Im Trott

Ich experimentiere weiterhin. Das letzte Mal eine Kurzgeschichte über einen einsamen Wolf. Zuvor beim Besuch einer Prostituierten. Oder bettelnd in der grossen Stadt. Oder die Erzählung eines Fernsehmachers. Oder das Familiendrama. Oder das Ende von P. Oder der untröstliche Alltag, der dieser Geschichte hier ähnelt. Es geht weiter. Viel Vergnügen.

Ich zähle die Tage. Wie lange muss ich noch harren? Wann bin ich erlöst? Heute muss ich erneut trotten. Ich muss in eine ferne Stadt pendeln. Dort werde ich Excel-Tabellen schubsen. Ich warte seit Wochen auf meine Ferien. Endlich Ferien. Endlich Freizeit. Endlich kann ich mein Leben wieder mit Sinn aufwerten.

Der Zug ist überfüllt. Der frühere Zug hat sich verspätet, bis er komplett ausfiel. Die doppelte Menge zwängt sich in einen ohnehin zu knapp dimensionierten Zug. Alle leiden. Alle hüsteln. Sie infizieren mich. Ich werde erkranken. Ich werde pünktlich vor Ferienbeginn ins Bett geschlagen. Dort sieche ich dann.

Im Büro löse ich Kaffee. Ich zahle einen Franken. Meine Karte ist aufgeladen. Ich kann mir heute etwas spendieren. Ich muss nicht haushalten. Ich kann verschwenden. Ich besorge mir ein Gipfeli. Das kostet drei Franken. Vier Franken meines Einkommens sind verschleudert. Ich setze mich auf den Bürostuhl.

Ich justiere den Bürostuhl für meine Körpergrösse. Desk-Sharing entwurzelt den Menschen im Büro. Jeden Tag kämpfe ich um meinen Platz. Nichts ist sicher, nichts ist gewohnt. Ich kann meinen Arbeitsplatz nicht mit meinen Habseligkeiten schmücken. Kein Ferienfoto erinnert mich an eine unbeschwerte Zeit.

Ich verkable meinen Laptop. Jeden Tag dasselbe. Heute fehlt aber das Stromkabel. Ich besorge mir eines an der nächsten Versorgungsstation. Ich rüste mich mit frischen Schreibmaterialien. Ich bin bereit, ich kann arbeiten. Ich starte mein Outlook. Der Server sortiert meine Emails. Die wichtigen werden hervorgehoben, automatisch.

Ich habe keinen neuen Auftrag erhalten. Das System vermeldet eine offene Pendenz. Ich muss meine Formel vollenden. Diese Formel ermittelt die fehlerhaften Verkäufe der Dienststellen vom ganzen Land. Diese fehlerhaften Verkäufe konnten aufgrund Synchronisationsproblemen nicht im zentralen Server verarbeitet werden.

Diese fehlerhaften Verkäufe werden folglich nicht verbucht. Sie unterfliegen unseren betriebswirtschaftlichen Radar. Die Revision wird solche Missstände aufdecken und das interne Kontrollsystem nochmals verschärfen. Das werden alle beklagen, das wird die Arbeit aller verlangsamen. Und meinen Chef erzürnen.

Ich verstehe bis heute nicht diese Synchronisationsprobleme. Als asynchrone Kommunikation umschreiben die Techniker die Situation. Mich interessiert das nicht sonderlich. Ich muss schliesslich bloss meine Formel fertigstellen. Die einzelnen Dienststellen liefern mir ihr tatsächlichen Verkäufe.

Diese Verkäufe aggregiere ich jeweils täglich. Meine Formel vergleicht die Tagessummen der Dienststellen mit dem zentralen Server. Falls die Summen abweichen, rechne ich jeden Verkauf nach. Ich tüftle noch, wie mein Excel Abweichungen auf einen bestimmten Verkauf zurückschlüsseln kann. Ich konsultiere dafür deutschsprachige Office-Foren.

Ich bin zuversichtlich, dass ich in einer Woche die Aufgabe abschliessen kann. Doch mein Kopf raucht. Ich muss rauchen. Ich schlendere zum Raucherbereich. Einen weiteren Kaffee gönne ich mir. Kaffee und Zigaretten. Auf meinen Natel wische ich durch die neuesten Nachrichten. Das Mädchen des Tages möchte man absetzen.

