• Sie nennen es Arbeit

    Im Herbst 2006, gefühlt eine Ewigkeit her, erschien das nette Büchlein “Wir nennen es Arbeit” ausm Umfeld der Zentrale-Intelligenz Agentur Berlins. Das Büchlein hat sich bis nach Olten verirrt, sicherlich auch nach Langenthal, Zofingen oder Aarau, aber bestimmt nicht nach Solothurn. 

    Darin werden die prekären Verhältnisse digitaler Nomaden glorifiziert, die tagsüber in den restaurierten Cafes der grossen Stadt hängen. In Basel beispielsweise das Frühling, in Bern das Effinger, in Zürich vielmehr das Auer. Es sind Unternehmensberater, Coaches, Marketing-Spezialisten, Agentur-Fritzen, die im Cafe und auf LinkedIn überpräsent sind.

    Wer in einem Cafe sitzt und es Arbeit nennt, möchte bloss seine Erfolglosigkeit verbergen. Wer nämlich wirklich erfolgreich ist, residiert am Aeschenplatz oder am Paradeplatz, hat eine angemessen attraktive Sekretärin und muss nicht durch die Cafes der grossen Stadt schleichen und im Cafe wie auf die LinkedIn Beschäftigung simulieren.

    Ich bin ebenfalls mässig erfolgreich. Ich gehe bloss ins Cafe, weil ich mir keine angemessen attraktive Sekretärin leisten kann. Denn im Cafe trinken die hübschen Mädchen der grossen Stadt Cafe und wirken beschäftigt, innovativ, kreativ und freigeistig. Das macht mich irgendwie an, lenkt mich aber gleichzeitig ab. Und drum bleibe ich mässig erfolgreich. 


  • Ein semioffener Brief an meine favorisierte Kandidatin für die Regierungsratswahlen im Stadtkanton.

    Liebe Kandidantin

    Ich bin relativ frisch in deinen netten Stadtkanton eingewandert und grundsätzlich apolitisch. Ich habe bei den letzten NR-Wahlen gehorsamst Smartvote ausgefüllt. Du bist mir als das kleinste politische Übel mit 66% Übereinstimmung ausgewiesen worden. Das hat mich gefreut, weil habe ich im Stadtkanton doch eine höhere politische Ablehnung erwartet. 

    Ich habe damals ausnahmsweise nicht nach Aussehen, Beruf oder Sympathie gewählt, sondern tatsächlich politisch und zutiefst analytisch. Ich habe alle meine Stimmen dir geschenkt. Ich habe auch heimlich am Wahltag gefiebert und gehofft, du würdest bald als nette Nationalrätin meinen netten Wohnkanton repräsentieren. 

    Bekanntlich hat’s nicht gereicht. Die Lokalmedien bewunderten deinen sogenannten Achtungserfolg. Danach habe ich dich wieder vergessen. Ich war zwar informiert, dass du unterdes auch in der Legislative unseres gemeinsamen Wohnkantons gewirkt haben sollst. Ich habe das leider nicht bemerkt, weil ich keine Tagespolitik konsumiere. Verzeihe mir. 

    Ich habe dich also vernachlässigt. Bis ein Arbeitskollege dich beiläufig erwähnte. Ich kann den Kontext nicht mehr rekonstruieren. Jedenfalls konnte ich mich an deinen Namen erinnern. Ihr kennt euch beide. Ihr habt beide beim lokalen Fernsehen gearbeitet. Ich mag das Lokale, weil es hemdsärmelig, authentisch, übereifrig und leidenschaftlich ist. 

    Ich habe daraufhin recherchiert über deine Person. Ich erfuhr, dass du einer Wohngemeinschaft leben sollst. Ich habe Spekulationen über deine sexuelle Identität respektive Gesinnung aufgeschnappt. Ich habe deine alten Moderationen auf Youtube studiert. Ich habe Rezensionen deiner Bücher registriert.

    Ich habe mich auf deine private und berufliche Identität fokussiert; deine politische habe ich hingegen ignoriert. Ich habe nicht erhoben, wie viele und welche Vorstösse du durchgesetzt, unterzeichnet hast oder wie dein Wahlverhalten im lokalen Parlament war. Keine Ahnung, ich wüsste auch nicht, wo ich das nachschlagen kann. 

    Du hast mich irgendwie fasziniert. Überdies bist du technisch sehr gutaussehend. Manche Männer sollen sich über deine zu tiefe Stimme echauffiert haben, was mir nicht auffiel, solange ich nicht bewusst darauf achtete – wohingegen die meinige wohl dementsprechend zu hoch oder zu weiblich sein müsste. Jedenfalls bist du hübsch und reizend.

    Das qualifiziert dich aber nicht als Regierungsrätin. Natürlich nicht. Für mich aber schon. Ich bin sehr entzückt, eine Kombination aus politischer und sexueller Übereinstimmung, zumindest einseitig und unerklärt, beobachten und feststellen zu können. Das ist aussergewöhnlich derart, dass ich dir am liebsten diesen Text zustellen möchte.

    Allerdings weiss ich auch, dass du für eine grüne Partei agierst. Ich möchte nicht in einem Shitstorm diskreditiert werden, bloss weil ich aufrichtig, offen und ehrlich war. Gewiss bin ich unbedeutend genug, dass es mir nicht schaden würde – dennoch möchte ich morgen nicht deine prominente Timeline zieren.

    Ich hoffe, du wirst künftig meinen netten Heimatkanton angemessen regieren. Ich vertraue dir mit Vorschuss, obwohl ich dich nicht kenne. Wir teilen bloss den Jahrgang, einen Bekannten, die unmögliche Liebe zum Politischen und eine Affinität zum geschriebenen Wort. Das muss genügen, dir diese Widmung auf meiner persönlichen Plattform zu schenken.

    Schön, dass es dich gibt. Ich bin froh, dass Basel-Stadt mir so etwas bieten kann. In Olten gab’s die letzte politische Übereinstimmung bloss mit jemanden, der nun in Basel-Stadt ganz apolitisch lebt, Frau und Kind hat, Doktor der Jurisprudenz sich wähnt und gelegentlich im Schützenmattpark hängt.

    Wer weiss, wen ich meine so nebenbei?


