• Die Geschichte unseres Freundes B.

    Es fällt mir manchmal alles so einfach, es fällt mir alles in die Hand. Ich fühle mich wie ein Hochstapler. Mir gefallen Hochstapler. Mir gefallen Aufstiegsgeschichten. Ich möchte die Geschichte weiterschreiben. Ich möchte aber nicht meine eigene missbrauchen, mein Leben zum Katz inszenieren, mein Umfeld damit verletzen.

    Also möchte ich die Geschichte eines Sohnes meiner Heimatstadt erzählen. B. wuchs an der Ziegelfeldstrasse auf. Damals eine vielbefahrene, stickige und lärmende Kantonsstrasse. Der ferne Kanton verantwortete den Unterhalt. Doch der klamme Kanton musste gerade seine Kantonalbank an den Bankverein verschachern. Er musste dringendst Liquidität sichern.

    Unser Freund B. besuchte die Primarschule im Bannfeld. Er hat sich sozial integriert, spielte Caps, konnte mitm Ball einigermassen jonglieren, konnte aufm Gerobaum 3 neben den blauen Matten die erste Schwierigkeitsstufe erklimmen. Im Stafettenlauf konnte man sich auf ihn verlassen. Er dominierte aber nicht alle Disziplinen; er konnte zweckmässig sich einreihen.

    Während den kleinen Pausen spielten die Buben Rondo, die Mädchen versteckten sich am Weiher und tratschten. Eines Tages verspätete sich B.. Vermutlich war er erkrankt. Auch nach zwei Wochen fehlte B.; sein Meerschweinchen wäre längst verhungert, sein Absenzenheft längst gefüllt. B. war verschwunden.

    Noch ein Woche später salutierte der Schulpsychologe R., der Mann fürs Grobe. Wenn Kinder sterben, untertauchen oder weggeschafft werden, durfte R. die Geschichten verpacken, versüssen und als Stellvertreter den Bannfeldern vermitteln. R. war angespannt, R. hatte seinen Notizblock geöffnet. R. trug langes, aber bereits ergrautes Haar, das er locker zum Schwanz zusammenband.

    In der Freizeit penetrierte R. die Klassenlehrerin der 2A. Manchmal küsste R. sie leidenschaftlich im Klassenzimmer. Die Mädchen am Weiher konnten die spontane Intimität beobachten; vermutlich hat sie das Ereignis vergrault. Seitdem kultivierten sie eine Keuschheit, die erst der sanfte Drogenkonsum mit 16 in Frohheims Veloparkplätzen sprengte.

    Der gewohnt nervöse Schulpsychologe R. verliebte sich in Palavern, in Unschärfe, bis endlich er nach gefühlt dreissig Minuten verkünden durfte, dass der Kollege B. vorläufig ausfalle. Der Kollege B sei verunfallt, tragisch verunfallt. Doch niemand müsse sich sorgen, B. werde genesen und bald dem Unterricht teilnehmen.

    Kein Thema, denn bislang war B. nicht aufgefallen. Sein Leben schien bislang unspektakulär. Eine solide Mittelklasse, weder zu gut noch zu schlecht, weder zu beliebt noch zu unbeliebt. Ein Kind ohne Eigenschaften. Wie so oft im angepassten Mittelland, einer Gegend ohne Identität, bloss die Aare, die Jurasüdfusslinie und die A1 sowie A2 verbinden.

    Doch der Unfall erweckte B. Das war sein Erlebnis. Denn seitdem hat er sich geschworen, dass er nicht in Mittelmässigkeit fristen werde. Er werde sich niemals mit einer gewöhnlichen Anstellung begnügen. Er werde immer nach Höherem, Weiterem und Schnellerem streben. Er werde niemals bremsen, er werde sich ganz der Beschleunigung hingeben.

    Damit war ein gewisser Futurist entschlossen, sein noch unschuldiges und junges Leben komplett zu verändern. Seine Herkunft, seine Abstammung jedoch verweigerten das sorglose Leben; ein Leben in einer Bildungsbürgerblase. Wo man mittags über Manieren feilscht, abends über den zweiten Bildungsweg der Altersgenossen schnippt.

    Der Intellekt war unschuldig, die Prinzipien der schweizerischen Leistungsgesellschaft, die keine Schöngeisterei toleriert, höchstens als Dandy und als Erbreich, waren noch nicht durchgedrungen. Die Eltern sprachen nicht einmal Hochdeutsch, sie waren kürzlich eingewandert, Ausländer niederen Ranges, rechtlich den deutschen Fachkräften gleichgestellt.

    Überdies waren sie schwarz. Damit waren sie ohnehin stigmatisiert. Nicht unbedingt an der Ziegelfeldstrasse, dort waren sie eine schweigende Mehrheit. Doch im Kontext der schweizerischen Leistungsgesellschaft waren Schwarze seltene Gäste. Es sei denn, sie parkierten Blutmillionen auf Nummernkonten der Bankgesellschaft.

    In den USA verkündete der eine Bill den zweiten Haushaltsüberschuss, der andere Bill revolutionierte die damals sogenannte old economy. Apple musste gerettet werden. Die jüngsten Rassenunruhen waren in den prosperierenden Endneunziger wieder vergessen und in der allgemeinen Millenniumseuphorie übertüncht.

