnis; jede Partei zehrt von einem Gründungsmythos. Doch vergebens. Dabei wäre meine Partei grandios. Weil sie einerseits populistisch und satirisch ist, andererseits entschlossen alternativlos mit einem totalen Anspruch, die Welt radikal zu reformieren.

Das erste Ziel ist eine Weltregierung. Ich möchte alle Nationalstaaten überwinden und die Welt stattdessen als gleichberechtigte Föderation strukturieren. Gewisse Autonomie möchte ich wahren. Ich möchte grundsätzlich die Schweiz auf die Welt skalieren. Eine kollegiale Exekutive, eine breite Legislative und eine unabhängige Judikative walten.

Das Volk kann jederzeit bremsen, eingreifen. Es muss sich bloss organisieren. Das bedingt jedoch eine absolute Transparenz. Das Volk kann bloss entscheiden, führen, wenn es ausreichend Kontext hat. Alle Informationen sind also präsent und werden nicht gewertet. Niemand übernimmt deren Deutung. Die unterschiedliche Medien berichten perspektivisch.

Meine Politik möchte auch die Werte der Gesellschaft wandeln. Radikal. Offenheit statt Verschlossenheit, Wissen statt Reichtum, Einfluss statt Macht, Selbstorganisation statt Regeln. Ein gutes Menschenbild motiviert diese Werte, ermöglicht sie. Ich möchte nicht, dass die Politik alles veradministrieren muss. Sie garantiert lediglich den Nachtwächter.

Wie könnte man die Menschen dafür gewinnen? Indem man immer wieder die Vorteile anpreist. Immer die vier Kernaussagen wiederholt. Solange repetiert, bis sie wahrer als wahr sind, bis sie hyperreal sind. Bis irgendwann alle Menschen daran glauben, dass Wissen mehr wert sei als Reichtum. Dass alle Menschen eine Weltregierung wünschen.

Ich würde das jetzige System aber nicht anfeinden. Sondern als wichtigen Meilenstein würdigen. Als Vorstufe, als Vorbedingungen. Ich würde mich bedanken. Dennoch würde ich durchschimmern lassen, dass ich das jetzige System zutiefst verachte; dass ich die jetzige Werte der Menschen kaum respektiere. Ich hätte eine Alternative.

Eine Alternative für die Schweiz, für die Welt. Für uns alle. Alle würden profitieren, alle könnten gewinnen. Und niemand müsste zurückweichen, müsste ein Gesicht verlieren. Und ich würde nicht davon abweichen. Solange opponieren, bis machtvoll genug, um kritische Änderungen durchzusetzen. Die Macht schleichend ergreifen.

Der Sonntag

Sonntags spaziert das gepflegte Volk durch Museen, danach durch Stadtparks. Sonntags flaniert man. Die wildlederne Slippers geputzt, der Trenchcoat halb zugeknöpft. Das pastellblaue Hemd für ihn, die pastellrosene Bluse für sie. Gepunktete, blaue Hüfthosen beidseits. Die Sonnenbrille vom lokalen Designer.

Gelegentlich ein weltmännisches “no way, never”, um den heruntergekommenen Türken in der Nachbarschaft zu negieren. Stattdessen ist der kleine, aber überteuerte Italiener mit der engen Bestuhlung bevorzugt, der auch veganes Eis serviert. Das Lächeln gequält, wenn die Familienplanung thematisiert ist. Bald, so der Konsens, werde sie akut.

Die NZZaS begleitet den Sonntag, Themen wiederholen sich. Heute mal Superfood, das Flirten in den grossen Städten, der Sonntagsausflug, wer heiratet wen; manchmal ein wenig Aussenpolitik, heute die EU, morgen wie die USA. Die Beilagen konzentrieren entweder schicke Immobilien an den Goldküsten der Schweiz oder Hausfrauen-Bücher.

Ich glaube, der einzige gute Sonntag ist der vollends verkaterte. Die Frisur verweht, die Haut ausgetrocknet. Klebrige Rückständen zieren den linken Schuh, das eine Brillenglas verschmiert. Gelbe Schweissränder verkrusten das original weisse Hemd. Die Lippe verdorrt, die Zunge verfärbt. Um 14:00 konnte man sich ausm Bett jagen.