Die gestrige Unterhaltungssendung hat einen neuen Sieger gekürt. Mein Liebling, ich bin zufrieden. Die scheidenden Tagesmädchen bedauere ich kurz. Danach ist die Geschichte vergessen. Ich rauche eine weitere Zigarette. Ich scrolle durch meine Youtube-Abos. Ein humoristisches Video über die Unterschiede zwischen Albaner und Schweizer. Prächtig.

Oh, ich muss arbeiten. Ich darf nicht zu arbeiten vergessen. Ich bin ja pflichtbewusst, ich bin loyal. Aber ich zweifle, ob ich das Richtige tue. Und ob ich das Richtige auch überhaupt richtig tue. Überhaupt kann ich meine Tätigkeit nicht würdigen. Wozu bin ich angestellt worden? Welchen Mehrwert liefere ich? Wieso stopfe ich bloss Symptome?

Ich möchte meinen Job kündigen. Ich fühle mich vergeudet. Ich fühle mein Potenzial verkannt. Ich kann hier nicht wirken. Ich kann nichts bewegen. Ich trotte bloss. Ich fühle mich alternativlos. Die Arbeit dominiert mein Leben. Doch meine Arbeit beseelt mich nicht. Vielmehr beelendet sie mich. Sie ruiniert mich.

Doch ich bin gefangen. Ich erwarte ein regelmässiges Einkommen. Ich muss meine Miete bezahlen. Meine Grundversicherung und meine bescheidene Zusatzversicherung; freie Spitalwahl. Mein Internetz. Meine Spielzeuge. Diese Kosten sind fixiert. Ich kann sie nicht wegdiskutieren. Ich will auch regelmässig verreisen.

Ich will das mir fremde Land verlassen. Ich will entdecken, ich will nicht an meinen Alltag mich ermahnen müssen. Ich will ausbrechen. Das muss ich alles finanzieren können. Ich bin also auf einen Beruf angewiesen. Ich bin abhängig, lohnabhängig. Mich tröstet, dass wir alle abhängig und gefangen sind. Ich bin nicht alleine.

Bald Mittagessen. Die grosse soziale Bühne. Wer isst mit wem? Alle beobachten dich. Der Vorhang fällt. Wer isst was? Wer entscheidet sich fürs Budgetmenü? Wer fürs vegetarische? Wer vergnügt sich mit dem frisch zubereiteten Tagesmenü? Wer sitzt wo, wem wie gegenüber? Worüber spricht man? Wer war wo am Wochenende?

Ich bange. Ich bin nicht verabredet. Ich habe diese Chance verpatzt. Ich bin seit Jahren nicht mehr im Gruppenchat eingeladen. Dort diskutiert man die Mittagspläne. Man schnuppert im vorab publizierten Menü. Man bereitet sich vor. Ich bin ausgestossen, ich habe mich selber verabschiedet. Seitdem irre ich mittags.

Meistens flüchte ich in die nahe Stadt. Dort taumle ich durch die Gassen. Ich verpflege mich hastig und ungesund. Ich möchte bloss den Firmenkomplex verlassen. Ich möchte ungefilterte Luft atmen. Ich möchte den Staub der kleinen Strassen schmecken. Ich möchte meine Arbeit vergessen. Ich möchte fortlaufen, ja.

Auch dort bin ich alleine. Ich habe vor zwei Jahren bemerkt, dass ich keine Freunde habe. Das hat mich nicht überrascht. Eine späte, aber richtige Erkenntnis. Ich kann auch keine sozialen Bekanntschaften intensivieren. Ich pendle täglich vier Stunden. Abends kehre ich heim, erhitze eine tiefgefrorene Pizza oder rufe einen Türken.

Ich masturbiere eine halbe Stunde vorm Badezimmerspiegel. Danach esse ich. Das Dosenbier spült meinen allgemeinen und speziellen Ekel herunter. Lustlos zappe ich durchs Abendprogramm. Es ist bereits neun Uhr spät. Noch eine Stunde kämpfe ich gegen meine Müdigkeit. Danach verkrieche ich mich im Bett.

Ich habe nie behauptet, ich sei ein Mann grosser Leidenschaften. Ich interessiere mich für nichts und niemanden. Das Reisen überdeckt bloss meine Eigenschaftslosigkeit. Ich reise, damit ich Büro etwas berichten kann. Ich muss reisen. Denn ich möchte vermeiden, dass meine Arbeitskollegen mich durchschauen. Ich spiele mit.