  • Die unglaublichen Geschichten

    Bekanntlich bin ich nicht sozial. Ich verkrieche mich gerne. Ich spiele, masturbiere und schreibe. Ich gehe selten aus. Wenn ich ausgehe, dann immer an denselben Ort, immer mit demselben Programm. Bier und Zigaretten, bis sie mich erschöpfen. Ich bin routiniert, ich habe mich längst mit meiner Lebenssituation arrangiert. 

    Gelegentlich werde ich dennoch angesprochen. Normalerweise versuche ich stets zu wiederholen, dass man mit mir sich nicht unterhalten solle. Warum? Weil ich kein angemessener Gesprächspartner sei und die Bedeutung meiner Aussagen stets überbewerte. Und überhaupt sei ich sehr grüblerisch und fatalistisch. 

    Nichtsdestotrotz führe ich Gespräche mit fremden Menschen. In Olten muss ich mich niemals erklären. Es ist allen alles klar. Ich muss meinen Lebenslauf nicht rekapitulieren. Man weiss es. Ich muss meine Ereignisse nicht aufzählen. Sie sind bekannt. In Basel hingegen bin ich unbekannt. Ich bin keine Person des öffentlichen Interessen.

    In Basel bin ich anonym. Manchmal fühle ich mich daher unverstanden und fremd. Jüngst empfand ich eine angenehme Bekanntschaft in Basel. Sie ist insofern bemerkenswert, als sie äusserst selten ist. Ich bin dermassen mit mir selber beschäftigt, dass ich meine Mitmenschen, die manchmal Raum und Zeit zufällig teilen, nicht wahrnehmen will.

    Ich durfte mich ausdrücken, wer und was ich bin. Ich kann diese Fragen klar und einfach beantworten. Ich bin geübt, mich zu verständigen, sofern notwendig oder schicklich. Was mich diesmal verwunderte, war, dass ich intrinsisch bemüht war, die Mitmenschen meiner Existenz partizipieren zu lassen.

    Ich teile ungern, sofern ich nicht mich wohl, geborgen, vertraut und damit sicher wähne. Ich kann aber gleichzeitig offen und ehrlich sein, sofern eine Zufallsbekanntschaft eine einmalige bleibt – ich also keine Konsequenzen fürchten muss. Ich kann dadurch nicht aufgrund meiner Aussagen oder meiner Geschichte diskreditiert werden. 

    So entstand eine Situation, in der ich ausnahmsweise, weil gerade unverbindlich und unverfänglich, offen und ehrlich war – und beantwortete, wonach man mich fragte. Es entstand eine kurze Geschichte meines Lebens. Natürlich habe ich dennoch Details entfernt, die das Gegenüber schockieren könnte. Ich habe meine Geschichte zensiert.

    Ich kann auch bei einer Zufallsbekanntschaft nicht wirklich offen und ehrlich sein, sofern ich nicht sofort spüre, dass diese Zufallsbekanntschaft im Hintergrund und Kontext mir ähnelt – was wiederum naturgemäss sehr unwahrscheinlich ist, weil etlich variable Verhältnisse das Verhalten und letztlich die Haltung formen. 

    Ich möchte keine neuen Menschen kennenlernen, weil ich meine eigene Geschichte nicht stets aufrollen möchte. Ich fürchte mir vor Unglaube und/oder Unverständnis. In ganz seltenen Konstellationen fühle ich mich automatisch wohl und geborgen. Ich muss mich nicht maskieren oder sonstwie schützen oder das Gegenüber schonen. 

    Ich bin bereits herausgefordert, tagsüber einigermassen zu funktionieren. Ich war jüngst zum Zmittag mit einem prominenten Gast verwickelt. Als angepasster Narzisst glaubte ich mich ertappt und aufrührerisch, als ich verbotene Literatur zitierte. Ich habe über die Gesellschaft des Spektakels berichtet. Das Werk ist spätestens seit Bush Junior ziemlich unspektakulär.

    Wer tagsüber also glaubt, er müsse sich irgendwie mässigen oder disziplinieren, der kann auch abends sich nicht wirklich befreien. Ich bleibe angespannt. Und daher verschweige ich gewisse, aber gewichtige Details meiner Geschichte. Dennoch hört sich meine Geschichte unglaublich an. 

    Ich glaube nicht, dass ich unglaublich bin. Ich arbeite einigermassen, ich zahle Steuern, ich pflege Beziehungen, ich kann sogar etwas wie Sexualität erfahren. Und ich berausche mich. Ich bin weitaus langweiliger als man mir zutraut. Vielmehr bin ich kastriert. Ich friste lediglich auf verlorenem Posten, warte vergebens auf Ablösung, die mich auflöst.


  • Uwe, der Unternehmensberater

    Unternehmensberater faszinieren. Sie sind gerissen, unruhig und meistens inkompetent. Wer sich nicht spezialisieren kann, wird Unternehmensberater. Eine Unternehmensberater wähnt sich gerne als moderner Universalgelehrter. Unterschiedliches Branchenwissen, allgemeine Bildung über Managementtheorien, exotisches unnützes Wissen – das genügt. 

    Ich möchte nun Uwe fokussieren. Uwe war Bauernsohn aus fernen Toggenburg. Er verliess den väterlichen Hof bereits mit 18. Er wollte Grossstadt-Action. St. Gallen war keine Option, denn St. Gallen ist die einzige stagnierende grössere deutschsprachige Stadt – abgesehen von Olten und Langenthal, die aber ausser Konkurrenz, weil ohnehin hoffnungslos sind. 

    Also übersiedelte der junge Uwe nach Zürich. Zürich, die grösste deutschsprachige Stadt der Schweiz, verführt alle Aar- und Thurgauer. Zürich ist cool für, wer aus Wohlenschwil AG oder Wittenwil TG stammt. Den eingeschleppten Dialekt gewöhnt man rasch ab. Man assimiliert sich ohne Widerstand. 

    Uwe war hungrig. Also bemühte er sich um eine Festanstellung bei einer Grossbank. Grossbanken waren damals sexy. Sie waren gross. Und so. Vermutlich waren damals die Frauen hübscher, die Männer erfolgreicher und das Geschäftsmodell war idiotensicherer. Auch ein Affe hätte eine Grossbank kommandieren können. Aber das ist eine andere Geschichte.