    In diesem Kontext wollte B. sein Leben reformieren. Nach einem halben Jahr kehrte B. zurück. Wieder zurück. Er humpelte noch, doch innerhalb eines Jahres war er komplett wiederhergestellt. Die Narben zeugten zwar noch von einem Schicksalsschlag, doch sie waren bloss den Eingeweihten und Suchenden sichtbar. Der erste Sieg.

    Sobald Menschen die Vergänglichkeit ihres Seins zu spüren bekommen, sobald sie bemerken, dass sie begrenzt sind, sobald sie ihr Potential endlich einordnen können, sobald sie begreifen können, dass die Schweiz sozial sehr durchlässig, sehr flüssig ist, dass Herkunft, Hautfarbe einen nicht stoppen können, dann werden sie entfesselt.

    Unser Freund B. schien seitdem wie entfesselt. Rasch steigerte er seinen Notendurchschnitt. Die gewohnt entspannten Klassenbesten mussten sich plötzlich sorgen. Sie liessen den Aufsteiger aufm Nachhauseweg einschüchtern. Sie bannten ihn aus dem Klub der angesagten Kinder. Er war nun unheimlich geworden. Weil er beanspruchte Chancengleichheit.

    Das überraschte in der Tat seine Zeitgenossen. Die ersten näherten sich an, sie verbrüderten sich. Leidgenossen. Sie vereinigten sich, um anderen zu schaden. Sie wollten Aufmerksamkeitskartelle bilden. Sie wollten sich verständigen, sicher fühlen, sie wollten einen Heimathafen für ihre Operationen. Wir alle brauchen Freunde.

    Unser B. hat sich nun Freunde klug ausgesucht. Er hat sich gezielt zwischen Freundschaften gestellt. Er hat Gefälligkeiten ausgetauscht, er hat anfänglich gewiss mehr spendiert, doch später dezent seine Ansprüche eingefordert. Er hat stets kalkuliert; kein Grüssen war mehr zufällig, kein Geschenk unbedeutend oder unpersönlich. Alles war eingeplant.

    Damit verlieren menschliche Beziehungen ihre Unschuld. Sie werden beliebig, weil verhandelbar. Sie werden in letzter Konsequenz durch Geld ersetzt. Doch wir sind ohnehin alle verhandelbar; wir alle können spontan einen Preis nennen, der uns befeuert, der uns unsere Mütter töten lässt. B. kannte den Preis seiner Mutter gut und erhöhte ihn jährlich.

    Nach einigen Jahren war abgesichert. Er hat sich mit einigen einflussreichen Persönlichkeiten vernetzt. Der eine mauserte sich zum erfolgreichen Jazzmusiker, der die grossen Bühnen der grossen Städten bespielte. Der andere zum lokalen Anwalt für Arbeitsrecht. Eine andere Investition war ein respektierter Kantonspolitiker.

    Er arbeitete hart, er finanzierte sich selber eine Matura. Er startete ein Hochschulstudium, das er erfolgreich absolvierte. Er bezeichnete den Zürcher Kreis 1 zeitlang als seinen primären Wohnsitz. Er kleidete sich wie die jungen Schnösels Münchens oder Hamburgs. Er verfeinerte den Stil mit dem dezenten Zürcher Schick, der erst für Eingeweihte auffällt.

    Er bereiste Südafrika, Israel und die Westküste so wie als eine gesamte Generation tat. Er inszenierte sich weltgewandt, weil er die neuesten Cocktails aus den lokalen Reiseführern rezitieren konnte. Weil er übers Essen und Wetter parlieren konnte. Er war Schwiegermutters Traum, auch gerade wegen seiner ungewohnten Hautfarbe.

    Doch in den Endzwanziger harzte seine Karriere. Die meisten Menschen konsolidieren in den Endzwanziger ihre Beziehungen, ihre sozialen Kreise. Danach bilden sie bloss noch Zweckgemeinschaften wie Ehe, Nachbarschaft oder Kindesbekanntschaften. Die Menschen fokussieren sich auf einen primären Kreis, ersten Kreis.

    Unser Freund B. hat aber seinen primären Kreis versäumt. Er hatte komplizierte Tauschbeziehungen gestrickt. Doch diese verursachten einen unökonomisch hohen Aufwand. Die Ertragsseite war immer schmäler geworden. Der Prozess war schleichend, doch plötzlich war der soziale Bankrott nicht mehr abzuwenden. Er hatte sein Sozialkapital verspielt.

    Gewiss grüsste man noch in Oltens Lokalen. Man kannte sich schliesslich. Wenn man nicht gerade den lokalen grossen Boss beleidigt, kann man entspannt tanzen, trinken, sich vergnügen und Mädchen fingern. In Zürich, der zeitlang primäre Wohnsitz, konnte er sich nicht durchsetzen. Die grosse Konkurrenz konnte er nicht in der Jugend einlullen und verketten.

    Dort konnte seine Beziehungsmasche sich nicht verfangen. Er fütterte seinen Zürcher Status bloss mit Oltner Nachschub, Zuzügler. Als dieser endete, verflüchtigte sich sein dortiger sozialer Stand. Gewisse Arbeitskollegen konnte er mit Gefälligkeiten über einige Monate retten. Ein letzter Auftrag eines Oltners finanzierte ihn noch für einige Monate.

    Irgendwann konnte er nicht mehr überleben. Er hätte sich zwar anstellen lassen können. Er hätte sich in einem Konzern verdingen lassen können. Doch das war nicht mehr genehm. Er suchte die Herausforderung der Gründerszene. Nicht der Alltag. Sondern das Prestige. Nicht das Prestige einer UBS. Nein, das Prestige eines Startups.

