Das Gehirn bleibt lebendig und plastisch bis zum Tode. Diese gute Nachricht mag wohl viele Menschen trösten. So auch mich. Ich weiss, dass ich bis zum Tode mein Verhalten ändern kann, indem ich entweder meine Verhältnisse oder meine Haltung hinterfrage und anpasse. Meine Psyche ist noch nicht vollendet, sondern entwickelt sich stets.
Allerdings kann man das Gehirn auch bis zum Tode nicht fordern oder fördern. Man kann lebenslänglich mit derselben Haltung sein Verhalten und seine Verhältnisse bedauern. Man kann feststecken. Die Nervenbahnen sind versteift und verkrampft. Kleinste Abweichungen stressen die Psyche und gefährden die Identität.
Manche Menschen möchten ihre Haltung und/oder ihre Verhältnisse korrigieren, können aber nicht. Sie wiederholen sich stets. Sie sind bemüht, aber vergebens. Entweder über- oder unterfordern sie sich selber. Zu grosse Schritte frustrieren und dämpfen, zu kleine Schritte langweilen und trügen Sicherheit. Es enttäuscht und blockiert.
Die Verhältnisse könnte man rasch wandeln. Man wählt sich seine Freunde selber aus. Die Familie ist zwar gegeben, die Intensität kann man aber justieren. Das persönliche Umfeld prägt. Wer bloss mit kaputten Menschen lebt, ist selber kaputt. Wer aber mit zu «gesunden» Menschen lebt, selber kaputt ist, fühlt sich ebenfalls unbehaglich.
Man sollte einigermassen gleichartige Menschen wählen. Gewisse Differenz kann hier und da stimulieren, damit zum allgemeinen Nachdenken anregen. Man sollte sich nicht überlegen oder unterlegen wähnen im Freundeskreis. Ähnliche Biografie beruhigen. Auch der Lebenspartner sollte einigermassen besonnen erkoren sein.
Eine fordernder, weil z.B. bipolarer und/oder stets depressiver Lebenspartner frisst die eigene Lebensenergie und überdeckt die eigenen Herausforderungen im Leben. Man mutiert zum hilflosen Helfer. Ein abwesender, nicht interessierter Lebenspartner hingegen irritiert den Selbstwert und provoziert Trotzreaktionen oder Kompensationshandlungen.
Auch die Erwerbsarbeit beeinflusst einen massgeblich. Netto verbringen wir mehr Zeit arbeitend als lebend. Ein Beruf, der einen anwidert, langweilt, überfordert, ekelt oder ein berufliches Umfeld mit Arbeitskollegen, die einen belästigen, verunsichern, bishin drangsalieren, zerstört jede Selbstachtung und nährt den Selbsthass.
Daher ist eine angemessene Erwerbsarbeit unerlässlich für die innere Ruhe. Der schweizerische Arbeitsmarkt ist trotz Krise gut bestückt. Diverse Nischen können noch erfunden oder gefunden werden. Die Beschäftigungsmöglichkeiten sind vielfältig. Die Schweiz mit protestantischem Arbeitsethos unterstützt die Stellensuche aller Vermittelbaren.
Weitaus anspruchsvoller als Freunde, Lebenspartner oder Beruf ist es, die eigene Haltung zu verändern. In der eigenen Haltung sind unsere bewussten oder unterbewussten Erfahrungen sowie unsere Werte und Vorstellungen vermengt. Das Leben hat unsere Haltung geprägt, wohlgemerkt gekoppelt mit Verhalten und Verhältnisse.
Die meisten Menschen sind nicht fähig, ihre Haltung zu verändern. Zwischen Haltung und Verhalten bildet sich der Widerspruch, der den Selbstwert stört und chronischen Stress verursacht. Der Wille ist zwar vorhanden, aber der Wille kann sich nicht durchsetzen. Ein nicht durchsetzbarer Wille erzeugt Spannungen. Die Krise ist die Folge.
Kluge Fragen regen zum Nachdenken über die eigene Haltung an. Ein kluger Fragebogen kann die Haltung verändern. Auch Freunde mit klugen Fragen mögen helfen. Doch ebenso kann der kluge Psychiater mit klugen Fragen zum Nachdenken animieren und den Prozess der Bewältigung den Umständen entsprechend begleiten. Prozessberater quasi.
