Autor: bd


  • Der Stadt-Land-Graben

    Die Stadt existiert genauso wie das Land. Die Landbevölkerung allerdings lebt in zweier Lebenswirklichkeiten. Einerseits das verklärte Leben aufm Lande, andererseits das emsige Wirtschaften in der grossen Stadt. Sie pendeln wortwörtlich und im doppelten Sinne, weil wanken zwischen Lebenswirklichkeiten, die beide wirklich und real sind und schliesslich ihr Leben bilden.

    Man kann argumentieren, dass die Agglomeration die Bedürfnisse der Stadt unterminiere. Dass die Agglomeration die Stadt verhindere. Dass die Agglomeration die Entfaltung und Selbstverwirklichung der Stadt bremse. Man kann. Ich widerspreche nicht einmal. Ich möchte aber die Städte nicht unnötig stärken. Ich möchte auch keine urbane Linke beschwören.

    Grundsätzlich bin ich bekanntlich apolitisch. Ich interessiere mich für Grundeinkommen, EU-Beitritt und NATO-Beitritt. Punkt, das sind meine Themen. Tagespolitik beschäftigt mich nicht. Ich bedauere nicht Abstimmungsergebnisse. Die träge und konservative Agglomeration stört mich nicht. Die bloss sich zurückzieht und abschottet, aber lustigerweise gleichzeitig in der Stadt arbeitet und dort sich verwirklicht.

    Unsere Probleme sind ohnehin hausgemacht. Der Schweizer und neuerdings die Schweizerin dürfen respektive müssen politisch sich engagieren. Andere Willensnationen können zentralistischer und gebannter regiert werden. Sie können ein radikalisiertes Fünfjahresprogramm durchsetzen. Sie können mit blossem Willen Autobahnen bauen, Menschen umsiedeln, Städte planmässig errichten.

    Die Schweiz dagegen ist putzig. Wir sind keine Nation, die den Weltgeist formt. Wir können bloss profitieren, achten hier und dort einige Kunden. Ich erwarte nicht, dass wir die Lebenswirklichkeiten der Menschheit gestalten. Vielmehr haben wir uns hier gemütlich eingerichtet. Allein Deutschland ist derber, härter und hat wesentlich mehr Einfluss. Deutschland bewegt. Die Schweiz dagegen sucht das persönliche und private Glück.

    Unser politischer Stadt-Land-Graben muss uns also nicht beunruhigen. Unser politisches System schützt uns vor Aktionismus wie Visionen. Wir werden niemals das System komplett reformieren oder zertrümmern. Die Agglomeration wird niemals die Stadt verwüsten. Die Stadt kann sich niemals ausm Abstimmungsjoch der Agglomeration befreien. Wir werden koexistieren müssen. Wir werden beide Lebenswirklichkeiten bestätigen müssen.


  • Wieso trinke ich?

    Der Alkohol tröstet die Menschheit seit mehr als viertausend Jahren. Alkohol tröstet mich erst seit 16 Jahren. Zudem pausierte ich zwei Jahre lang; von 18 bis 20. Ich hatte als Jugendlicher Alkohol missbraucht. Daher wollte ich bremsen. Ich trinke also seit 14 Jahren. Ich möchte meinen Konsum heute reflektieren.

    Alkohol euphorisiert mich. Ich kann mit Alkohol mich beschleunigen. Als 17-Jähriger konnte ich alkoholisiert Treppen herunterpurzeln. Ich konnte nächtelang feiern, ohne einen Atomkater erleiden zu müssen. Alkohol verwandelt mich in ein unaufhaltsames, manisches, hyperaktives Reizwesen. Ich kann mit Alkohol leichter interagieren. Ich bin enthemmter, ich bin redseliger.

    Allerdings verringert Alkohol mein normalerweise solides Benehmen. Ich möchte noch mehr provozieren, auffallen, negative Aufmerksamkeit saugen. Ich werde noch ungestümer, unberechenbarer als bereits nüchtern. Das kann Sozialkapital vernichten und schadet meiner allgemeinen Reputation. Ich laufe dann sozial Amok, zielstrebig und im vollen Bewusstsein.

    Alkohol befeuert meinen latent selbstzerstörerischen Todestrieb. Die grosse Sehnsucht, mein Leben zu ruinieren, mein Leben zu beenden. Alles hinzuschmeissen, alles aufzugeben, einfach alles niederzuschmettern, alles zusammenbrechen zu sehen. Das ist der ultimative Hirnfick, ein Rausch. Der Seiltanz, die Gratwanderung. Das grosse Motiv dieses Blogs notabene.