    Also war er erneut entschlossen. Er war entschlossen zu glauben, dass die Schweiz ihn beenge und einschränke. Also auf nach Berlin. In die wirklich grosse deutschsprachige Stadt. Wo everything goes, wo man neue soziale Netzwerke gründen kann. Wo man wirklich noch etwas bewegen kann. Wo alle bisherigen Beziehungen vergessen kann. Wo man neustarten kann.


  • Das Kleinstadt-Wunder

    Die Kleinstadt ist unbestellt. Du kannst rascher wirken und bewegen. Das fasziniert. Du kannst problemlos Banden knüpfen. Du kannst schneller beeinflussen. Du kannst dich arrangieren, gemütlich einrichten, deinen Alltag ritualisieren. Du kannst die Komplexität begrenzen, du kannst deine Managementkapazitäten schonen.

    In einer grösseren Stadt hingegen bist du weitaus mehr herausgefordert. Du hast keinen sicheren Hafen, du hast kein Netzwerk. Vielmehr bist du alleine, du kannst nirgends zurückfallen, du kannst nirgends dich beruhigen und entspannen. Du bist angespannt, musst liefern, musst dich beweisen, etablieren; immer wieder erfinden.

    Oder man vergrössert sein Netz, lebt im Quartier, im Viertel, im Kiez und in den Bars. Man vertraut nur gewissen Lokalen, einer Szene, einem gewissen Umfeld, das sich meistens aus Arbeitskollegen rekrutiert. Man verabredet sich eventuell auch mit Ausländer, mit Grenzgänger, mit Wochenaufenthalter. Mit den heutigen Wanderarbeitern.

    Ich habe mich immer in der Kleinstadt orientiert. Das war mein Referenzwert. Olten ist gewiss einzigartig. Wir haben sogar Kultur, wir haben eine Szene, die sich engagiert. Ich kenne alle Aktiven persönlich. Ich könnte über jede Person informieren. Ich selber bin auch einigermassen bekannt, schliesslich habe ich gelebt.

    Und nun wohne ich in einer grösseren Stadt, 170’000 gegen 17’000 Einwohner. Ich kenne knapp zehn Personen von 170’000, dagegen 400 von 17’000. Durchaus ein Kontrast. Ich bin noch nicht zu alt, um neue Menschen kennenzulernen. Doch alle in meinem Alter haben bereits Mühe, ihre bisherige Freunde zu pflegen. Jetzt komme ich.

    Niemand erwartet mich, ich kann die Stadt nicht bereichern. Ich kann nicht aktiv mitgestalten; die Stadt ist bereits verbaut. Die Menschen sind bereits in ihren Szenen gruppiert. Sie kennen sich ebenfalls seit Jahrzehnten. Man kann zwar mit neuen Bekanntschaften ausgehen, trinken und essen.

    Das verstimmt mich gelegentlich. Ich trauere Olten nach. Ich vermisse die Menschen. Doch fühle ich mich meiner neuen Heimat gross verpflichtet. Ich möchte meine neue Heimat erkunden. Und das tue ich bereits. Ich möchte mich in Basel betrinken. Ich möchte meine Freunde in Basel empfangen. Am Rhein, in den Bars, zuhause. Kommt.


  • Die Berliner Basels

    Olten setzt bekanntlich keine Trends. Wir ignorieren sie. Wir versauern in Oltens Wirtshäuser, gründen Parteien, pflegen urbane Gärten und feiern exzessiv; wir zertrümmern Lebensläufe, verlieren Gspändli und pendeln der Arbeit wegen. Seit einigen Monaten tummle ich mich in Basel. Ein sozialer Rückblick.

    Tatsächlich kann man Basler auch in Quartiere vierteln. Ultimativ ist, wer in Kleinbasel wohnt. Natürlich ist Kleinbasel ungleich Kleinbasel. Ich bewege mich derzeit unweit der Kaserne. Das ist ziemlich flott und frech. Hier dürfen die Berliner Basels in ihren würdigen Altbauwohnungen hausen und irgendwo sich verdingen.

    Die Lokale beeindrucken; hier bedienen einen Mädchen mit undefinierbaren Frisuren, mit ungewohnt geschnittenen schwarzen Shirts, mit lässig ausgetretenen Turnschuhen, mit unauffälligem Modeschmuck, mit flachen Brüsten, mit überrunden Brillen. Sie grüssen einen freundlich, unaufgeregt und gewissermassen abwesend.

    In den oft frequentierten Cafés parkieren junge und alleinerziehende Mütter vermutlich im Internet erstandene Vintage Kinderwägen. Sie kleiden sich bewusst modisch; Mode aus Boutiquen, wo Frauen jenseits der Dreissiger sich noch verwirklichen dürfen. Sie treffen ihre Kolleginnen, wollen zwanghaft über alles ausser Kinder reden.

    Nebenan motzen kultivierte Deutsche über die Rückständigkeit der Schweiz. Sie prahlen, dass ein Getränk bereits vor zwei Jahren in München kultig war; nun gewiss verspätet endlich auch die Schweiz erreiche, doch der Schweizer Bauer interessiere sich nicht. Ich kenne das Getränk auch nicht, vermutlich habe ich etwas verpasst.