    In den 90er etablierten sich die ersten grossen Unternehmensberatungen. Die meisten dürfen nicht mehr mit ihrem originalen Namen firmieren, weil sie alle in Skandalen sich verausgabt hatten. Ein Rebranding war die Folge und muss zuweilen auch heute noch durchgesetzt werden, sobald eine Unternehmensberatung eine Wirtschaftskrise auslöst.

    Uwe, der Bauernsohn ausm fernen Toggenburg, war beeindruckt. Uwe hat aber die falschen Schulen besucht. Sein Vater diente der lokalen vormaligen Bauernpartei. Sein Vater war mit dem Schreiner und mit dem Metzger des Dorfes vernetzt. Uwe hatte keine Freunde in Zürich, in Küsnacht, Feldmeilen oder Zollikon.

    Uwe war ein Aussenseiter. Er besass Bauernschläue zwar, aber diese war nicht respektiert oder angesehen. Stattdessen beobachtete Uwe die Unternehmensberater. Der Unternehmensberater kämmte die Haare streng und kleidete sich stets überdurchschnittlich, damit er sich abgrenzen kann.

    Der Unternehmensberater kann unterschiedliche Managementlehren kombinieren. Der Unternehmensberater kann stets parieren. Der Unternehmensberater kann stets zitieren. Der Unternehmensberater kann alle Probleme analysieren und eine Lösung beraten. Der Unternehmensberater ist der James Bond des Spätkapitalismus’. Und so fühlt er sich auch.

    Aja, der Unternehmensberater ist männlich, gutaussehend, hat keinen Bierbauch, ist trainiert, ist sexuell potent und dementsprechend aktiv; der Unternehmensberater muss sich nicht verstecken. Er kann flirten, beeindrucken und vor allem Frauen aller Branchen erobern. James Bond halt. 

    Uwe, sanft kleingewachsen, sanft dicklich, sanft nicht sonderlich intellektuell, wollte auch ein Unternehmensberater werden, mit einem Rollkoffer durchs Grossraumbüro flitzen, immer unterwegs, immer mit voller Agenda, alles ist wichtig und dringend, immer beschäftigt und stets eine kleine Kalenderlücke für eine empfängliche Frau. 

    Uwe passte sich an. Uwe lernte rasch. Uwe konnte bereits als Jüngling Menschen beeindrucken wie beeinflussen. Uwe war geschickt. Uwe studierte Bücher, wie man das Auftreten optimierte, wie man in Meetings möglichst smart wirkte. Uwe lernte alle die existenziellen Floskeln im Managementalltag kennen. Ich will überliefert wissen:

    1. Das erhöht aber die Komplexität.
    2. Was ist das Problem-Statement?
    3. Können wir das skalieren?
    4. Wollen wir nicht alle einen Schritt zurückgehen?
    5. Die Ressourcen sind knapp. 

    Uwe konnte sich zu einem sogenannten Projektleiter hocharbeiten. Er startete als Praktikant. Das war respektabel. Aber dennoch war Uwe weiterhin hungrig. Uwe wollte mehr. Uwe war nicht zu begnügen damit, in einer Grossbank Projekte mit einem Budget kleiner als einer Million Franken zu verwalten. 

    Uwe wollte respektiert, anerkannt und gewürdigt werden. Uwe wollte irgendwann selber ein Büro am Paradeplatz. Ueli möchte nicht am Nebenschauplatz spielen. Uwe wollte Innenstadt, Downtown Zürich. Uwe wollte ein kleines Imperium schaffen. Uwe wollte nicht bloss seinem Vater demonstrieren, dass er besser sei. Uwe wollte es allen zeigen.

    Insbesondere den reichen und fetten Zürcher, seinen Vorgesetzten, seinen Mitbewerbern mit den richtigen Schulen und gepflegteren Schuhen. Also wurde Uwe Unternehmensberater. Wie Uwe als Unternehmensberater reüssierte, später. Seine Anfängen waren bescheiden, aber Uwe war entschlossen und verfolgte einen grossen Plan. 

    Was hat Uwe erreicht? Was macht Uwe heute? Interessiert?


  • Das Ende meiner Sexualität

    Ich möchte mich nicht wiederholen, ich möchte einfach nochmals deutlich, aber endgültig das Ende meiner Sexualität bedauern. Gewiss ist der Zeitpunkt ungünstig, gerade ist hier in Basel-Stadt Sommer, die Frauen sind allesamt leicht oder ohne BH gekleidet. Das ist durchaus reizend. Aber für mich unerreichbar.

    Ebenso gewiss ist, dass der Geschlechterkampf unerbarmlungslos ist. Es ist eine freie Marktwirtschaft. Einige gewinnen, die meisten verlieren. Ich werde mich nun begnügen, dass ich abgehängt bin; eine verlorene Generation weisser Männer, die keine Sexualität mehr beanspruchen kann.

    Technisch könnte möglicherweise reüssieren, ich bin noch nicht gealtert dergestalt, dass ich mich zurückziehen oder verstecken müsste. Auch bin ich irgendwo angestellt, ich könnte technisch einigermassen eloquent mein Schicksal und mein Leiden beschreiben. Auch meine Tochter müsste mich nicht behindern, sondern könnte gut assistieren. 

    Ich darf und werde mich nicht mehr bemühen. Ich werde akzeptieren. Ich kann mich immerhin an eine Sexualität erinnern. Sie ist mir zwar fern und beinahe fremd geworden. Ich fühle mich untröstlich. Damit startet eine Phase maximaler und absoluter Sublimierung. Ich werde mich wieder anderweitig verausgaben müssen. 

    Vermutlich werde ich mich zunächst masslos betrinken. Und komische Berater-Geschichten schreiben. Das regt mich durchaus an. Und eventuell hilft das auch, den Zugang zum Sexmarkt zu verkürzen oder gar zu ermöglichen. Bis dahin verhungere ich in Basel-Stadt. Bald besuche ich wieder Olten.


  • Nach Corowahn

    Der Ausnahmezustand ist ja bekanntlich gelockert worden. Die Menschen wollen sich wieder vergnügen. Die berühmten Strassen der grossen Städten sind wieder bevölkert, manche sogar überbevölkert wie die Steinenvorstadt Basels, wo Halbstarke und Arrangierte zum Cüpli und zur Stange in der Systemgastronomie sich verabreden. 