    Alkohol ist in dieser Hinsicht ambivalent. Alkohol bejaht einerseits das Leben. Andererseits verneint der Alkohol das Leben. Ich reagiere Sowohl-Als-Auch und nicht eindeutig. Das verkompliziert einen und meinen normalen Umgang mit Alkohol. Wenn ich trinke, dann überspanne ich mein Glück. Ich trinke solange, bis ich nicht mehr kann. Ich muss zwar nicht erbrechen, aber ich will meine Grenzen testen. Dann erfrische ich mich mit Wasser.

    Mittlerweile habe ich mich gebessert. Früher konnte ich nicht einfach “eins ziehen”. Früher veranstalteten wir sogenannte futuristische Massakerabende. Diese konnten täglich sich ereignen, ohne jegliche Vorwarnzeit. Wir verendeten stets dämmernd, lallend und in grössten finanziellen, sozialen und/oder allgemeinen Trümmern. Die fotografische Beweislage kann einen zuweilen erdrücken.

    Ich will den Rausch nicht verherrlichen oder romantisieren. Alkohol ist aber nicht grundlos erfunden respektive zufällig entdeckt worden. Der Mensch möchte sich stets überwinden. Der Mensch möchte vergessen oder sich befeuern. Alkohol ist ein Ersatzmittel, der grosse Trost der Menschheit. Es ist die Volksdroge, es ist unser Soma. Wir anerkennen das, wir respektieren die kulturelle Leistung des Alkohols. Aber sorgen uns gleichzeitig.

    Nicht bloss mein Umgang mit Alkohol ist ambivalent. Das ist ein universaler, weil grosser Verblendungszusammenhang, um den Klassiker zu strapazieren. Wir verleugnen die alkoholisierte Realität. Und alkoholisieren uns deswegen umso mehr. Und ich projiziere das aufgrund meines normalen Grössenwahns auf mich selber und möchte damit mich rechtfertigen, erklären oder was auch immer. Oder mich mindestens ergründen.

    Doch ich möchte zurückkehren und kundgeben, wieso ich trinke. Ich lebe gut. Ich habe keine Traumata zu ertränken. Bloss das Weltgeschehen betrübt mich. Oder wenn ich fernsehe, dadurch mit der Realität konfrontiert werde. Ich lebe also gut. Ich bin glücklich. Gewiss giere ich nach mehr von allem und von allem mehr. Aber technisch müsste ich mich nicht beschwipsen. Mein Leben bewegt mich zu sehr. Ich erlebe und liebe.

    Also wieso muss ich trinken? Ich beklage schliesslich keine Depression. Ich fürchte weder Zukunft noch Vergangenheit. Ich scheue nicht die Tat oder eine Entscheidung. Ich widerspreche allen Klischees eines trübseligen, weltschmerzenden Alkoholikers; eines Intellektuellen irgendwo zwischen A1 und A2, eingefroren und zeitlos im Nebel auf verlorenem Posten harrend, flehend den Untergang erwartend, ohne Ablösung oder Aussicht.

    Nein, das bin nicht ich. Ich bin stattdessen im Leben verwuschelt, ich bin stattdessen drängend und sehnend. Ich bin motiviert und übereifrig. Ich müsste mich nicht sedieren, abstumpfen oder sonstwie quälen. Ich müsste nicht. Aber ich liebe das kantige, extreme Leben; living on the edge. Weil ich das Mediokre verabscheue. Und hier polarisiert mich Alkohol. Hier öffnet mich Alkohol.

    Denn mit Alkohol kann ich einen Ausbruch dosieren. Mit Alkohol strukturiere ich meinen Ausbruch. Es ist mein Eskapismus. Ich bin täglich angepasst, ich bin täglich eingespannt. Ich marschiere täglich im Gleichschritt. Ich verstecke mich im Herzen des Kapitalismus’. Ich agilisiere Unternehmen, ich automatisiere Prozesse, ich rationalisiere und spare Kosten. Ich steigere die Produktivität unserer Volkswirtschaft. Und ich kann’s verdammt gut.

    Mein Beruf finanziert mich. Meine Leidenschaft investiere ich ins Private. Aber halt manchmal muss ich mich verausgaben. Ich zimmere mit Alkohol meine Umgebung; nur für Verrückte, nur für Entschlossene. Ich mag alle Menschen, die solche Augenblicke mit mir teilen. Sei es die R, sei es der R. und nochmals R. Sei es S. und O. Sei es schliesslich gewissermassen auch der M. wie der S.