Meine Sexualität ist auf die Masturbation geschrumpft. Gelegentlich stöbere ich sexuelle Kontaktanzeigen. Diese können mich kurzzeitig erregen. Danach lege ich sie wieder hin, ich lösche meinen Browser-Verlauf. Ich sammle Bücher der Weltliteratur. Doch ich bin weder belesen noch sonstwie bewandert. Ich sammle bloss.

Damit simuliere ich Belesenheit, falls ein Mädchen mich besuche. Ich versuche manchmal, den letzten Besuch zu vergegenwärtigen. War es Valerie oder Chantal? Worüber haben wir uns unterhalten? Durfte ich ihre Scheide berühren? Durfte ich Lust empfinden? Durfte ich sie penetrieren? Ich weiss es nicht mehr.

Bald ist zehn Uhr, mein Wecker ist programmiert. Morgen wiederholt sich mein Tag. Ich erlebe keinen grossen Verblendungszusammenhang. Mein Leben ist weder spektakulär noch aussergewöhnlich. Ich sorge mich nicht. Nichts befeuert mich, nichts motiviert mich. Ich verplempere gelegentlich tausend Franken für Spielzeuge; Männersachen.

Ich verfolge stets eine “ich-auch”-Strategie. Wer will mir das verübeln? Wieso muss ich meinen Individualismus überhöhen? Wieso muss ich mich präsentieren, was nicht bin? Ich meide auch die sozialen Netzwerke. Mit meiner Tarnidentität bin ich zwar registriert, doch ich folge bloss den jung-reizenden Mädchen.

Ich zähle bloss noch die Jahren. In zwanzig Jahren bin ich pensioniert. Ich begrüsse die grosse Leere. Ich kann dann mein Leben gleichmässig unwürdig fortfahren. Ich muss nicht mehr pendeln und arbeiten. Ich kann bloss noch davoneilen, durch die Welt hasten. Ich kann mich und alles vergessen. Ewige Ferienzeit.

Meine Ferien. Auch die sind repetitiv. Sie versüssen mein Leben. Sie befriedigen aber nicht. Sie beruhigen mich temporär. Die ewige Ferienzeit würde mich wohl deprimieren. Denn ich könnte mich nicht mehr freuen, ich könnte mich nicht mehr beschwichtigen. Ich würde auflaufen, ich würde wohl zusammenbrechen. Mein Leben verkürzen.

Dennoch schätze ich meine Ferien. Ich organisiere sie immer mit demselben Muster. Eine Woche verstecke ich mich daheim. Ich ordne die Dinge, ich prüfe meine Versicherungen, ich regle meinen privaten Bürokram. Ich veradministriere mich selber. Meine Sozialversicherungsnummer in der einen, meine Bankzugangsdaten in der anderen Hand.

Um zwölf gastiere ich in meiner Stammbeiz. Dort bestelle ich eine Maschine Weizen und Geschnetzeltes Zürcher Art. Ich blättere durch die Lokalzeitung. Ich könnte jede zweite Person kennen, doch ich habe mich längst entfremdet. Man grüsst mich zwar, doch Gespräche können nicht entstehen.

Die zweite Woche fliege ich weg. Möglichst exotisch. Iran möchte ich in diesem Frühling besichtigen. Ich habe in Magazine gelesen, dass das Land noch unbefleckt sei. Noch kein Massentourismus verfälscht den wahren Eindruck. Gewiss lügen die Magazine. Zwei Arbeitskollegen schwärmen bereits vom Iran. Bald kann ich auch mitreden.

Doch vorerst darf ich arbeiten. Meine Formel ist fehlerhaft. Sie funktioniert nicht. Ich habe die Rundungsdifferenzen übersehen. Das zentrale System rundet mit sechs Nachkommastellen, die von den Dienststellen bereitgestellten Daten bloss mit drei. Für Normalsterbliche müssen drei Nachkommastellen ausreichen.

Ich muss die Rundungsregeln der dezentralen Dienststellen nachbauen. Damit kann ich die zentralen mit derselben Regeln runden. Damit werden sie vergleichbar. Meine Formel darf immer mehr Geschäftslogik abbilden. Sie wächst und wächst. Ich selber durchblicke kaum noch die Logiken. Excel verweigert ab 256 Verschachtelungen die Berechnung.  