Danach eine Dusche und die Futtersuche. Döner? Nein, nicht schon wieder. Luftiges Dreiecksandwich? Ich weiss nicht. Selber kochen? Nicht mehr in dieser Wohnung. Wo ist das Velo vergessen? Hoffentlich “nur” am Bahnhof, hoffentlich nicht am Fluss liegen gelassen. Wen habe ich gestern beleidigt? Wo hoch ist mein sozialer Kredit?

Wen muss ich anrufen? Wo muss ich mich entschuldigen? Wem schulde ich wie viel? Ich möchte nie mehr Alkohol trinken. Der Jammerlappentag. Der Sonntag. Der wahre Sonntag. Um 16:00 konnte mich sich regenerieren, man scherzt bereits. Man ist gut drauf. Es läuft langsam wieder. Das Konterbier. Und alles wird gut.

Die Einflussnahme

Wir alle wollen beherrschen, beeinflussen, gestalten und formen; wir alle wollen tätig sein. Die Vorstellung, dass wir beherrscht, beeinflusst, gestaltet oder geformt werden, graust uns. Wir alle verkriechen uns zuletzt in Nischen, wo wir beherrschen dürfen, wo wir unseren bescheidenen Einfluss walten dürfen.

Der Mann ist zuhause klassisch entmannt; die Frau regiert. Sie dekoriert, kocht, putzt. Im Bett darf er gelegentlich mit Initiative überraschen, doch grundsätzlich muss er im Bett funktionieren. Hier ist der Mann blosser Ernährer; er beeinflusst nicht einmal das Konsumverhalten seiner Frau, weil auch darin die Frau Kompetenz leugnet.

Deswegen liebe ich die Technik. Die Technik verlängert meine Männlichkeit. Die Technik vergrössert meine Einflussnahme. Ich kann kontrollieren und kommandieren. Nicht verwunderlich, dass ich bei Strategie-Spielen ungeschlagen bin. Nicht verwunderlich, dass ich Drohnen besitze, grosse wie kleine. Dass ich darin Gewalt ausübe.

Mein Sendungsbewusstsein erstaunt ebenfalls nicht. Ich weiterhin besessen, dass irgendwann grossen Einfluss und grosse Reichweite erlange; zumindest im deutschsprachigen Raum. Dass ich die Menschen mit meinen Gedanken beeinflussen kann. Und wenn nicht beeinflussen, dann immerhin befremden.

Wer nicht beeinflussen kann, ist bereits tot. Und wird natürlich permanent beeinflusst, ausgenutzt, unnachgiebig verbraucht. Ich bedauere dieses Schicksal. Ich wünsche allen Menschen eine kleine Nische der Würde, auch wenn es bloss Spielzeuge oder Haustiere sind, über die man gebieten darf.

Das Eskalationsspiel

Du-Botschaften sind rasch ausgestossen. Ein falsch platzierte Socke, ein allgemeines Missverständnis, eine nicht definierte Fahrtrichtung, ein offener Witz, Kleinigkeiten des Alltages ermuntern einen, seinen Partner zu beschuldigen. Das sind gnadenlose Du-Botschaften; immer ignorierst du mich, nie fragst du mich.

Ob beabsichtigt oder nicht, solche Du-Botschaften verletzen immer. Aber hier die Gegenpartei zu beklagen, wäre wiederum verfehlt. Konflikte bedingen immer zwei Konfliktparteien. Es ist eine Art Spiel, das sich bloss erhält, solange beide Parteien es anfeuern. Bis jemand zurücktritt, die komplette “Schuld” übernimmt.

Diese Partei bemitleide ich. Sie muss nachträglich alles schultern; in künftigen Konflikten darf man sie beargwöhnen, man darf immer wieder auf vergangene, freimütig geschulterte Konflikte verweisen. Das verschlechtert die Ausgangslage dieser Partei für kommende Ereignisse. Wie im Kleinen, so auch im Grossen beobachte ich das Verhalten.

Ich erprobe seit Jahren Methoden, um dem Spiel auszubrechen. Doch dazu müsste man sich totalst beherrschen, alle Gefühle, alle Eitelkeit, alles unterdrücken und sich totalst rationalisieren. Eben darin bin ich nicht (mehr) geübt. Und so begehe ich selber diverse Fehler, die das Spiel unabsichtlich verlängern.

Beispielsweise erwarte ich, dass man das Spiel gleichsam durchschaut und an eine prompte Auflösung interessiert ist. Ich unterstelle hier meiner Gegenpartei dieselbe Intention wie mir selber. Ich bin ohnehin auf Harmonie gepolt; also möchte ich Spiele verkürzen. Andere Menschen möchte Spiele ausreizen; alleine des Spieles willen. Hier verallgemeinere ich.