    Auch ich habe mir bereits einen gewissen Eskapismus mikrodosiert. Ich sass einige Stunden in einer Bar, habe Weizenbier getrunken, die Menschen beobachtet, mich quasi versteckt; ich war ein kleiner geiler Voyeur. Ich genoss einen Abend ohne Verantwortung und Verpflichtung. Ich konnte einfach da sein und musste nichts. 

    Die Clubs sind jedoch weiterhin geschlossen. Die Öffnungszeiten der Bars sind ebenfalls eingeschränkt. Die vormalige Ausgelassenheit ist höchstens im Privaten zu zelebrieren. Die Gesprächsthemen sind weiterhin von Corowahn durchsetzt. Wo übrigens auch jedermann hierzulande anknüpfen kann. 

    Weil jeder hat seine persönliche Lockdown-Geschichte. Diese Geschichten können nun wieder geteilt werden. Das verbindet Menschen. Wer seit jeher leichte Gespräche sucht, findet sie mit Corowahn rasch. Selbst ich bin versucht, über Corowahn mich auszutauschen. Bislang konnte ich mich stets beherrschen. 

    Ich persönlich genoss den Ausnahmezustand. Der Ausnahmezustand hat mir meine grundsätzliche Einsamkeit nochmals verdeutlicht. Ich habe deswegen auch mehr mit meiner Heimat mich sozialisiert und noch verbundener gefühlt. Ich reiste gelegentlich nach Olten, traf dort Freunde und schätzte die mir vertraute und sichere Gesellschaft. 

    Neuerdings bin ich beruflich wieder unterwegs. Ich fahre Zug. Die Züge sind geringer ausgelastet als in den Sommerferien. Das entspannt das Zugfahren. Bislang ist der reguläre Fahrplan noch nicht vollständig reaktiviert. Manche Verbindungen sind noch unterbrochen. Das stört mich nicht sonderlich, ich wollte es lediglich erwähnt wissen. 

    Ich werde Corowahn als maximale Einsamkeit erinnern. Ich konnte reflektieren. Beruflich konnte die Firma neue Ideen konkretisieren. Die Firma hat nun endlich einen Weg zum Nordstern skizziert. Corowahn hat uns befreit und bestätigt und schliesslich bekräftigt, etwas zu riskieren. Wir sind mutiger und entschlossener geworden. 

    Manchmal müssen sich einfach die Verhältnisse ändern, damit die Menschen sich im Verhalten und somit in der Haltung irgendwann ändern. Ob im Beruflichen wie im Privaten. Nach Corowahn sind radikalere Veränderungen eher “toleriert”. Ob man sich vom Beruf oder Partner trennt, man ist nun eher verstanden. 

    Doch das grosse gesellschaftliche Leben wird bald wieder normalisiert. Für eine grosse gesellschaftliche Veränderung war Corowahn doch zu gezähmt. Die Einschränkungen bedeuten lediglich gewisse Entbehrungen; die analoge Kulturindustrie war verboten, die digitale konnte stattdessen expandieren. 

    Auch die Todeszahlen waren nicht so erheblich. Nicht jede Familie hat einen Sohn geopfert. Nicht jede Familie hat eine Tante oder einen Onkel verloren. Es sind bloss Einzelfälle, die zerstreut und nicht signifikant sind. Keine verlorene Generation, kein Massensterben, keine geschundenen Jahrgänge waren die Folge.

    Der Kampf gegen den unsichtbaren Feind war auch keine klassische heroische Tat, die alle verbunden hat. Stattdessen verkümmern irgendwelche Forscher in irgendwelchen Laboratorien und tüfteln dort an einem möglichen Impfstoff. Die Mehrheit der Menschen ist hingegen ohnmächtig, ausgeliefert und weiss sich nicht zu schützen.

    Es ist keine “Kraftakt” der Gesellschaft, um Corowahn zu besiegen, sondern, wenn überhaupt, die Tat eines kleinen Teams. Und überhaupt, noch ist Corowahn nicht erledigt. Vielmehr bedroht uns Corowahn weiterhin, obgleich latent, unsichtbar, im Verborgenen und lustigerweise mit einer Verzögerung von zwei Wochen. Es ist stets eine Rückblende.

    Ich kann das Bedürfnis nach Eskapismus sehr gut nachempfinden. Auch ich hege den Wunsch, manchmal kontrolliert unkontrolliert zu sein. Die Menschen waren seit jeher für allerlei Rausche empfänglich; seien es Künste, Drogen oder Geselligkeiten. Die kurze Versorgungslücke wird rasch wieder gedeckt sein. 

    Ich freue mich auf die nächsten Lockerungen und aufs grosse Vergessen.


  • Die Kind-Eltern-Beziehung

    Menschen, die es gut meinen, sind die gefährlichsten. Alle Eroberer kamen stets im Frieden, alle Missionare stets in grösster Frömmigkeit und jede Mutter stets mit den besten Absichten. Die Beziehung zwischen Kind und Mutter ist ohnehin bereits belastet durch die Entbehrungen der Schwangerschaft und Schmerzen der Geburt der Mutter. 

    Die reinen Opportunitätskosten der Aufzucht sind kaum zu beziffern und können durch organisierten AHV-Erziehungsgutschriften mitnichten abgegolten werden. Jedes Kind hat bereits seit Geburt solche Lasten zu schultern. Entweder verpasst die Mutter einen kritischen Karriereschritt. Oder sie erkrankt als Hausfrau psychisch und moralisch. 

    Die Hälfte aller Eltern trennen sich früher oder später. Das gemeinsame Kind ist oft als Vorwand einer Zweckbeziehung missbraucht. Das Kind, seit Geburt moralisch aufgeladen, muss schlimmstenfalls das Paarunglück der Eltern verantworten, die in eine Beziehung sich zwängen, die ohne Kind längst sich aufgelöst hätte. 

    Es ist verzeihlich, dass auch Eltern überfordert sind. Niemand hat sie ausgebildet. Sie selber konnten bloss von ihren Eltern lernen. Das Leben ist naturgemäss komplex. Eine Droge, die uns alle sediert und maximal vereinfacht, ist momentan nicht mehrheitsfähig. Die Beziehungen zwischen den Menschen werden immer anstrengender und mühsamer. 