Kein Psychiater kann Rezepte oder Lösungen liefern. Ein Psychiater stellt bloss kluge Fragen. Einen Psychiater zu konsultieren, überfordert bereits die meisten Menschen und erlischt den letzten funktionierenden Selbstwert. Nun hat man quasi «kapituliert». Man anerkennt, dass man nicht mehr «Herr» im eigenen Bewusstsein ist.
Die Haltung verschieben sich mit den Jahren und Monaten. Ein Draufgänger gestern kann morgen ein Bünzli sein. Das Leben gleicht einer entwickelnden Spirale. Wir starten alle mit denselben Bedürfnissen als Säugling. Einige Menschen werden komplexer, andere verbleiben in ihren Haltungen und somit im Verhalten und in den Verhältnissen.
Selber eine spiralförmige Entwicklung sich zugestehen zu können, bedingt ausreichend Reflexionsfähigkeit. Manche Menschen werden diese «Stufe» niemals beschreiten. Sie sind in ihrer Haltung «vollendet» – doch das muss nicht sein. Jeder Mensch kann sich entwickeln; technisch sind wir allesamt gleich befähigt.
Was fehlt, ist das Bewusstmachen der eigenen Entwicklung und der eigenen Haltung. Man muss seine eigene Haltung im Spiegel erkennen können. Man muss begründen können, warum man so ist wie man ist. Manche können das alleine – doch effektiver ist immer ein Spiegel; ein kluger Freund, eine Zufallsbekanntschaft, eine Familie oder ein Psychiater.
Manche Menschen fürchten sich, ihre Liebsten zu spiegeln. Sie wollen schützen und Gutes tun. Doch damit schaden sie mehr als sie nützen. Grundsätzlich müssten alle Menschen bemüssigt sein, zu allen anderen Menschen offen und ehrlich zu sein und als potenzieller Spiegel wirken zu können. Doch wer riskiert das schon? Wer brüskiert schon gerne?
Was fehlt, ist der «Hofnarr». Jede Familie, jeder Freundeskreis, jede Organisation braucht einen Hofnarren, der ausspricht, was ist, der erhellt, wo dunkel ist, der spiegelt, wo man ohne Selbstwahrnehmung ist. Es sind nicht bloss Psychiater legitimiert, die grossen und wichtigen Fragen über unser Dasein zu stellen.
Neben Fragen haben auch Suggestionstechniken einen gewissen Wert und eine gewisse Chance, die eigene Haltung zu verändern. Autosuggestion ist quasi eine Selbsthypnose; mit Wiederholung versucht man sich selber zu betören. Die Autosuggestion kann man mittels Modellen verstärken wie z.B. mit einem LEGO-Modell der eigenen Wunschidentität.
Autosuggestion kann das Abfederungsvermögen respektive die Gegenwartsbewältigung erhöhen. Ereignisse, die sich teils überschlagen, können mit Autosuggestion in einen Wunschkontext gerückt werden und dramatisieren dadurch weniger die Biografie und beruhigen die Psyche.
Die Herausforderung der Selbstauseinandersetzung sind, dass die Selbstwahrnehmung oft verzerrt und eingeschränkt ist. Der blinde Fleck der Selbstwahrnehmung ist automatisch. Man beschäftigt sich zuweilen mit den «falschen» Herausforderungen, misstraut den eigenen Gedanken, man kann sich in Gedankenkreisen verfangen.
Ein neutraler Psychiater, mit dem man eine neutrale Beziehung hat, die nicht verletzt, enttäuscht oder sonstwie betrübt werden kann, ist meistens der bessere Hofnarr und Gesprächspartner als das reine Zwiegespräch oder das Gespräch mit dem Lebenspartner, Familie, Freunden oder Zufallsbekanntschaften.
Den Psychiater kann man nicht schocken und brüskieren. Man muss ihn nicht schonen. Man muss nicht schweigen. Der kluge Psychiater öffnet mit klugen Fragen bekanntlich die Selbstwahrnehmung und aktiviert den Prozess der Selbstreflexion; er stützt im Prozess, kann gezielt Impulse erzeugen. Das beruhigt.
Man kann die Haltung, man kann die eigenen Verhältnisse verändern. Die Werkzeuge sind zugänglich. Das alleine kann die Menschen auch bereits trösten, dass man notfalls alles ändern könnte. Wenn man nichts ändern will, so soll man sich auch nicht beirren lassen. Dann bleibt alles wie es war.