Ich testete auch mal eine entschlossene Gegenreaktion. Doch das polarisiert den Konflikt bloss. Rasch verliert man das Gesicht, entwirft Drohstrategie, bis man bloss noch gemeinsam in den Abgrund schlittern kann. Und dann muss sich noch eine Partei bemüssigt fühlen, alle Fehler auf sich sitzen zu lassen. Sehr unwahrscheinlich.

Was sind also meine Rezepte? Ich habe keine. Ich erwarte nicht viel, ich erwarte bloss Reflexion und manchmal eine Art Entschuldigung. Dass sich solche Spiele halt ereignen, dass man sich halt verärgert. Und dass man sich halt gewiss wieder zusammenfindet. Auch ich muss mich laufend verbessern und hinterfragen. Anstrengend, ich weiss.

Ein schlankes Strategie-System

Alle Strategie-Systeme versichern einen; sie simulieren Genauigkeit, wo per Definition keine ist. Sie simulieren Vorausschaubarkeit. Man ist prospektiv. Es konkurrieren etliche Techniken, wie man eine möglichst plausible Strategie konstruieren kann, die möglichst auf Zahlen und Fakten basiert.

Ich habe keine Lust, Geld für Wahrsagerei zu vergeuden. Wenn wir wissen, dass wir nichts wissen, können wir uns doch wenigstens daran messen, welche Annahmen wir überprüfen möchten. Denn damit sind wir doch herausgefordert: fiese, fette und verhängte Annahmen, die unser Tun und Denken leider stets beeinflussen.

Also organisieren wir eine Firma nach Annahmen, nach “Wetten” quasi, die es aufzulösen gilt. Wir formulieren zum Beispiele eine Annahme “Der nackte Agile Coach verschwindet” und strukturieren unseren Backlog so, diese Annahme zu überprüfen. Wir wissen heute nicht, ob wir uns irren oder nicht. Macht auch nichts; denn wir brauchen eine Richtung.

Meine Firma soll maximal drei solche Annahmen parallel validieren. Welche das sind, möchte ich gerne in einem baldigen Strategie-Workshop im Plenum konkretisieren. Das spart viel Zeit; wir verkürzen den Strategieprozess. Um die Annahmen zu formulieren, möchte ich die Teilnehmer mit einer kleinen Kontext-Analyse aufwärmen.

Eventuell irre ich mich grundsätzlich. Ich kann doch nicht nebenbei ein neues Führungssystem erfinden und sofort ausprobieren? Vermutlich kann ich doch, werde ich es tun, und das System weiter verfeinern. Ich werde heute meine Kollegen unterrichten, mit ihnen erste Thesen testen. Seid gespannt.

Der sichere Hafen im 2017

Ich kann die Wirkung eines sicheren Hafens immer wieder loben. Der sichere Hafen ist eine Stimmung, kann auch sich als Ort zeigen, wo man sich zurückziehen kann, wo man sich erholen kann. Wo man einfach sein kann, wer man ist, wo man sich nicht verstellen, verkünsteln muss. Wo man geliebt und geborgen ist, lieben und bergen kann.

Wir alle sehnen uns, wo wir bedingungslos anerkannt und gewertschätzt werden. Das sind Grundbedürfnisse. Auch die superlativ bösen Diktatoren konnten sich irgendwo zurückziehen, ihr Safeword nutzen; sie durften baumeln und mal Mensch und nicht Diktator sein; sie durften mit Hund und Katze kuscheln und schmusen.

Solange man keinen solchen Ort kennt, irrt man stets. Man geistert durch Städte, man verabredet sich durch alle Schichten; man betrinkt sich in der Freizeit und bedauert den allgemeinen Sittenverfall. Man wähnt sich zwar jugendlich, ungestüm, unabhängig, doch man verendet moralisch; man verwahrlost bald sozial.

Einen möglichen sicheren Hafen kann man nicht mehr wahrnehmen. Schliesslich entwöhnt, ja entliebt man sich. Man verliert die Liebensfähigkeit, aber ahnungslos. Das Christentum beseelt den Menschen mit einem sicheren Hafen der bedingungslosen Liebe; der ehrlich-aufrichtigen Hingabe. Alle Religionen basieren auf solchen “Häfen”.