    Die Lebensmodelle sind fragmentiert. Vorbildfunktionen sind überkommen. Man kann überall und gleichzeitig nirgends sich orientieren. Der Staat hat die Aufgaben der Lebensschule erfolgreich delegiert – oder nie innegehabt. Wir sind alle irrend, suchend und verzweifeln mitunter mehr oder weniger offensichtlich.

    Oftmals sind die Vorwürfe einseitig. Kein Kind beklagt sich jemals bei der Mutter, dass es vernachlässigt wurde. Die Mutter ist der erste Bezugsperson eines jeden Menschen. Das fördert die Demut des Kindes. Doch jede Mutter ist geübt, das Kind vorwurfsvoll zu konfrontieren, dass sie das eigene Leben fürs Kind geopfert habe. 

    Oft spricht die Mutter nicht bloss in Vergangenheitsform, sondern bezieht sich auch auf die Gegenwart. Es genügt also nicht, über Schwangerschaft, Geburt und Aufzucht zu wehklagen, sondern auch für die aktuelle, persönliche und/oder exakte Misere der Mutter behaftet zu werden. 

    Man kennt das Verhalten auch als psychologische Erpressung: Das Kind mit Schuldgefühlen solange zu belangen, bis das Kind die eigene Bedürfnisse gegenüber der Eltern zurückstellt und sich unterordnet, damit der Kindesbeherrschungstrieb der Eltern befriedigt ist. Denn alle Eltern wollen ihre Kinder “kontrollieren” und sie in einer Ko-Abhängigkeit einfangen. 

    Das ist ganz normal. Wie soll man denn etwas “loslassen”, worin man so viel investiert hat? Alle diese Entbehrungen sind vergebens, sobald die Ursache der Entbehrung sich befreit und lossagt. Daher ketten Eltern ihre Kinder solange als möglich – entweder finanziell oder mindestens moralisch, fürdass der Narzissmus der Eltern gestillt ist. 

    Die Mutter hüllt ihren Narzissmus aber stets mit guten Absichten. Sie sorge sich bloss, sie wolle doch bloss das Beste bezwecken. Keine Mutter begreift aber, dass das Zeitfenster mütterlicher Fürsorge längst geschlossen ist. Dieses fragile Fenster der Möglichkeit der Mutterliebe beschränkt sich im Wesentlichen auf die ersten sechs Lebensjahren.

    Danach folgt die kontinuierliche Abnabelung und Verselbständigung des gesunden Kindes. Mutterliebe bei einem 40-jährigen Kind ist bloss noch absurd und narzisstisch und unterdrückt die Selbstentfaltung des Kindes. Ein Kind, das auch noch Jahrzehnte nach der schmerzvollen Geburt bemuttert ist, fällt eher der gesellschaftlichen Barbarei heim. 

    Denn niemand kann das Kind retten. Es ist auf sich selber zurückgeworfen. Keine Mutter mag das Kind vor der gesellschaftlichen Barbarei und den Herausforderungen des komplexen Lebens schützen. Wir sind alle alleine. Wir können uns notfalls eine neue Familie zimmern, die mit einer ähnlichen Ausgangslage herausgefordert ist. 

    Die Eltern sind keine Lebenshilfe mehr. Stattdessen erdrücken sie einen mit ihrem Narzissmus; mit ihrem penetranten Streben nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Ko-Abhängigkeit und das Beherrschen- wie Rettenwollen. Die Kind-Eltern-Beziehung ist dadurch künstlich erschwert und vor allem entfremdet.

    Die Missverständnisse häufen sich. Nichts mehr ist einfach und umgänglich. Alle Handlungen und Worte werden stets interpretiert. Das Kind meldet sich nicht? Ein Vertrauensbruch für die eine Partei. Die Eltern wollen bloss das Beste? Eine Bevormundung für die andere Partei. Die Beziehung ist eskaliert, die Muster sind beinahe nicht zu brechen. 

    Alsdann ist das Kind gefordert, Muster zu überwinden. Das Kind muss sich distanzieren und Grenzen markieren. Das Kind muss das eigene Schicksal selber bewältigen – ohne Hilfe, auch wenn gut gemeint, der Eltern. Das Kind muss sich selber behaupten. Und das Kind muss eine neue Familie etablieren, die denselben Fehler der Erziehung nicht wiederholt.


  • Ein politischer Flüchtling

    Bekanntlich bin ich wegen Frau und Kind nach Basel ausgewandert. Ich habe anfänglich mich leicht, aber dennoch zurückhaltend sozialisiert. Ich konnte mich mit Nachbarn und Ärzten vernetzen. Einigermassen. Denn ich suche grundsätzlich keine Freunde, ich bin ausreichend bedient und zufrieden.

    Mittlerweile bin ich in Basel gestrandet. Ich werde hier bleiben. Ich habe Olten verlassen, meinen verwegenen Heimatort. Und ich werde auch nicht zurückkehren. Denn ich werde mich hier in Basel um meine behinderte Tochter kümmern. Formell sind 40 Prozent vereinbart. Diese werde ich ausschöpfen.

    Basel-Stadt ist denn auch nicht die Schweiz, die wir im Mittelland kennen. Der Bund deklariert Basel-Stadt als sogenannte Grenzregion. Basel besitzt einen Hafen, mehrere Becken. Ein weiteres Becken ist geplant. In Basel sind Elsässer wie Südbadener gleichberechtigt daheim. Man spricht einen ähnlichen Idiom. Man versteht sich.

    In Basel schätze ich, dass Basel ein Stadtkanton ist. Kein Speckgürtel, keine Agglomeration, nichts beeinträchtigt das Wahlverhalten. Wir haben keinen Stadt-Land-Graben, weil wir blosse Stadt sind. Das Umland ist überdies nicht einmal schweizerisch, sondern wird entweder aus Paris oder aus Stuttgart regiert.

    Ich habe etliche Legenden aufgeschnappt, wie sonderbar Basel-Stadt im schweizerischen Vergleich ist. Ich will gehört haben, dass private Erträge von Immobilienverkäufen die städtischen Parkanlagen subventionieren. Das erklärt deren üppige Ausstattung im Vergleich zum Oltner Stadtpark oder Vögeligarten.