    Ich möchte, dass man mich begleitet. Ich wünsche mir einen kontrollierten Kontrollverlust, eine ordentliche Unordnung, ein planmässiges Chaos. Ich wünsche mir eine rationalisierte Irrationalität. Aber ich möchte stets in der Spur bleiben; Leitplanken achten und mich stets orientieren können. Ich möchte auch stets bremsen, umkehren, heimkehren können. Ich möchte mein Rückfahrticket behalten.


  • In der Zwischenzeit

    Ich fühle mich wie vor einer Schlacht. Es ist die berühmte Ruhe vorm Sturm. Diese Zwischenzeit. Diese Zwanziger. Es ist wild, etwas entsteht, etwas wächst. Manches offensichtlich, anderes verborgen. Diese Zeit lockt Grenzgänger, Zwischenwesen. Sie verführt mich. Ich möchte mein Gefühl nicht verallgemeinern. Aber ich ahne, dass manche mitfühlen, manche ebenso in einer Zwischenzeit sich wähnen. Ein ereignisreicher, gleichwohl ereignisloser Abschnitt zwischen zweier Lebenszeitpunkten, wovon man weder der erste noch der zweite lokalisieren kann.


  • Mein Lebenshunger

    Ich will meinen Lebenshunger zähmen. Ich bin gierig, ich weiss. Ich trachte und sehne unendlich. Ich überspanne und überdrehe. Aber ich möchte mich wieder beruhigen. Ich möchte mich wieder aufs Wesentliche konzentrieren. Ich möchte bald meine Masterarbeit abschliessen. Ich möchte bald beruflich mich umorientieren und aufwerten. Ich möchte die Liebe intensivieren.

    Seit ich lebe, überschreite ich Grenzen. Ich bin ein Grenzgänger. Ich teste und reize. Ich provoziere. Ich konnte zwar fortziehen, mich in Lostorf zeitlang niederlassen. Ich konnte dort mein Leben entschleunigen. Aber ich bin dennoch ausgebrochen. Ich habe Frau und Haus zurückgelassen. Immerhin ohne Kind. Ich möchte diese Zeit nicht verherrlichen. Ich möchte bloss anerkennen, dass diese Zeit mich beruhigte.

    Ich sehne mich nach Ruhe. Ich wollte vom Sumpf Oltens fliehen. Aber es ist nicht Olten, ich bin es selber. Wo auch immer ich bin, dort muss ich mich mit mir selber auseinandersetzen. Ob in Basel, Zürich, Berlin, Warschau oder Brüssel, um mal mögliche Destinationen zu listen. Statt ich die sozialen, moralischen und finanziellen Grenzen Oltens sprenge, könnte ich ebensogut meinen Lebenshunger sublimieren.

    Arbeit und Schule befreien; gesunde Ernährung sowie Bewegung gleichen aus. Das sind populäre Erkenntnisse unserer Alltagslebensschule. Ich verachte sie nicht. Ich achte sie bloss zu wenig. Ich werde vermutlich bald aufs Rauchen verzichten. Das sinnlose und exzessive Feiern werde ich einschränken. Ich möchte lieber mit guten Freunden ein Abendmahl kosten oder meine magische Liebe ausführen.

    Gewiss spricht sonntags auch bloss der fette und faule und liederliche Moudi in mir. Mich tröstet, dass ich mich verändern kann. Weil ich mich stets anpassen und verändern musste. Ich habe mein Leben bereits etliche Male umgestaltet. Ich werde auch fürs kommende 2017 mich nachhaltig weiterentwickeln. 2016 werde ich als intensives Jahr erinnern und in einer grossen Retrospektive auch zu würdigen wissen.

    Ich werde mich einigermassen wieder normalisieren. Ich möchte stattdessen anders ausbrechen. Kleine Simulationen oder echte Sublimation. Mir einen Rahmen schaffen, wo ich Andersartigkeit, Grenzgängertum spüren kann. Ich erträume mir eine Art Rollenspiel, wo ich als ich fies-fette Ratte durchs Labyrinth taumle. Wo sich Türen öffnen, die mir einen gewissen Wahnsinn erlauben.

    Aber alles kontrolliert. Ich mag zwar ein normales Leben, aber genausogut mag ich es intensiv. Ich möchte mich nicht komplett zähmen oder kastrieren. Ich möchte weiterhin meine Rollen spielen. Ich möchte gelegentlich dumm schwatzen, diesen kleinen Blog betreiben, mich für die politische und soziale Welt interessieren, meine Liebe verfeinern, beruflich aufsteigen. Meine Bedürfnisse sind bescheiden.


