Entweder-oder

Entweder entscheide ich mich für die Paarbeziehung. Oder ich entscheide mich dagegen. Mir ist die Wahl auferlegt worden. Das war nicht so geplant. Denn ich will mich nicht entscheiden. Weil wenn ich entscheiden muss, dann entscheide ich mich gegen die Paarbeziehung. Weil ich darin keinen Sinn und keine Identität finde.

Gewiss ist meine Paarbeziehung ein wenig komplizierter. Wir haben ein gemeinsames Schicksal zu bewältigen. Bekanntlich bin ich Vater geworden. Die Angehörigen leiden an einem sehr selten Geburtsgebrechen des Kindes, das kein «normales» Leben erlaubt. Stattdessen sind multiple IV-Fälle zu beantragen. Das Kindchen bemerkt davon nichts.

Als Paar haben wir uns auch einigermassen in Basel sozialisiert. Auch ich bin einigermassen integriert, nicht vorbildlich. Aber immerhin. Die Wohnung ist schick, die Lage ist ausgezeichnet, das Mobiliar ausgewählt. Alle weltlichen Dinge sind geregelt, Auto vorhanden, Versicherungen platziert, auch ein gütlicher Vorsorgeplan ist getroffen.

Die Vernetzung innerhalb beider Familien ist okay. Wir sind keine überschwänglich liebende Familie, aber wir vertragen uns einigermassen. Wir haben nichts Fundamentales zu bestreiten. Kurzum, technisch alles einwandfrei. Also muss ich überhaupt eine Entscheidung forcieren?

Entweder ich verpflichte mich nun zu dieser Paarbeziehung. Oder ich verneine sie komplett. Beide Optionen folgern Konsequenzen. Ich kann nicht fortfahren wie bisher. Ich muss etwas ändern. Beide Optionen sind beschwerlich und schmerzlichst. Entweder-oder. Ich kann mich nicht befreien, ich kann die Entscheidung nicht vertagen.

Das gemeinsame Schicksal mit dem eingeschränkten Kindchen beeinflusst meine Entscheidungsfindung erheblich. Alleine kann ich das Schicksal nicht optimal bewältigen. Ich müsste alle Hilfsmittel auch beschaffen und einrichten. Auch einfachere Aufgaben wie Wickeln, Füttern und Anziehen sind zu zweit komfortabler zu bewerkstelligen.

Alleine allerdings werden die täglichen Aufgaben immer anstrengender. Ich prognostiziere, dass ich in einigen Jahren das Kindchen in ein Heim abliefern muss. Diese ohnehin gegebene Frist könnte die Paarbeziehung noch um einige Jahre zusätzlich strecken. Das bedauere ich sehr, kann das aber selber kaum aufhalten.

Ebenso sind die sozialen Interaktionen in Basel ohne Paarbeziehung verloren. Alle bisherigen Kontakte werden mich als verantwortungslos, egoistisch und desolat verbrämen. Ich kann’s nicht einmal verübeln. Fortan würde ich Basel lediglich schlafen, eventuell trinken, manchmal mit dem Kindchen spazieren. Alleine sein.

Ich kann mir ein alleinerziehendes Betriebsmodell zwar durchaus vorstellen, aber nicht im Kontext der Geburtsgebrechen des Kindchens. Von den wenigen bekannten Fälle in der Schweiz lebt nur eine «Familie» in der Schweiz mit derselben Krankheit getrennt. Die restlichen zwanzig Familien sind – zumindest offiziell – intakt.

Ich kann das Kindchen wegabstrahieren für die Entscheidungsfindung, damit das mich nicht beeinflusst. Aber die Entscheidung muss ich holistisch erledigen. Ich kann einzelne Aspekte nicht verdrängen. Ich könnte die Paarbeziehung also akzeptieren, wenn ich vor allem die Bedürfnisse des Kindchens berücksichtige.

Doch meine Bedürfnisse sind ebenfalls nicht zu vernachlässigen. Ich muss bereits jetzt des Kindes wegen entbehren, was naturgemäss mir wichtig wäre: Nachlässigkeit, Verantwortungslosigkeit, Masslosigkeit, Widerstand, Sinnlosigkeit, Verzweiflung, Weltschmerz. Das Kind erzieht mich, das Kind sittet mich.

Ohne Kindchen könnte ich selbstbestimmter entscheiden also. Ich müsste keine Kompromisse annehmen. Das Kindchen legitimiert den Kompromiss, den ich naturgemäss verabscheue. Ich lebe bereits jetzt in einem grossen Kompromiss. Zu viele Kompromisse sprengen meine Identität. Also muss ich mich wieder radikalisieren.

Mir ist bewusst, dass Paarbeziehung Arbeit bedeuten. Dass Paarbeziehung per Definition grössere Kompromisse sind. Darin wird niemand wirklich glücklich, aber auch nicht komplett unzufrieden. Deswegen sind Paarbeziehungen auch so erfolgreich. Sie zwingen einen zu einer gewissen Mittelmässigkeit, Ausgeglichenheit und Stabilität.

Die nicht-existente Gesellschaft fragt solche Werte nach, damit wir wiederum besser funktionieren können. Funktionieren heisst, auf den ökonomischen Zweck reduziert zu werden. Gute, mittlerweile auch aufgeklärte und sensible Konsumenten zu sein, finanziert durch eine angemessene Lohnabhängigkeit, die irgendwie Sinn stiftet.

Zwar gilt die Liebe weiterhin als Widerstandsnest gegen die orange Leistungsgesellschaft. Dennoch sind die Paarbeziehungen als orange bishin grüne Zweckgemeinschaften mutiert, die bloss eine konstante Leistung garantieren sollen. Die Paarbeziehung ist keine Quelle der Liebe, sondern des Anstands, der Sitte, der Moral und der Leistungsbereitschaft.

Ich will dagegen kompromisslos leben. Ich will lieben, wie die Liebe fällt. Ich will mich nicht lebenslänglich versteifen. Ich fürchte mich nicht vor Einsamkeit im Alter. Niemand kann mich beschützen, niemand kann mich retten, niemand kann mich zum Besseren kehren. Ich muss das akzeptieren – oder mich organisch und nicht invasiv ändern.

Entweder-oder. Ich bin zur Entscheidung genötigt. Was will ich? Ich möchte aufrichtig fürs Kindchen sorgen. Sooderso. Ich möchte keine Kompromisse riskieren. Sooderso.


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