    Mittlerweile bin ich in Basel isoliert. Ich besuche unregelmässig die eine Bar. Dort kenne ich die Stammgäste vom Sehen. Ich habe bislang noch mit niemandem gequatscht, keine Nummern getauscht oder erste Verknüpfungen erstellt. Das stört mich nicht. Ich habe auch bloss mit einer Baslerin im Ausgang gequatscht – während einer Firmenfeier.

    Beruflich kenne ich etliche Basler, momentan bin ich hier stationiert bis Ende Juni. Danach werde ich vermutlich wieder nach Zürich oder Bern pendeln müssen. Ich trenne aber Beruf und Privat. Daher überschneiden sich solche Bekanntschaften nie. Nur des Berufes wegen kann ich mich also nicht integrieren hier.

    Ich möchte nicht darüber klagen. Ich bin zufrieden mit diesem Zustand. Ich habe die Narrenfreiheit, mich hier bewegen zu können, ohne dass mich jemand “kennt” im engsten Wortsinn. Ich geniesse diese Anonymität. Bald werde ich auch in einer anonymen Überbauung hausen, auf die Autobahn und Kleinbasel blicken.

    Ich fühle mich hier sicher. Vor allem politisch sicher. Basel-Stadt ist gemäss SDI ziemlich grün. Ich erkenne sogar gelbe Tendenzen, weil Basel-Stadt akzeptiert. Es ist – ganz typisch Grossstadt – die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Interessen, die keine Gesellschaft mehr bilden. Das reizt und entspannt mich.

    Ich bin hier kein Freak, Sonderling oder ein Ausgestossener. Ich bin bloss ein politischer Flüchtling, der wegen der Liebe zur eigenen Tochter hier harrt. Die Stadt empfängt mich zwar nicht, sie umarmt mich nicht, aber sie lehnt mich auch nicht ab. Sie toleriert mich einfach. Ich kann mich sogar mittlerweile hier identifizieren.

    Bald verlasse ich mein originales Viertel. Der Park in meinem Viertel ist bezaubernd. Er ist überdimensioniert. So viele Gerätschaften. So viele Anlässe. Ein Park-Restaurant. Morgen-Yoga selbstredend auch. Ein Hindernis-Parcour für Jung und Alt. Ein periodischer Flohmarkt. Auch Jazz im Park fehlt nicht.

    Mehrgeschossige und jahrhundertealte Stadtwohnungen schmücken den Park. Die Eintrittshürde sind zweitausend Franken für einen nicht renovierten Altbau. Mehrere Spätkaufs für die Jugend. Die Lokalzeitung empört sich dennoch über die Kriminalität. Abends sei der Park gefährlich, weil nicht verschliessbar.

    Mein neues Viertel hat noch keinen Park. Alles ist im Entstehen. Es war vormals ein Areal der Zwischennutzung. Die Generation Golf hat sich dort verausgabt. Sie erinnert sich gerne. Dort entstand Minimal Techno in der Schweiz, der sich dann im alten Nordstern popularisiert hat. Es war wild, ungestüm und baslerisch.

    Der Park ist frisch angelegt worden. Er ist gleichsam überdimensioniert und üppig. Nebenan liegt der bekannte Tierpark, der kostenlos ist. Ein nach SDI grünes Community Center vereint unterschiedliche Kulturen und Einkommensstrukturen. Man kann dort abends essen, Musik hören und sich verbinden.

    Vermutlich werde ich dann dort ausgehen. Vermutlich werde ich unterstützen und mithelfen. Ich kann, so glaube ich zumindest, Knowhow bieten. Aufgrund meines Berufes bin ich erfahren und erprobt, Dinge zu organisieren, auch wenn ich bisweilen chaotisch und planbar privat mich gebärde.

    Denn ich bin irgendwie besessen, Basel-Stadt zu danken, dass Basel-Stadt meine Tochter aufnimmt. Basel-Stadt verbannt die Behinderten nicht. Basel-Stadt stützt und fördert sie. Behinderte müssen sogar Regelklassen besuchen. Bei meiner Tochter ist der Grad der Behinderung allerdings so schwer, dass das wirklich sinnlos ist.

    Aber die Absicht und Intention gefallen mir. Hier in Basel-Stadt dümpelt die ansonsten so omnipotente SVP auf ungefähren fünfzehn Prozent herum. Das auch bloss wegen der verschweizerten Vierteln wie Bruderholz oder Hirzbrunnen. In Matthäus oder in meinem zukünftigen Rosental existiert die SVP nicht.

    Ich freue mich auf meine Zukunft hier in Basel-Stadt. Bald ist leider wieder eine Steuerrechnung fällig. Doch diese wird mich nicht ernüchtern. Es ist mir wert, vor allem und wegen meiner Tochter, die hier die besten Bedingungen in der Schweiz hat. Danke Basel-Stadt.


  • Der überraschende Amokläufer

    Der Amokläufer war stets integriert. Er grüsste die Nachbarschaft. Er war nicht sonderlich auffällig. Er engagierte sich im lokalen Verein. Er musizierte mit einer Trompete in der dörflichen Guggenmusik. Er hatte sogar eine Freundin, eine kleine, leicht mollige Blondine aus dem Nachbardorf. Dieselbe seit acht Jahren.

    Sie war durchschnittlich hübsch, ihr rundliches Gesicht und ihr hängender Busen versprachen Devotheit, entsprachen ganz den Vorlieben des Amokläufers. Man wollte glauben, sie führten eine gesunde Beziehung. Die Frage nach dem Kind war die einzige unbeantwortete. Aber so ist halt die heutige Generation, hat man sich beschwichtigt.

    Seine Kindheit war unbescholten. Er wurde nie Opfer eines Skandals, er hat nie randaliert, man erwischte ihn auch nie beim Kiffen. Er musste auch nie nachsitzen. Einmal hat mit zehn Jahren ein wasserlösliches Tattoo in der Bravo-Zeitschrift geklaut. Nur eines, und er hat das gross bereut, Demut gezeigt, sich bei allen Beteiligten entschuldigt.

    Die obligatorische Schule absolvierte er ohne Widerspruch. Er war zwar nicht überdurchschnittlich, aber auch nicht unterdurchschnittlich. Er war stets im Gleichschritt. Die Pubertät überstand er innert Monaten. Er wollte weder seinen Vater ermorden noch mit seiner Mutter schlafen. Er war stattdessen sportlich und sozial begnügt.