    Gegenüber starren aufgehübschte Studentinnen in aufwendig formatierte Zusammenfassungen. Sie müssen sich vermutlich vorbereiten; sie werden bald geprüft. Sie verplempern Papas Lohn und dürfen die Leichtigkeit des Seins beweisen. Ihre Brillen sind handgefertigt. Sie studiere etwas mit Menschen; etwas Soziales, etwas Sinnvolles.

    Dahinter prahlen die jungen Berufseinsteiger über ihre materiellen Errungenschaften. Die brav frisierten Herren vergleichen Natels, Uhren, Einkommen und ihren aufregenden Job; leider nicht ihre Frauen. Das hätte mich mehr interessiert. Denn ihre alltägliche Arbeit ist aus meiner Perspektive nutzlos wie perspektivlos. Sie werden meinetwegen bald arbeitslos.

    Freilich kann ich mich nicht abheben. Ich bin auch gewählt gekleidet, meine Brille ist ebenfalls handgefertigt. Auch ich studiere nebenbei etwas mit Menschen. Ich sitze hier, trinke mein Bier. Ich gehöre dazu. Ich flüchte in meinen Laptop, sollte meinen Backlog fegen, stattdessen beobachte ich Menschen.


  • Der erfolglose Karrierist

    Er atmet Grossstadtluft. In der Schweiz. Er wohnt angemessen. Er arbeitet durchaus solide. Das Gehalt entschädigt für die Längizyt. Seine Anzüge sind geschneidert, seine Schuhe geschustert. In der Newsbar ordert er sein feierabendliches Heineken Lagerbier. Dort versammeln sich die Arbeitskollegen. Ein-zwei Bierchen, danach ins nahe Movie.

    Die Anstellung definiert, wer und was er ist. Die Visitenkarten sind stets griffbereit, im preisunsensitiven Piquadro Leder-Etui einsortiert. Ein englischklingender Titel imponiert. Mit 30 zuletzt noch Associate, einige Jahre später eventuell Consultant. Vermutlich bald das nächste Lohnband erkämpfend. Ein SSC in Breslau digitalisiert seine Belegspesen.

    Er wühlt im Verteilungsdschungel eines weltweiten Grosskonzerns. Wo EOB immer eine Frage der Zeitzone ist. Wo die Miezen kostümiert, parfümiert und geschminkt sind. Wo die Altherren meliert, klobige Uhren tragend und Geckos Weisheiten posaunend sind. Wo es sich anschickt, Überzeiten zu vertuschen und Schwächen auszunutzen.

    Davon erzählt er stets. Er will aber nicht bemitleidet werden. Er will anerkannt werden. Dass er dort überleben kann. Auch wenn sein MD ihn wieder piesackt; ihn zu Mehrarbeit drängt, Verrechenbarkeit verlangt. Er wünscht, dass er mich beeindruckt. Er möchte, dass ich ihn billige. Doch ich verwehre. Ich frage, wer und nicht was er ist.

    Danach schweigt er. Er schluckt. Die Jahre fristet er. Doch bewirken kann er nichts. Die interne Prozesse lähmen und paralysieren ihn. Er muss Stellvertreterkriege führen. Er muss sich politisch äussern. Er muss Loyalität simulieren. Er muss Kunden melken. Er muss Kennzahlen optimieren. Nach zehn Jahren landet er im Partner Fastrack.

    Bis dahin hat er sich verausgabt. Zwischenzeitlich inspiriert ihn House of Lies. Alle fünf Minuten beteuert er seinem Mitbewohner, dass die Serie bloss Tatsachen spiegle, dass sein Konzern nicht besser sei. Er schmachtet im kokettierenden Zynismus. Er sei halt ein harter Krieger, jahrelang erprobt und erfahren.

    Jahre später zerstört ein weitaus agiler, weil anpassungsfähiger Mitbewerber aus dem Mittelland, aus einer unscheinbaren Adresse Oltens, das komplette Geschäftsmodell. Die Kunden bezahlen nicht mehr den Namen, sondern die Leistung. Der Kunde ist fortan ein Prosumer. Der Kunde ist autonom, selbständig und unabhängig.

    Er bewirbt sich, aber vergebens. Er gilt als ausgestorbene Rasse, die nicht mehr vermittelbar ist. Die Jahre des Verteilungsdschungels, der unsäglichen Budgetdebatten und queren Politik haben ihn verdorben. Er kann nicht mehr den Kundennutzen fokussieren. Er verliert seine Anstellung. Er ist arbeitslos. Was nun?


  • Rauchfrei

    Ich schlucke Medikamente. Denn ich möchte das Rauchen beenden. Ich habe noch einige Tage zu rauchen. Danach möchte ich aufhören. Ich habe viel geraucht. Manche mögen beteuern, ich hätte zu viel geraucht. Ich richtete den Tagesablauf danach. Früher bemass ich Distanzen in Zigarettenlänge. Mein Arbeitsweg war zeitweise eine Zigarette lang.

    Oder viele Nächte habe ich verlängert, indem ich “bloss” noch “eine” rauchte. Ich organisierte meetings in verrauchten Lounges. Früher in Olten, als Atomstrom noch cool war. Als fette Gewinne Olten entspannte. Als die Stadt kompensierende Vorhaben projektierte. Wir rauchten dauernd und permanent. Beim Vorstellungsgespräch: “Rauchst du?!”