  • Köppel über Frauen

    Ein gewisser B. hat mich kürzlich aufgezeichnet. Ich hatte das Editorial Köppels gelobt, das die Un-Beziehung zwischen Mann und Frau romantisiert. Ich vermute, Köppel hatte diesen Beitrag im Rausche verfasst. Ich spüre seine Manie. Mir gefällt der Text ausserordentlich. Stilistisch wie inhaltlich. Einige Passagen möchte ich hervorheben.

    Männer müssen Frauen lieben, Frauen ­müssen Männer zivilisieren.

    Oh. Insbesondere die Lebenshungrigen. Sehr schön.

    Auf dem Weg seines Scheiterns, die Frau zu verstehen, erkennt er immerhin sich selbst. Diesen Prozess fortschreitender Erkenntnis, die nicht an ihr Ende kommt, aber eine Verfeinerung der Sitten bringt, nennen wir Zivilisation.

    Das ist Freud. Klarer und deutlicher kann man das Unbehagen der Kultur nicht zusammenfassen. Grossartig

    Die Frauen sind die unbestechliche Jury, vor welcher der Mann das Drama seiner Existenz aufführt. Seine Handlungen und seine Unterlassungen bleiben darauf abgezirkelt, die grösstmögliche Zustimmung einer grösstmöglichen Zahl von Frauen zu finden. Ohne dieses streng richtende Publikum fiele es dem Mann schwer, am Morgen aufzustehen. Zu kreativen Leistungen wäre er schon gar nicht in der Lage. Gäbe es die Frauen nicht, es gäbe weder Weltreiche noch kulturelle Meisterwerke. Ohne die Möglichkeit, die Frauen zu beeindrucken, wäre der Mann nie aus der Ur-Höhle gekrochen, in die er von Gott geworfen wurde.

    Das “Drama seiner Existenz”. So schön. Ich bin beeindruckt. Ich bin verzaubert. Das Editorial ist trotz des Alters lesenswert. Ich habe Köppel auch mal persönlich kennengelernt. Er war als Hauptredner geladen fürs Nachmittagsprogramm einer Fachtagung. Ich bewundere ihn nicht, ich beneide ihn bloss. Er hat seine Nische etabliert. Er kann wirken.


  • Ich mag nicht reisen

    Ich mag nicht reisen. Ich mag nicht mit irgendwelchen fremden Menschen Gespräche erzwingen müssen. Ich mag meine Route nicht erklären. Ich mag keine Motivation begründen, wieso ich hier und nicht woanders bin. Ich mag nicht über die Schweiz und die Schweizer schimpfen. Über die Enge, über den stieren und strengen Alltag. Ich mag nicht unsere Frauen verunglimpfen und als frigide betiteln.

    Ich mag einfach nicht. Ich mag auch nicht fremde Kulturen kennenlernen. Denn ich zweifle, inwieweit wir wir uns noch selber referenzieren können, wenn wir ohnehin von der grossen westlichen Kultur durchdrungen und verludert sind. Ich mag nicht exotisches Essen schmecken, wenn ich im Wilerhof weiss, was ich erwarten kann. Wenn ich im Rathskeller immer dasselbe bestellen kann.

    Ich mag nicht interessante Persönlichkeiten entdecken, die durchs Leben irren. Ich mag nicht sie nicht zweifelnd und jammernd hören. Ich mag nicht ihre dritte Adoleszenz begleiten müssen. Ich mag nicht abends mich mit Alkohol betäuben. Ich mag nicht Feste feiern, die mir nicht passen. Ich mag nicht irgendwo torkeln, wo ich meinen Heimweg nicht intuitiv finde.

    Ich mag nicht sein, wo man mich nicht kennt, wo man keinen Kontext über mich hat. Wo man stattdessen immer die komplette Lebensgeschichte schildern, aber die gewichtigen Details aussparen muss, weil man ansonsten verurteilt wird. Ich mag mich nicht mehr beweisen müssen. Ich mag nicht, wenn man mich unter- oder überschätzt. Ich mag nicht spielen, mich überhöhen und inszenieren.

    Ich mag es gemütlich, geborgen. Ich mag die Schweiz. Ich mag nicht nach Berlin auswandern. Ich mag nicht mich karikieren. Ich mag, wenn ich mich entspannen kann. Ich werde Berlin gewiss noch beeindrucken. Weil ich nicht aus Berlin stamme. Sondern bloss in Berlin bettelte. Ich mag auch nicht in Australien mich zu sonnen. Ich mag auch keine Expeditionen durch Südostasien organisieren. Ich mag nicht.