Ich muss meine Formel aufteilen. Ich lagere gewisse Vorberechnungen aus. Damit ist die Formel auch wartbarer. Doch für wen? Ich habe keinen Ersatz, niemanden, der mich bald ablösen könnte. Ich harre quasi auf vergessenem Posten. Mein Chef ahnt, was ich tue. Ich kann meine Tätigkeit auch nicht meiner Mutter erklären. Ich mache Excel-Formeln.

Ohnehin ist meine Mutter verstorben. Keine Familie deckt oder schützt mich. Bald ist Weihnachten. Das einsamste Wochenende hierzulande. Die Bars sind leer, sie füllen sich erst gegen Mitternacht mit den unzähligen Heimkehrer. Bis dahin bin ich längst allem überdrüssig. Ich verpasse den Anschluss. Ich war ja auch nie fort.

Das ist nicht meine Zeit, nicht meine Generation, nicht mein Jahrgang. Das ist nicht mein Leben. Ich bin verpflanzt worden. Ich will nicht wachsen. Ich will nichts. Ich begehre nichts. Aber ich muss fristen. Ich bin ungewollt, wieso ist meine Schwangerschaft nicht abgebrochen worden? Wieso musste man mich herauspressen?

Ich huste im Zug, am nächsten Halt muss ich umsteigen. Die SBB schätzt dafür drei Minuten. Das ist machbar. Mein Zug hält am Perron 7A, der Anschluss 4B. Drei Minuten sind grosszügig bemessen. Ich kann 4B in einer erreichen. Ich kann mir das zutrauen. Als Dauerpendler bin ich geübt. Ich danke der SBB für die Regelmässigkeit.

Die SBB enttäuscht einen nie. Wenn der erste Schnee in den Voralpen fällt, können sich die ersten Züge verzögern. So wie gestern. Nach dreissig Minuten Verspätung löscht die SBB einen Zug; er würde bloss das Netz destabilisieren; eine Dissonanz der Fahrplanmelodie. Das verzeihe ich. Die SBB hat mich gestern mit einem Kaffeegutschein entschädigt.

Soll ich mich anonym bedanken? Soll ich auf Facebook kommentieren? Ich bin bereits angeschwipst; ich leere das zweite Dosenbier. Heute möchte ich mich nicht verpflegen. Jeden zweiten Tag ernähre ich mich bloss flüssig. Ansonsten verdickt mein Körper. Dann könnte ich mich nicht mehr im Badezimmerspiegel masturbierend anstarren.

Schliesslich habe ich mich nicht überwunden. Ich habe nichts auf Facebook publiziert. Ich habe meine Liebe zur SBB nicht geäussert. Die SBB hat einen heimlichen Anhänger. Das muss die SBB nicht unbedingt wissen. Ich goutiere die jährliche Preiserhöhung wie Anfang Dezember beim Fahrplanwechsel. Überhaupt der Fahrplanwechsel; magisch.

Die SBB eröffnet den Gotthard-Basistunnel. Ein Meisterwerk. Kann ich darauf stolz sein? Ich habe Anfang Neunziger meine Zustimmung abgelegt; brieflich. Ein Milliardenprojekt. Damals noch optimistisch geschätzt. Ich habe die Kostenerhöhung Ende Neunziger ebenfalls bewilligt. Ich bin das Volk. Ich gehöre dazu. Meine Stimme zählt.

Die vierteljährlichen Abstimmungen vergewissern mir, dass ich noch lebe. Ich kann mich periodisch äussern. Ich werde befragt. Denn ansonsten interessiert sich niemand für mich. Das Steueramt erkundigt sich zwar jährlich, dass ich Einkommensänderungen gerne mitteilen solle. Aber abgesehen davon schweigen die Ämter. Stille.

Die letzte Abstimmung habe ich verschlafen. Ich wollte nicht brieflich wählen. Ich wollte die Zeremonie zelebrieren. Doch ich habe verpennt. Der Alltag hat mich entkräftet. Insgeheim beeinflusst mich nicht der Akt der Wahl, auch nicht das Ergebnis am späten Sonntagnachmittag. Das Gefühl des Gebrauchtwerdens genügt.

Ich werde gebraucht. Ich stifte Sinn. Meine Arbeit mag mich zwar verzweifeln, aber der Staat will meine Meinung, immerhin der Staat. Das ist ein grosser Trost eines kleinen Mannes. Doch zu mehr könnte man mich auch nicht gebrauchen; mehr Bürde könnte man mir auch nicht überantworten. Ich bin und bleibe der kleine Mann.