Ich möchte einen sicheren Hafen für jedermann bieten. Eine Alltagsphilosophie, erschwinglich, praktisch und einigermassen universell. Sowohl für die modernen Menschen in den grossen Weltstädten als auch für die beschaulichen Menschen in den Peripherien geeignet. Eine übergreifende Philosophie, die jedem einen sicheren Hafen bietet.

FYI: Im 2016 schrieb ich bereits über den sicheren Hafen.

Mein Safeword

Ich nutze hier und jetzt mein Safeword. Ich pausiere damit die Qualen, die Schmerzen, ich stoppe damit das Ringen und Bangen. Ich werde kurzzeitig austreten, ich werde mich verabschieden. Denn ich muss kurz innehalten, ich muss entschleunigen und mich beruhigen. Die Ereignisse überlasten meine Nerven. Ich kann nicht mehr standhalten.

Ich entschuldige mich für Schmerzen, die ich verursacht habe und allenfalls noch werde. Ich scheitere zuweilen kommunikativ, weil ich mein Unbehagen nicht ausdrücken kann. Ich harre, bis ich ventiliere. Das wiederholt sich, wenn ich nicht schreibe und reflektiere, mich hier und damit entspanne und wieder allmählich lockere.  

Ich fürchte mich vorm Erwachsenwerden. Ich möchte nicht erschlaffen, mittelmässig erwachen. Darüber habe ich jüngst geklagt. Heute möchte ich nachdoppeln. Ich möchte mein Safeword nutzen. Ich möchte mich einfach kurz entkoppeln. Ich möchte nicht mehr unmittelbar beeinflusst und geformt werden.

Ich möchte, dass man mich befreit. Ich möchte nicht mehr länger verkettet sein. Ich möchte nicht länger bespielt werden. Ich möchte wieder selber bestimmen und beherrschen wollen. Ich möchte meinen Individualismus wiedererlangen. Ich möchte das Spiel unterbrechen. Ich möchte mir eine Auszeit gönnen. Ich möchte einfach im Bett kuscheln.

Ich möchte nicht denken, nicht arbeiten, nicht handeln. Ich möchte nicht verbrennen, ich möchte bloss vergessen. Ich möchte einfach sitzen, starren; streicheln und schmusen. Ich möchte lieben und geliebt werden. Ich möchte nicht weiter mich anstrengen und beweisen müssen. Ich möchte einfach mal stoppen. Mein Safeword.

Wie immer

Manchmal befürchte, ich könne das Leben verpassen. Denn plötzlich erwacht man, ist Vater, lebt mit einer Familie, zahlt regelmässig Steuern und begnügt sich mitm Alltag. Ich kann mich zwar gut und lange “begnügen”, aber ich würde mich damit bloss betrügen. Denn früher oder später möchte ich wieder himmelhoch streben.

Ich verschiebe bereits jetzt meine Masterarbeit; ich muss sie nächstes Jahr nachholen. Ich verliere meine Freunde, weil ich mich anders fokussiere. Meine Haare ergrauen, meine Penis schwächelt; ich altere. Die Frauen verehren und überfallen mich nicht mehr; die Kulturszene ignoriert und vergisst mich. Ich werde weniger eingeladen.

Mein Schreiben reduziere ich auf höfliche Emails, unsichere Rückfragen und vergessene Brieffreundschaften. Manchmal füttere ich meinen Blog, doch es fühlt sich wie Arbeit und eine Verpflichtung an. Dabei möchte ich nicht verpflichtet sein. Ich möchte ungestüm trachten, mich verausgaben und schliesslich glorreich verbrennen.

Stattdessen werde ich mittelmässig, ich verliere meinen Hunger. Ich trotte mit, ich rede übers Wetter, ich kusche vor Manager; ich sterbe. Ich zügle meine Sprache, ich leugne meine Herkunft. Ich werde bürgerlicher, langsam spiessiger. Mir fehlt bloss noch eine fruchtige Bionade und eine schmucke Altbauwohnung. Zweiteres folgt.

Ja, diese Furcht motiviert diesen Blog. Ich weiss, dass ich noch mehr weghauen, übertreffen und durchstarten kann. Ich erträume mir weiterhin ein Wirken als dandyhafter Autor, der an der Perpherie der Zivilisation haust und sich dort glücklich wähnt. Doch ich muss meinen Wunsch vertagen, halt schwäbisch schaffen und sparen.