    Ich muss nicht, ich muss nicht. Ich werde nicht gedrängt oder gezwungen. Ich fühle nichts, was mich in die Welt treibt. Ich habe genug Welt in mir. Ich bin Kosmopolit. Ich träume stattdessen von einer Vereinigten Föderation der Planeten. Von einer wahrhaftiger Weltregierung. Von einer Welt ohne Geld, ohne Unterschichtsfernsehen, Satire und Gewalt sowie Kriminalität. Wirklich.

    Ich mag nicht reisen, um mich kennenzulernen. Denn ich lerne mich kennen, wenn ich in mich kehre. Das kann ich überall. Dazu brauche ich keinen Dschungel, keinen Strand und noch weniger irgendwelche andere Selbstfindungstouristen. Die ohnehin bloss ganz egoistisch ihre Selbsterkenntnisse verkünden wollen. Die mich bloss zureden würden. Und irgendwann damit enden, ich solle noch mehr reisen. Damit ich noch mehr erfahren werde, aber noch weniger begreifen könne.

    Aber ich möchte niemanden verhindern. Ich möchte niemanden verurteilen. Alle dürfen reisen, so viel und so gerne wie sie wollen. Ich werde niemanden aufhalten oder bremsen oder zurückhalten. Ich lasse alle Menschen gehen und forttreiben. Man darf sogar auswandern, ich billige das. Aber ich möchte bloss, dass man mich versteht, dass ich kein Bedürfnis habe. Ich muss nicht, ich muss nicht. Nichts befeuert mich.


  • Eine Nacht in Olten

    Olten, wo sonst feiert man? Wo sonst verausgaben sich alle Hungrigen? Ich möchte hiermit einen jungen Abend einigermassen rekonstruieren. Vermutlich dramatisiere ich. Die Mitwisser dürfen mich korrigieren oder mir einige Details nachreichen, die ich nicht mehr klarstellen kann. Also, Olten.

    Ich torkelte, schob mein Velo. Ich war bemüht, nicht zu stürzen. Ich aktivierte mich mit Disco-Funk. Bis S. mich überholte. Er flitzte den strengen Hang hinauf. Vermutlich euphorisiert. Frauen können einen wahrhaftig anfeuern, antreiben. Wenn ich verliebt bin, kann mich nichts bremsen, stoppen, aufhalten oder schwächen. Ich bin die und in Manie.

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    Also hat mich S. überholt. Wir versuchten den Abend zu rekapitulieren. Dort einige Brüste, die mich nicht interessierten. Hier eine geil-willige, für mich nicht empfängliche Achtzehnjährige. Ich kann mich nicht erinnern. Vermutlich war der monatliche Fruchtbarkeitszyklus wohlgesonnen, er vertröstete die alternden Männern Oltens.

    Ein offensichtlicher Frauenüberschuss motivierte verheiratete, ledige oder in Scheidung gequälte Männer. Ich habe mich mit der Gesellschaft von R. begnügt. Alkohol hat mich angetrieben. Ich habe grosszügig dosiert. Ich habe ausnahmsweise keine Lokalrunden spendiert, keine Muschishots verschüttet. Ich habe mich nicht verschuldet.

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    Ich startete mit Bier, bis ich nicht mehr Bier trinken konnte. Dann steigerte ich mich mit Gin Tonic. Als ich schliesslich so besoffen war, dass ich nicht mehr tanzen konnte, beschwipste ich mich wieder mit Bier. Ja, zwischendurch tanzte ich. Ich tanzte einen versoffenen Ausdruckstanz. Ich schwebte, wippte und hüpfte durch den verdunkelten Keller.

    Ich traf eine Halbcousine N. Ich habe höchstwahrscheinlich Peinliches gebeichtet. Vermutlich muss ich mich schämen. Aber wer mich kennt, weiss, dass ich nichts bereue. Ich telefoniere nächsten Tag nicht herum. Mein Drauf- und Doppelgängertum ist so offenkundig, dass es mir nicht einmal schaden würde, wenn alle Welt davon wüsste. Ich entschuldige mich nicht.

    Der untypische Frauenüberschuss hat meine Kollegen O. und S. herausgefordert. Wir versteckten uns im Raucherbereich. Dorthin verlaufen selten Frauen. Frauen sind eher im Tanzkeller oder im geselligen Aufenthaltsbereich des Lokals zu treffen. Im Raucher verstümmeln sich bloss die Lokalhelden, die einander vertrauten Berufsjugendlichen.