    Aber ja, alles vorbei. Das Rauchen begleitete einen Lebensabschnitt. Diesen Lebensabschnitt beerdige ich. Angemessen mit einer weiteren Zigarette. Nicht die letzte, höchstens für heute. Aber danach sicherlich für eine gewisse Frist. Ob ich später jemals wieder rauche, mag ich nicht prognostizieren. Mal sehen.


  • Der Bürgerkrieg

    Die SVP siegt, der Graben zwischen Stadt und Land vertieft sich. Die ersten Städtler wollen ihre unabhängigen Republiken ausrufen. Die zersiedelte Agglomeration des Mittellands repräsentiert den neuen Feind. Das sind Pendler, Einfamilienhausbesitzer; das ist der verklemmte und bedrohte Mittelstand.

    Diese Menschen dominieren die politische Landschaft. Sie verwerfen Innovationen. Sie blockieren Weiterentwicklungen. Sie schliessen die Grenzen. Sie fürchten die grossen Städte; sie scheuen Langstrasse und Kleinbasel. Sie wettern gegen Expats, gegen internationalisierte Konzerne. Sie meiden Sushi-Bars.

    Die SVP besetzt im Kanton Aargau bereits 50% der Exekutive; die Legislative ist gleichsam unterwandert. Die Asylanten des Kantons werden in Aarburg einquartiert; eine neue Baracke nahe bei Olten. Dort stören sie nicht. Derzeit muss der Kanton Aargau 2’000 Asylanten versorgen. Die Bevölkerung sträubt sich; der Bund verordnet.

    Diese Asylanten verursachen Kosten. Sie verdrecken das Stadtbild. Wenigstens nur Aarburg, das ohnehin Olten angerechnet ist. Eine vergessene und verlorene Kleinststadt, vom feinen Sitz der Kantonsregierung in Aarau heraus betrachtet. Bereits längst verfault und mit dem dreckigen Olten verwachsen.

    Die UNO prognostiziert eine erneute Völkerwanderung. Der kleine Bürgerkrieg in Nigeria hat sich intensiviert. Die zweite Religiosität erfasst vor allem Drittweltstaaten und die Unterschichten der westlichen Zivilisation; die zweite Religiosität beseelt, begeistert den Menschen. Sie tröstet und rationalisiert, erklärt und vereinfacht.

    In Nigeria radikalisieren sich die Islamisten im Norden sowie die Christen im Süden. Beide Parteien streiten übers Rechtssystem sowie über die Ausbeutung der reichlich vorhandenen natürlichen Rohstoffen. Gegenseitige Lynchmorde, Mobs und Massenvergewaltigungen befeuern den Konflikt. Frauen und Kinder werden instrumentalisiert.

    Der fragile Mittelstand flieht. Damit entzweit sich das Land noch mehr. Der säkulare Mittelstand konnte noch versöhnen, ausgleichen. Er mittete das Land, fokussierte die gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen. Doch dieser verblutet, ist ausgedünnt, weil geschändet und ermordet.

    Ebendieser Mittelstand überquert die Sahara, das Mittelmeer und beantragt Asyl. Technisch gut ausgebildet, mindestens zweisprachig, die renommiertesten kapitalistischen Hochschulen absolviert. Sie bestürmen unsere Grenzen. Sie schmälern unsere Gewinne, fressen unsere importierten Früchte und begatten unsere Frauen.

    Auch die Schweiz hat sich seit 2016 radikalisiert. Doch nicht der religiöse Konflikt; diese verstärkte zweite Religiosität, die ungemein versöhnt und Sinn stiftet. Wir haben die Religionen zurückgedrängt. Die Christen und Moslems fristen in bedeutungslosen Parallelgesellschaften; die Sekten und Freikirchen bedienen ebenso Minderheiten.

    Der wirtschaftliche Verdrängungskampf beschäftigt, besorgt den Mittelstand. Die grossen Städte florieren, sind der Welt zugewandt, begrüssen Einwanderung und Vielfalt. Das Mittelland idealisiert die heile, geschlossene Schweiz und den anständigen, weil erlernbaren Beruf. In Zürich bewältigen bereits 82% aller Jugendlichen die Matura.

    In Zeihen und Langnau entscheiden deren sich bloss 8%; sie begnügen sich mit der Berufslehre. Sie schreinern, zimmern, terrassieren und hämmern, sie verkaufen und dienstleisten. Sie arbeiten. Die gleichaltrigen Arbeitnehmer beraten, studieren, fantasieren, operieren, sie innovieren und erzählen. Sie bilden den Wasserkopf der Gesellschaft.

    Sie schieben skandinavische Holztische aufm behandelten Fischgrätparkett. Sie verpflegen sich gesund und bewusst; sie lästern über die MK-Tragetasche der provinziellen Damen. In Zeihen und Langnau pflegt man einen Garten; man besitzt zuweilen Eigentum oder erbt mindestens. Man mäht und hegt.

    Dieser Gegenstand verschlimmerte sich seit den Neunziger. Damals verabschiedeten sich der klassische Mittelstand aus der Stadt. Eine neue Schicht übernahm die nunmehr freistehenden Altbauwohnungen der grossen Städte. Sie engagierten sich fortan gegen die ländliche Kernenergie und frönten den Bio-Kult.

    Doch die Ereignisse der Welt, der Religionskonflikt der Dritten Welt, der Peripherie der westlichen Zivilisation, dringen auch in die Schweiz. Freilich verspätet und nicht unmittelbar. Die Flüchtlinge Aarburgs, Oltens, Grenchens, Schlierens, Spreitenbachs und Biels, die wohl hässlichsten Städte der Schweiz, gefährden die Agglomeration.