    Er startete eine Lehre als Polymechaniker. Das ist der Beruf an der Schnittstelle zwischen Maschine und Material. Er programmierte CAD-Programme. Er beherrschte die Axiome der Mathematik. Nach dreijähriger Festanstellung hat er sich zum Eidg. Dipl. Betriebswirtschafter weitergebildet. Das festigte seine berufliche wie soziale Stellung im Dorf.

    In seiner Single-Dasein besuchte er regelmässig eine beliebte Tanzstätte in der Region. Dort gönnte er sich das sogenannte “Flatrate”-Trinken. Für bescheidene 35 Franken durfte man den Abend lang so viel trinken wie man möchte. Er war vielmehr besorgt, dass er die 35 Franken auch wirklich wieder reinholen könnte.

    Denn er interessierte sich nicht für den Rausch. Dass alle um ihn herum weitaus mehr als für 35 Franken tranken, hat ihn nicht motiviert. Im Gegenteil, die ultimativ besoffenen Zeitgenossen haben ihn verstört. Für ihn war wichtig, dass er niemals die Kontrolle verlieren konnte. Seine grösste Angst war, dass die Ambulanz ihn abtransportieren müsste.

    Dass er morgens ohne Erinnerungen in einem Spital erwachen müsste. Und dass er sich nicht einmal an den Abendverlauf erinnern könnte. Er hat sich somit bloss selber geschützt. Also fuhr er mit dem letzten Bus in sein Dorf, wo er auch als Erwachsener stets wohnte. Er war nie ambitioniert, das Dorf zu verlassen.

    Warum auch? Er fand Gefallen, er kannte die Nachbarschaft. Er war integriert. Er gehörte dazu. Er war respektiert. Er bezahlte seine Steuern in Akonto und pflichtbewusst. Er leistete Dienst in der Feuerwehr. Er unterstützte diverse Vereine, war in der Guggenmusik verpflichtet. Er half beim Dorffest.

    Er bewohnte vor dem Zusammenzug mit seiner Freundin eine kleine Dachwohnung einer frischen Überbauung. Das heisst man heutzutage Maisonette-Wohnung. Sie war ordentlich, strukturiert und ohne Zufall. Das war die inoffizielle Junggesellenwohnung des Dorfs. Der Vormieter flüchtete nach Mietschulden und Alkoholmissbrauch in die ferne Grossstadt. Alle waren erleichtert.

    Er lernte seine Freundin an einem Konzert seiner Guggenmusik kennen. In der Region treffen sich alle Guggenmusikgesellschaften einmal jährlich zu einem monströsen Konzert. Obwohl maskiert, geschminkt und unvorteilhaft gekleidet, haben sie durch ihre Körpersprache Interesse signalisiert und schliesslich beide geschickt reagiert.

    Doch bevor der erste Kuss vollstreckt werden konnte, mussten sie sich näherkommen. Er führte sie zweimal ins Kino aus. Er wählte sorgfältig einen Film, der ihr auch gefallen konnte. Der erste war Shutter Island, ein langwieriger bishin zäher Krimi, aber dafür mit DiCaprio gut bestückt. Seine Freundin war begeistert, weil keine Comicverfilmung.

    Der zweite Film war gleichsam erlesen, Black Swan mit Frau Portman. Ein Frauenversteher wohl. Die beiden Filme kombinierte er mit Nachtessen in einem angemessen bepreisten Lokal. Nicht zu hochgestochen, nicht zu dekadent, aber auch nicht zu billig und einfältig. Sondern exakt treffend. Einmal waren sie auch einen Cocktail geniessend.

    Er bestellte einen Mojito. Sie ein wenig unsicher, verlegen, bestellte ebenfalls einen Mojito. Ein Cocktail genügte, um das Gespräch anzuregen. Mehr oder ein anderer Cocktail wären auch ein wenig zu angeberisch gewesen. Sie hatten ausreichend Zeit beim Nachtessen und Cocktails, die Vorlieben und Interessen zu erkunden.

    Es war ein Match, würde man heutzutage verkünden. Nach einem scheuen ersten Kuss folgte das zurückhaltende Petting. Es war seine erste Freundin. Er hatte vorher noch keine Gelegenheit, sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Doch das verstimmte ihn nicht. Bei ihr war es genauso. Obwohl beide Anfang Zwanziger, waren sie selbstbewusste Jungfrauen.

    Als er das erste Mal mit seinem Finger in ihre glühende Vagina eindringen konnte, völlig überrascht und völlig unvorbereitet, bloss durch die Lust und Extase des Augenblicks angestiftet, übermannte ihn das Schwindelgefühl tiefsten Glücks. Er musste innehalten. In diesem Moment ejakulierte er in seiner verschlossenen Hose.

    Das war der einzige Moment, als er sich deplatziert fühlte. In diesem Moment hat er versagt, würde man heutzutage urteilen. Doch der Umstand beeinflusste seine Freundin. Sie entkrampfte. Weil das der Freundin unmissverständlich bewiesen hatte, dass er sie begehrte. Auch sexuell, da das vorher nicht immer zweifelsfrei war.

    Fortan übernahm die Freundin die Initiative. Sie schenkte ihm etliche Orgasmen. Er später lernte auch ihre Sexualität zu verstehen und konnte sich revanchieren. Das Liebesglück entstand und wuchs gleichsam. Sie haben ihre Sexualität aber gezielt dosiert, sie nicht überbeansprucht. Sie haben gut gehaushaltet. Wohl ihr Erfolgsgeheimnis.

    Nach zwei Jahren Beziehung haben sie sich entschlossen, eine gemeinsame Wohnung zu suchen. Er hat in der Zwischenzeit gespart. Auf seinem Säule 3a Konto haben sich bereits 50’000 CHF angehäuft. Das ist viel für ein 25-Jähriger. Viel, aber machbar. Er verfügte ausserdem über 30’000 CHF, die ungebunden auf dem Postkonto lagern.

    Auch seine Freundin war genügsam. Sie konnte in Summe 40’000 Franken einbringen. Damit hatten sie zusammen Eigenkapital von 120’000 Franken. Rein rechnerisch könnten sie damit eine Wohnung im Wert von 600’000 Franken bei einer Eigenkapitalquote von 20% finanzieren. Mit 600’000 Franken lässt durchaus was bauen oder kaufen.