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    Bekanntlich flirte ich selten. Flirten kann zwar den Sinn, die Sprache und die Empathie schärfen. Denn ein Flirt ist wie ein Spiel, ist wie ein Training. So wie die Katze spielt, um in Form zu bleiben, für den Ernstfall, für die Entscheidungsschlacht sich zu rüsten. Aber ich spiele nicht, ich flirte nicht. Ich mag nicht üben, wenn ich stattdessen lieben kann.

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    Ich kann bloss trinken. Nichts kann mich aufhalten oder davon abhalten. Meine Kollegen verschwinden entweder oder flirten. Ich sitze dann dort und trinke. Ich mag nicht mit Frauen quatschen, die ich nicht kenne. Ich mag nicht erklären müssen, was ich arbeite. Ich vereinfache mich dann einfach als Alkoholiker, was auch nicht gelogen ist.

    Viel passiert ist nicht. Es war kein klassischer futuristischer Abend. Wir haben nichts zertrümmert oder zerstört. Aber es war ein anständiger Exzess. Ich habe kein Sozialkapital vernichtet. Ich bin nicht Amok gelaufen. Ich bin auch ruhiger geworden. Aber ich mag weiterhin, wenn ich anständig besoffen bin.


  • Historisches über Sex

    Passend zum kürzlichen Geständnis, dass ich die weibliche Sexualität nicht begreife, möchte ich einen Artikel aus einer nicht mehr so druckfrischen NZZaS verlinken, der Zitate und Muster historischer Persönlichkeiten über die menschliche Sexualität zusammenfasst. Dass etliche Aussagen die weibliche Sexualität betreffen, überrascht natürlich nicht. Ich empfehle ein kurzweiliges Lesevergnügen. 


  • Die weibliche Sexualität

    Ich gestehe, ich hatte in meinem Leben Sex. Sex mit dem anderen Geschlecht. Ich habe Sexualität erfahren. Trotzdem habe ich nichts verstanden. Ich gestehe nämlich, dass ich bis heute die weibliche Sexualität nicht enträtseln kann. Ich verstehe sie nicht. Ich will also mal mustern.

    Frauen überfordern mich sexuell. Permanent. Der feuchte Traum eines jeden Mannes, einige Zwillingsschwestern zu beglücken, wäre mein schlimmster Albtraum. Zwei Frauen gleichzeitig? Niemals! Eine genügt, denn ich kann nicht einmal eine verstehen. Das verantwortet nicht mein schrumpeliger Schwanz; daran scheitert es nicht.

    Es misslingt, weil ich jede Frau wieder from scratch verstehen muss. Ich kann nicht auf meine Erfahrungen zurückgreifen. Ich kann keine Muster bilden. Frauen sind ohne Muster in ihrer Sexualität. Die Gesellschaft ist ob der weiblichen Sexualität verunsichert. Deswegen haben wir Männer die Frauen auch verteufelt oder versklavt und fürchten sie weiterhin.

    Wäre ich ein Diktator, ich würde die Frauen sofort ausschaffen. Ich würde bloss hungrige Männer züchten, die im Gleichschritt marschieren, mit willig-fähigen Liebesdiener einigermassen sedieren, mit Glücksdrogen entspannen und mit Panzerschokolade fürs Gefecht, für die grosse Entscheidungsschlacht anfeuern.

    Um die weibliche Sexualität zu vermessen, verlässt mich meine Sprache. Ein solches Projekt könnte niemals enden. Ich müsste alle Kontinente besuchen; ich müsste mit unzähligen Frauen Intimitäten etablieren. Ich würde mit sechzig, als meine Männlichkeit langsam erlischt, anerkennen, dass ich nichts verstanden habe.

    Ich kann jetzt mit dreissig allmählich resümieren, dass ich niemals verstehen werde. Immerhin. Denn ich beanspruche nicht, dass ich jemals das Geheimnis entschlüsseln werde. Ich werde niemals einen Universalübersetzer erlangen, der mir alle Frauen sexuell öffnet. Leider. Ohne dass man den weiblichen Körper künstlich erweitert, verbessert.

    Manche Frauen erregt es, wenn sie einen Schwanz verschlucken können. Man muss sie weder küssen noch berühren. Man muss nichts sagen. Sie wollen einfach einen Schwanz lutschen, dann sind sie aktiviert, dann werden sie hungrig. Dann wollen sie einen spüren. Erst dann können sie empfangen.

    Andere Frauen lieben es, wenn sie einfach verführen können. Wenn sie ihren Körper vorführen können. Wenn sie beobachten können, wie der Mann sich regt. Sie erwarten Komplimente, sie erwarten Küsse, die sie aber nicht erwidern. Sie wollen den Mann bloss schmachtend wissen. Das erhitzt sie.