    Denn der Mittelstand ist nicht kompetitiv. Seine Tätigkeiten können ausgelagert, rationalisiert werden. Seine Ideologien sind überkommen. Die Gesellschaft teilt sich in innovativ und altbacken, in reich und arm, in offen und verschlossen. In Weltstadt und Provinz, in Intellekt und Handwerk. In Ausland und Schweiz, in Iran-Ferien und Heimaturlaub.

    Der soziale Frieden war seit dem letzten Generalstreik gesichert. Jüngere wie ältere Sozialwerke nivellierten die Gesellschaft. Der Exportboom seit 1945 bescherte Massenwohlstand. Die Kulturindustrie zerstreute jegliche Bedenken über die Sinnlosigkeit, Fragwürdigkeit der eigenen Existenz. Sie sedierte.

    Doch die weltpolitischen Entwicklungen der letzten Jahren habe die Situation dramatisiert. Der schweizerische Mittelstand verliert Anschluss. Die Angebote der Kulturindustrie haben sich zwar verbessert; neue Serien, Fortsetzungsromane und -filme ewiger Klassiker. Doch die Ungleichheit hat sich vergrössert.

    Und nun die ausgebildeten, motivierten Flüchtlinge Afrikas. Säkular, gutaussehend, gepflegt. Wohlhabend. Sie wollen arbeiten. Sie wollen sich integrieren. Sie sind hungrig. Sie wollen sich vermehren. Gleichzeitig aber die gleichgültigen Städter, die sich in ihrer Blase verkrochen haben. Blase der hippen Bars, der Weltoffenheit und sexuellen Liberalität.

    Die grosse Volksabstimmung im Frühling richtet darüber, ob die längst eingemotteten Truppen die grüne Grenze des Tessins beschützen sollten. Der Mittelstand skandiert aufm Bundesplatz in Bern. Die dortigen Städter haben sich in der Reithalle versammelt. Der Mittelstand ist mit Kind und Kegel angereist, die Städter mit syrischem Anhang.

    Die Städter wollen die Kundgebung des Mittelstands blockieren. Sie marschieren der Speichergasse entlang. Bei der Turnhalle stoppen sie kurz, verpflegen sich mit Grüntee und importierten Orangen. Die Kantonspolizei hat den Waisenhausplatz verbarrikadiert. Auf Facebook tobt bereits die Meinungsschlacht; beide wähnen sich im Recht.

    Die Kantonspolizei sympathisiert mitm Mittelstand. Die Polizisten stammen Worb, Jegenstorf, Schüpfen und Lützelflüh. Sie haben alle eine seriöse Erstausbildung abgelegt. Man kann ihnen nichts verübeln. Sie verkörpern das Volk. Sie heissen Beat, Martin und Sandro. Sie sind verheiratet; ihre Frauen protestieren aufm Bundesplatz.

    Die Städter sind entwurzelt; sie leugnen ihre Herkunft, ihre Familien. Sie sind nicht verheiratet. Sie verzögern ihre Bürgerlichkeit. Sie feiern das weltoffene und libertäre Leben. Sie entwerfen andere Lebensmodelle; es sind ewige Berufsjugendliche, grossgeworden in Bars und in überfüllten Aulas der staatlichen Universitäten; ohne Ausbildung.

    Der Konflikt schwelte seit Jahren. Die letzten Volksabstimmungen haben den Graben aufgezeigt. Von Politologen lange verneint, ist er nun offenkundig. Eine Ahnung eines nahenden Bürgerkrieges schnellt über Bern. Schwirrend. Die Städter üben den Gleichschritt. Die Polizei formiert sich. Sie sind gerüstet, ausgebildet.

    Der erste Stein ist geworfen. Die Polizei antwortet. Eine vermummte Einheit überrascht die Polizei via Zeughausgasse. Die städtische Jugend ist begeistert. Endlich das ersehnte Spektakel. Endlich Aufregung. Die ersten Bilder sind auf Instagram publiziert. Der Hashtag #RiotCH erklimmt Twitters Trendspalte. Watson und Blick installieren Tickers.

    Die gesamte Schweiz wartet. Welche Partei verletzt zuerst? Wer tötet? Der Mittelstand verschanzt sich hinter der Polizei. Eine weitere vermummte Einheit stürmt via Bundesgasse durch. Eine Lücke der Blockade. Der Mittelstand verteidigt sich ehrbar. Doch er war nicht vorbereitet; Familien und Kinder. Die Frauen der Polizisten.

    Das erste Kind wird totgetreten. Von Vermummten. Die Szene ist dokumentiert und sofort publiziert worden. Die Schweiz hat endlich einen richtigen Aufschrei. Das erste Todesopfer einer sozialen Unruhe. Ein historisches Ereignis. Die Polizisten sind erzürnt. Sie schonen nun nichts mehr; sie sind entfesselt.

    Sie wüten und schiessen. Mit scharfer Munition. Das erste Mal seit über hundert Jahren. Das erste Todesopfer war die dreijährige Tochter eines Polizisten aus Lauperswil; ein stämmiger Bursche, Freizeitschwinger und Hobbyschütze, im Vereinsleben eingebunden, politisch aktiv und überhaupt frisch.