    Sie wollten aber nicht bauen. Sie haben schon zu viele Baugeschichten erzählt gehört. Sie wollten stattdessen kaufen. Also haben sie fixfertiges Musterhaus erworben. In derselben Überbauung, wo er schon seine Junggesellenwohnung hatte. Er musste somit nicht einmal die Nachbarschaft wechseln. Sie haben ein Häuschen für 540’000 Franken erworben.

    Sie mussten somit nicht alle Ersparnisse aufgeben. Die schweizweite Nummer 1 in der Immobilienfinanzierung gewährte eine übliche 1. und 2. Hypothek mit unterschiedlichen Bedingungen. Sie konnten den Traum vom Eigenheim nach zwei Jahren Beziehung bereits verwirklichen. Es glückte.

    Sie beide waren berufstätig. Er, gelernter Polymechaniker, nunmehr Betriebswirtschafter. Sie gelernte Kauffrau, nun in der Weiterbildung zur Fachfrau Personal. Beide in der Guggenmusik involviert, aber in unterschiedlichen, damit man zuhause spasseshalber einander schelten und ecken kann. Beide integriert.

    Aber er war Amokläufer. Völlig überraschend.


  • Beim Coiffeur

    Ich bin für den Alltag nicht sonderlich begabt. Ich verabscheue Hausarbeit, ich meide Ärzte und einkaufen will ich bevorzugt nur online, weil aufm Sofa hängend. Gelegentlich muss ich mich überwinden. Einmal jährlich besuche eine Dentalhygienikerin, die meine Zähne säubert. Und einmal quartalsweise bin ich beim Coiffeur, der meine Mähne stutzt.

    Ich habe keinen bestimmten Coiffeur ausgewählt. Mein Coiffeur muss nicht in einem ehemaligen Bordell residieren, muss kein Wortspiel mit Haar im Namen riskieren, muss nichts Besonderes sein. Mein Coiffeur ist funktional, schneidet meine Haare, will nicht mit mir Freundschaft und Vertrautheit simulieren. Er schweigt und macht seinen Job.

    Als ich noch in Olten wohnte, hatte ich automatisch den Coiffeur meiner Grossmutter genutzt, damit ich Coiffeur mit Besuch der Grossmutter kombinieren konnte. Das war sehr praktisch, zwei Termine mit einem Termin zu erledigen. Seit ich in Basel wohne, bin ich noch leidenschaftsloser bei der Wahl meines Coiffeurs geworden.

    Ich favorisiere einen Coiffeur in meiner Nähe. Ich will nicht die halbe Stadt durchqueren. Ich will spontan vorbeilaufen, Termin vereinbaren und wieder mich verabschieden. Ich will nicht anrufen, weil das vergesse ich. Also suchte ich einen Coiffeur in meinem Viertel. Mein Viertel hat zwei Restaurants, eine Bar, eine Bäckerei, eine Apotheke, einen Kiosk, eine Post.

    Und ungefähr zehn Coiffeurs. Ich habe die Strasse gewählt mit den meisten Coiffeurs. Ich habe um einen spontanen Termin mich erkundigt. Der erste Coiffeur, der gerade frei war, sollte meinen Default werden. Das war Gino. Ein lebensfroher Italiener, der gerne schöne Frauen beschäftigt. 62 mittlerweile, aber wirkt jünger.

    Ich war in den letzten zwei Jahren ungefähr fünfmal dort. Ich habe mich anfänglich gegen Ginos Regime gesträubt. Ich wolle keine Haare waschen, ich wolle nichts zu trinken, ich wolle keine Unterhaltung erzwingen. Mittlerweile habe ich gänzlich kapituliert. Ich mache, was Gino fordert. Ich kaufe sogar seine überteuerten Produkte.

    Vermutlich erzielt er mit diesen Produkten mehr Gewinn als mit dem eigentlichen Haareschneiden. Denn Produkte skalieren immer, Haareschneiden hingegen nicht, weil ist an der Ressource Mensch gebunden, die man nicht beliebig vervielfältigen kann. Jede Mitarbeiterin in Ginos Laden erhöht die Komplexität desselben.

    Ich leiste noch einen kleinen Widerstand: Ich spendiere kein Trinkgeld. Weil das mir unangenehm ist. Ich will nicht anerkennen, dass Gino seine Frauen nicht ordentlich bezahlt. Ich will auch nicht Scheinheiligkeit belohnen. Ich wüsste auch nicht, wie ich das Trinkgeld bemessen soll. Nach Nettigkeit? Nach Brustumfang?

    Meine Miene ist immer erstarrt. Ich kann einfach nicht lächeln. Auch wenn Gino lächelt, pfeift, summt und immer wieder seine Damen kommandiert. Ich sitze auf dem Stuhl, ich hoffe, dass Gino sich beeilt. Ich will nicht, wie und dass meine Haare geschnitten werden. Ich bin unruhig, ungeduldig, bishin mürrisch. Ich mag nicht dort sein.

    Ebenso unangenehm ist das Haarewaschen. Immer dieselben Fragen: Ist der Druck angemessen? Ist die Temperatur wohltuend? Will ich ein neues Shampoo auf Ginos Empfehlung hin ausprobieren? Will ich einmal oder zweimal waschen? Wann habe ich das letzte Mal gewaschen? Und so weiter.

    Glücklicherweise dauert der Besuch beim Coiffeur maximal dreissig Minuten. Ich entscheide mich immer für dieselbe Frisur. An der Seite bitte auf zwölf Millimeter kürzen. Ein wenig rasieren. Augenbrauen bereinigen. Fertig. Keine grosse Herausforderung. Ich bin wohl ein dankbarer Kunde; ich bin bequem, murre nicht, korrigiere nicht.

    Den Tipp eines Arbeitskollegen werde ich nicht folgen, beim Coiffeur während des Termins sofort einen nächsten zu vereinbaren, damit man im Takt bleibt. Ich will mich nicht nötigen, wieder an den Coiffeur zu denken. Deswegen sind meine Zyklen unregelmässig und bishin quartalsweise. Für mich ist das okay so.