    Andere Frauen wollen stets geleckt werden. Jede sexuelle Handlung beginnt mit einem Cunnilingus. Ohne diese Hingabe verweigern sie alles. Sie können auch nur so stimuliert werden. Bloss die Klitoris mit der Rechten oder Linken zu stimulieren, wollen und können sie nicht; sie wollen deine Zunge, bloss deine Zunge.

    Ich schreibe ja nur übers Vorspiel. Das alleine ist eine Kunst. Der eigentliche Akt verkompliziert alles. Welche Stellung bevorzugt deine Frau? Nach Monaten ahnt man es. Manche Frauen kommunizieren, sie äussern ihre Bedürfnisse. Andere Frauen wollen aber herausgefordert werden. Sie erwarten, dass man testet.

    Du kannst lebenslänglich experimentieren und wirst vermutlich nie die Stellung zufällig treffen, die eben deine Frau liebt. Entweder, weil sie selber nicht weiss, welche sie mag, oder weil du irgendwann zu routiniert bist und dich damit abtust, dass der Sex irgendwie ganz in Ordnung sei, weil niemand mehr sich beklagt.

    Wir können so rasch getäuscht werden. Nicht bloss mit vorgetäuschten Orgasmen. Wiederum ein unendliches Thema. Ich fordere seit langem eine Art Statusanzeige, ein Lämpchen wie bei fortschrittlichen Buildprozessen in zeitgemässen IT-Abteilungen, welche einen erfolgreichen Orgasmus signalisiert.

    Zurück zum Akt. Was mag deine Frau? Abgesehen von der Stellung. Wie mag sie die Penetration? Tief? Langsam? Schnell? Oberflächlich? Rhythmisch oder nervös? Oder musst du abwechseln? Spielst du progressiven Rock, änderst stets deinen Takt, deine Intensität? Ich kenne Frauen, die brauchen Beständigkeit. Andere das Gegenteil.

    Andere wiederum verabscheuen den eigentlichen Akt. Sie mögen das Zuvor und Danach. Aber weil die Gesellschaft sie zwingt, fügen sie sich. Diese Frauen kannst du nicht fickend befriedigen. Das ist zwecklos; du vergeudest jede Mühe. Diese Frauen fühlen sich erfüllt-besänftigt, wenn du beispielsweise bloss zuguckst, wie ein Vibrator dich ersetzt.

    Es ist kompliziert. Du kannst nichts wiederholen. Du hast zwar trainiert, jahrelang geübt, sicherlich schon mit etlichen Frauen geschlafen. Doch es überrascht dich immer wieder. Kannst du den Akt einigermassen meistern, dann verzweifelst du, wie du ihn angemessen abschliessen sollst.

    Und auch hier wieder trennen sich die Geschmäcker. Du kannst nicht einfach ein Muster übernehmen, das du vermutlich einmal intensiv angewandt hattest, das dort bei der einen, spezifischen Frau eine gewisse Befriedigung verursachte. Du betrittst hier wahrlich unentdecktes Land. Du bist ein Forscher in den unendlichen Weiten des Alls.

    Manche Frauen mögen es, wenn du ihren Arsch besamst. Andere mögen es, wenn du in ein Nastüchlein wichst. Andere mögen deinen Lebenssaft in ihrem Mund. Andere wollen ihn in ihrer Vagina aufsaugen. Andere scheuen überhaupt Sperma; sie hassen den männlichen Erguss. Doch wir sprechen hier bloss über deinen Abschluss.

    Wie beendest du also deinen Sex? Ich versuche, das Ende stets hinauszuzögern. Doch irgendwann scheitere ich, weil ich mich übernehme. Was dann? Wie dann verfahren? Welche Anleitung soll ich befolgen? Welches Muster soll ich anwenden? Ich habe keine Ahnung. Manche Frauen können kundgeben, andere werden dich auffordern.

    Anderen ist es auch wirklich egal, wie du aufhörst. Anderen, wie du abspritzst. Ob man das Ende des Aktes zelebriert oder nicht, ist noch das eine. Das andere aber, was mich beschäftigt, ist, wie es danach weitergeht. Musst du sprechen? Musst du kuscheln? Musst du eine rauchen?

    Gewisse fragen sich nach der Mutter. Andere wollen bloss paffen. Andere ein Bier, andere kuscheln. Andere alles wiederholen. Auch hier riskierst du, dass du dich vertust. Du musst deine Frau kennenlernen. Doch du musst das Thema ansprechen. Einige wollen, andere können nicht, andere wiederum wollen nicht.