    Doch der sinnlose Tod seiner Tochter überfordert ihn. Der Kommandant kann seine Einheit nicht mehr zügeln. Er genehmigt den Schiessbefehl. Bald zählen die sozialen Medien weitere Todesopfer. Der Mittelstand benachrichtigt seine Basis. Die vielfach gelagerten Gewehre werden endlich ausgepackt. Der wehrfähige Bürger macht endlich wieder Sinn.

    Die erste Nachschublinie gelangt nach Bern. Die Männer und Frauen und Kinder des Mittelstands werden bewaffnet. Die Städter hingegen haben weder gedient noch jemals den Umgang mit harten Waffen erlernt. Sie können bloss Steine schmeissen und über den Pazifismus philosophieren.

    Der Bundesrat harrt. Die UNESCO-Altstadt Berns verwandelt sich in einen urbanen Kriegsraum. Der Mittelstand jagt Städter, Jugendliche und Vermummte. Entschlossen und im Rausche. Wie viele Städter bereits krepierten, kann momentan nicht bewertet werden. Vermutlich verstarben zweihundert. Die Städter fliehen ins Lorraine-Quartier.

    Die Polizei hat sich wieder gemässigt. Die Leichen werden sortiert. Der Bundesrat spricht zum Volk. Doch das ist alles vergebens. Die grosse und internationale Jugend Zürichs formiert sich bereits. Der Bundesrat erwägt eine Teilmobilmachung. Der Tag endet. In Zürich brennen die ersten Autos mit AG-, TG- und SG-Kennzeichen. In Basel jene mit JU und SO.

    Der nächste Tag.


  • Abermals alternd

    Früher quälte einen, ob man zu schnell, zu früh käme. Ob man die Ejakulation hinauszögern könne. Später sorgte einen, ob man überhaupt noch erigiert, ob nicht nach fünf Minuten Verkehr alles wieder zusammenbricht. Früher freute man sich über jeden Haarwuchs, später spriessen die Haare widerlich aus den Ohren und an den Zehen.

    Wie rasch man altert. Wie rasch der Körper zerfällt. Wie rasch man ermüdet. Das überrascht mich stets wieder. Auch ich altere, mehr oder weniger würdevoll. Ich beobachte die Jugend an den Bahnhöfen der Schweiz, in den belebten Bars Oltens und anderer Städte. Die Jugend ist immer frisch, unverbraucht und voller Leben.

    Ich aber muss mich mit schweren Themen beschäftigen. Beruflicher Erfolg und Anerkennungen knechten mich. Familienplanung und Beziehung fordern mich. Ich kann nicht mehr bedenkenlos feiern. Ich kann nicht alles im Alkohol auflösen. Ich kann nicht mehr Nächte vertanzen. Ich muss spiessiger werden.

    Ich bedauere das nicht. Ich kann mir stets ein wenig Jugend erkämpfen. Ich kann mir Freiräume schaffen. Ich kann diesen Raum mit meinen Liebsten besetzen. Dort kann ich auch jenseits der Vierziger noch meine Jugend simulieren. Dort kann ausbrechen, tanzen und feiern; alles geregelt und eingedämmt.

    Ich bin nicht alleine, der zaudert und zögert. Meine Generation besitzt Ableger in den grossen Städten, die lebenslänglich das Modell der Berufsjugendlichen kultivieren. Dort kann man das vagabundierende, studentische, unbeschwerte und unkomplizierte Leben verwirklichen. Sex ohne Beziehungen, Gin mit Tonic, die Zukunft verherrlichend.

    Ich werde vermutlich Olten verlassen. In einer fernen grossen Stadt das Leben umgestalten. Ich werde einerseits anständig und seriös und gesittet leben, aber gleichzeitig meinen Freiraum mit meinen Liebsten planen. Dort werden wir toben, dort werden wir uns angemessen vergnügen, um wieder heimzukehren.


  • Der pendelnde Arbeitsalltag

    Olten. Grau. Du radelst zum Bahnhof. Du frierst. Dein Fuss schmerzt. Du humpelst. Deine Frisur ist verweht. Deine Nase tröpfelt. Dein Kaffee wärmt dich. Du erwartest den Fernverkehrszug. Du rauchst. Du musterst die Passagiere. Du steigst ein. Der Zug durchfährt einen Tunnel. Der Zug rast durchs Mittelland. Bald betrittst du die grosse Stadt.

    Ich pendle. Ich pendle zwischen Lebenswirklichkeiten. Der Winter beansprucht deinen Körper. Du verschleisst rascher und schneller. Dein Körper zerbricht eher. Momentan bin ich angeschlagen. Die Schmerzen stammen aus Brüssel. Ich quäle mich durch den Alltag. Ich kann mich nicht mehr elegant fortbewegen. Ich höre Wagner.

    Ich möchte mich wegsperren. Ich möchte meine Füsse hochlagern. Ich möchte mich wärmen. Ich möchte lesen. Doch die zeitgenössische Literatur reizt und fasziniert mich nicht. Der Norweger Karl Ove Knausgard langweilt mich mit seinem Liebesleben. Ich werde das Buch bald archivieren. Und stattdessen Klassiker wiederentdecken. Keinen Plan.

    Mein Hals ist verschleimt. Ich huste im überfüllten Waggon. Die Mitpendler beargwöhnen mich. Nebenan besprechen Welsche Naturprojekte. Sie sind engagiert. Eine Teilzeitangestellte sammelt virtuelle Bälle. Ein gealterter Geschäftsmann studiert Excel-Formeln. Ein schnieker Jungmanager formuliert Emails mit grossen CC-Verteiler.

    Bald bin ich wieder nützlich. Ich grüsse meine Kunden im Büro. Ich versinke in meinem Stuhl. Ich prüfe die gestrigen Performanz. Ich konsolidiere meine Besprechungsnotizen. Ich bereite mich vor. Ich empfehle Verbesserungsmassnahmen. Ich rauche. Ich gucke ausm Fenster. Ich beobachte das Eichhörnchen. Ich trinke Kaffee. Ich huste.


  • Nochmals Brüssel

    Ich weilte erneut in Brüssel. Diesmal stürmte eine kleine futuristische Vereinigung die Stadt. Wir standen kurz vorm Endsieg. Doch eine neuere Dolchstosslegende verhinderte uns. Wir mussten abreisen und den Alltag empfangen. Anlass für eine kleinere Reflexion, willkommen.

    Brüssel faszinierte mich bereits im Sommer. Damals platzte der Brexit die schöne EU-Blase. Ein EU-Babylon. Ich war irgendwie dort und gleichzeitig irgendwie nicht. Brüssel sei das neue Berlin, wiederholte ich mich stündlich. Alle guten Sachen beginnen mit B: Berger, Bier, Burger, Busen, Büsi und eben Brüssel. Sei’s drum.

    Welche Sehenswürdigkeiten konnte ich abhaken? Keine. Ich war schon zweimal in Brüssel, aber irgendwie habe ich nichts gesehen. Freilich schlich ich ums Europa-Quartier herum. Mein Gastgeber wählte eine fast identische Route. Katerig, modrig und verletzt irrten wir durch die Stadt. Auf der Suche nach Bier und Burger.

    brussels-parlament

    Wir waren zu fünft entdeckend. Fünf Futuristen. Alle entschlossen. Wir wagten uns in eine grosse Stadt. Grösser als eine Nacht in Olten. Aber mit demselben Ausgang. Wir überraschten niemanden. Wir spielten unser Programm. Mit grossem Erfolg zwar. Wir wurden aus fast jedem Lokal gekickt. Sogar aus einem privaten, mehr oder weniger.

    Wir tranken. Und tagsüber lagen wir herum. Isotonische Getränke stärkten uns morgens. Eine Marihuana-Zigarette für den einen oder anderen. Als endlich eingedunkelt, durften wir wieder offiziell saufen. Bier, Wein und Schnaps. Alles natürlich durcheinander und wild. Zwischendurch tanzten wir. Wir plauderten mit Journalisten.

    brussels-party

    Mich beeindruckte vor allem ein Korrespondent der USA. Ein gepflegter, gut gekleideter Amerikaner. Aber mit einem Alkoholproblem offenbar, denn er trank nicht. In Vergangenheit hatte er wohl sich verausgabt. Das ist menschlich, das ist sympathisch. Manchmal muss man sich kurzzeitig disziplinieren und aufs Wichtig-Dringliche fokussieren.

    Etliche Fotos beweisen unsere Anwesenheit. Sie dokumentieren unseren gemeinsamen Exzess. Der allerdings einigermassen gesittet war. Wir haben nicht masslos übertrieben. Wir hatten den Endsieg schliesslich doch nicht errungen. Wir blieben stets eingespurt, eingerastert. Alles war einigermassen kontrolliert und beherrscht.

    Wir altern. Würdevoll, aber dennoch altern wir. Wir haben unsere Rückzugsräume geschaffen. Wo wir gelegentlich einbrechen, um auszubrechen. Doch wir funktionieren weiterhin. Montags ist alles vergessen. Manche Schmerzen erinnern einen noch. Aber grundsätzlich ist Brüssel überstanden. Man kann wieder arbeiten.


  • Dynamische Preise

    Zurück zum Tagesgeschäft. Die Preise im Grossverteiler können bald variieren. Das Mad Wallstreet, eine Abfüllkette ausm Hinterland, hat seinerzeit die Getränkepreise dynamisiert, der Preiselastizität angepasst. Die Bierpreise wechselten stündlich. Das verführte das Publikum, lieber jetzt als später massenhaft Bier zu bestellen.

    Auch im Flugverkehr ist der Preis undurchsichtig. Verworrene Mainframe-Systeme, die mittels virtualisierten Schnittstellen und verklungenen Webservices gekapselt sind, kalkulieren aufgrund überlieferten Geschäftslogiken minütliche Preise für jeden Sitzplatz. Ob hier Nachfrage einen Preis festlegt, ist nicht nachweisbar.

    Wenn Grossverteiler nun also wenigstens Rabatte agilisieren wollen, wie die NZZaS enthüllen durfte, freut mich das. Denn die Grossverteiler sind momentan noch etwas sehr Sozialdemokratisches. Alle bezahlen gleich viel. Ob der facettenreiche Fredi oder die generösen Gieblers. An der Kasse sind sie schliesslich, so Gottlieb, alle gleich.

    Aber nun erobert der späte Kapitalismus die letzte sozialdemokratische Bastion. Ich frohlocke, weil damit totalisiert der Kapitalismus unser Lebensgefühl, dass wir vollständig den Marktgesetzen ausgeliefert sind. Wir werden ohnmächtig und können fürderhin keinen Preis mehr reproduzieren.

    Ich als 3+ würde ein fingiertes Format lancieren, das gescholtene Nachbarn spioniert, wie viel sie für eine Milch berappen müssen.