    Also, meine Herren, was lernen wir? Dass wir nicht zu lernen verlernen sollten. Wir werden niemals uns einreden können, dass wir wüssten, wie es funktioniere. Jede neue Frau überfordert uns aufs Neue. Aber wir könnten uns jederzeit irren; wir zehren von Annahmen, von fiesen impliziten Annahmen.


  • Wieso bin ich so liebeshungrig?

    Auch alle Liebe der Welt wäre mir nicht genug, so bin mal herausgefordert worden. Gewiss will ich mehr von allem und von allem mehr. Ich giere nach Liebe, nach Anerkennung. Das überrascht niemanden. Heute möchte ich das Verhalten begründen.

    Ich kann meinen Liebeshunger nicht isolieren. Dieser Liebeshunger stammt vom ganzgrossen und übergeordneten Lebenshunger. Ich will leben. Das beinhaltet, dass ich auch lieben möchte. Bekanntlich lebe ich nicht sparsam. Ich vergeude mein Leben. Ich beschleunige mein Leben. Also überrascht nicht, dass ich ebenso liebe.

    Ich kann mich manchmal rasch verlieben. Dann verliebe ich mich unaufhaltbar. Ich kann mich selber kaum noch bremsen. Ich überreize, ich überfordere meine Liebe. Ich überspanne sie, dass man zuweilen mich fürchten muss. Ich verzaubere, aber ich fordere auch. Ich bin sehr fordernd. Ich verlange nämlich Aufmerksamkeit.

    Aufmerksamkeit befeuert mich. Wir alle trachten nach Aufmerksamkeit. Doch ich bin süchtig; denn es ist meine Droge, so wie ich jüngst mich mal rechtfertigte. Man darf meinen Drang pathologisieren. Das ist er, sobald ich deswegen mich oder andere gefährde oder verletze. In der Liebe sind die Fronten wirr. Man wechselt immer die Seiten.

    Weder Verfolger noch Opfer noch Retter sind eindeutig und zweifelsfrei zu identifizieren. Das klassische Dramadreieck kann das Scheitern menschlicher Beziehungen und insbesondere meiner Beziehungen nicht entschlüsseln. Wenn ich nach Liebe sehne, dann bin ich einerseits Verfolger, andererseits Opfer und schlimmstenfalls Retter. Als Einschub.

    Denn damit kläre ich meinen Liebeshunger nicht. Damit kann ich bloss andeuten, wieso einige Beziehungen misslangen. Weil ich eben zuweilen zu hungrig war. Ich verfolgte, jagte mit übermässiger Liebe. Jede Zurückweisung verstärkte meine Liebe. Bis ich mich als untröstliches Opfer fühlte. Obwohl ich doch bloss retten, helfen wollte.

    In meiner Bedienungsanleitung verkündete ich, man müsse mich bloss knutschen. Man müsse bloss tanzen, fragen und teilhaben. Grundsätzlich bin ich einfach gestrickt. Aber ich bin total. Ich beanspruche totales commitment. Ich übersetze das gerne mit totaler Einsatzbereitschaft; totaler Hingabe und Zugabe. Ohne Widerspruch.

    Das entspricht dem Prinzip des Wenn-Schon-Dann-Schon. Das erlernte Verhaltensmuster bekräftigt mich, einmal getroffene Entscheidungen konsequent umzusetzen. Doch ich muss diese Entschlossenheit auch im Gegenüber spüren können, atmen sehen. Denn sonst zweifle, bremse ich. Dann strauchle ich.

    Bin ich also gar nicht hungrig, sondern bloss intensiv und leidenschaftlich? Oder sind das weitere Euphemismen, welche meine Selbstwahrnehmung täuschen? Ich antworte im besten Beratersprech, dass it depends on. Tatsächlich bin ich intensiv und leidenschaftlich; damit betitle ich meine Totalität der Liebe.

    Gleichzeitig bin ich hungrig-sehnsüchtig. Nach ebendieser Totalität. Ich hungere und sehne solange, bis ich die Totalität spüre und vor allem solange ich diese Totalität spüre. Sobald sie abschwächt, wenn und weil ich zu viel grüble und hintersinne, hungere und sehne ich wieder. Dann taumle ich im Dramadreieck. Dann katalysiere ich meine Beziehung.

    Und dann leide ich, leidet meine Liebe. Alle leiden. Man verletzt sich unabsichtlich, nicht willentlich gegenseitig. Man zerstört damit die natürliche regenerative Kraft der Liebe. Denn Liebe kann sich grundsätzlich erneuern. Sie könnte, wenn man sich nicht im Anschuldigungsdreieck vergisst.