Autor: bd


  • Bald Weihnachtsferien

    Mein gekündigtes Arbeitsverhältnis endet per 23. Dezember. Bis dahin darf ich noch arbeiten. Alles muss fertig und erledigt werden. Ich werde nicht geschont oder freigestellt. Ich darf Kurse halten, ich darf Rechnungen schreiben. Mein bald ehemaliger Arbeitgeber braucht das Geld, meinen Umsatz.

    Ich sehne mich bereits heute nach den Weihnachtsferien. Es ist zwar bloss eine Woche, weil Weihnachten das Wochenende besetzt. Ich kann mich nicht mehr an meine letzten Ferien erinnern. Vermutlich im August in Como. Das ist zu lange her. Seitdem hatte ich einige Freitage, aber keine durchgehende Woche.

    Auch sozial bin ich gefordert. Ich treffe mich mit ehemaligen Teams, Arbeitskollegen. Ebenfalls veranstalte ich meinen eigenen Abschied. Den plane ich für den 22. Dezember. Ein kleines Fest. Ich habe einige hundert Franken budgetiert. Die dürfen ausreichen für Bier und Fleisch. Ich teile mir die Kosten mit zwei Kollegen, die ebenfalls der Firma austreten.

    Auch müsste ich mich um meine eigene Familie kümmern. Doch ich möchte manchmal auch bloss daheim sein. Ich möchte nichts unternehmen müssen. Ich möchte einfach entspannen und mich heruntertakten. Mich beruhigen. Denn im nächsten Jahr werde ich aufdrehen müssen. Ich werde mich nochmals beschleunigen dürfen. Freuen wir uns.

    Die Vorweihnachtszeit ist wiederkehrend hektisch. Da meine sozialen Verpflichtungen ohnehin minimalisiert sind, kann ich meinen Aufwand einigermassen drosseln. Ich muss maximal zehn Geschenke organisieren. Ich muss keinen Weihnachtsbraten vorbereiten. Ich muss keine Kinder aufs Christkind vertrösten. Immerhin.

    Für Familien ist diese Zeit wohl besonders herausfordernd. Ich kann es mir zumindest vorstellen. Die häusliche Gewalt ist zunehmend, die Selbstmordrate hoch. Die Liebe bangt. Alles kann zusammenbrechen. Der 24. Dezember soll alles und alle wieder versöhnen und zusammenbringen, was übers Jahr sich entfremdete.

    Ich habe keinen Streit offen. Ich habe keinen Konflikt zu bewältigen. Ich muss mich nicht aussöhnen oder aussprechen. Meine Situation gefällt mir derzeit. Ich beklage mich bloss über Stress. Ich kann keine Stressbewältigung entwickeln. Ich muss einfach noch zwei Wochen überstehen. Und dann habe ich es geschafft.


  • Bin ich ein Buchhalter?

    Momentan schultere ich die finanziellen Aktivitäten und Überlegungen meiner Selbständigkeit. Doch ich vermisse einen Treuhänder. Ich rätsele, wie ich das Geschäftsjahr 2017 abschliessen soll. Wie ich gewisse Transaktionen verbuchen soll. Ich kann meine alten KV-Bücher hervorkramen, damit ich einen Gewinn in den Bücher journalisieren kann.

    Aber ja, das ist nicht mehr mein Fachgebiet. Die Ausbildung ist angejährt. Ich müsste mich rasch wieder einlesen. Doch diese Zeit ist nicht effektiv investiert. Ich könnte mit anderen Tätigkeiten Umsatz schaufeln. Mit Buchhaltung jedoch nicht. Das bildet bloss einen Wasserkopf, den man immer variabilisieren müsste.

    Das Problem ist noch nicht akut, denn derzeit sind keine aktiven Buchungen zu tätigen. Ich übe in einer Sandbox fürs nächste Geschäftsjahr. Das aktuelle ist fiktiv. Ich habe das ERP bereits einigermassen konfiguriert. Ich habe viele Vorlagen übernommen. Den Kontenplan habe ich bloss gestutzt, die MWSt-Abrechnung vorkonfiguriert.

    Ich habe auch bereits eine Lohnabrechnung vorbereitet. Ich habe die Sätze definiert. Jedoch bloss fürs 2016, für 2017 sind die Optionen noch nicht freigeschaltet. Ich habe das gesamte ERP in die Cloud ausgelagert. Ich möchte alle Finanzprozesse digitalisieren; jeder Beleg mit einer App scannen und dann dunkeln verarbeiten.

    Ich bin derzeit der Buchhalter der Firma. Ich prüfe die Finanzplanung. Ich aktualisiere neueste Erkenntnisse, integriere Offerten. Ich kalkuliere. Die Planerfolgsrechnung, konservativ geschätzt, beruhigt mich. Meine Schulden werde ich tilgen können. Das erste Geschäftsjahr ist gesichert.

    Doch früher oder später werde ich einen echten Buchhalter engagieren müssen. Ich werde ihn im ERP berechtigen. Er wird mein Vertrauen gewinnen. Ich werde ihn entschädigen. Ich freue mich. Das wird mich entlasten. Ich kann weiterhin mitreden. Denn ich besitze das gesamte Grundwissen. Immerhin.


  • Ich im Krankenhaus

    Ich fürchte mich vor der Medizin. Ich kann mich nicht für die Biologie interessieren. Die Psychologie hingegen besorgt mich nicht. Aber ich ekle mich vor Spritzen, Krankenhäuser und Ärzten. Mich kann man kaum verarzten. Ich verschiebe jede Blutentnahme, ich vergesse jeden Arzttermin. Ich ignoriere jede mögliche Erkrankung.

    Meine Phobie grenzt am Pathologischen. Wieso empfinde ich Medizinisches als unangenehm? Wieso zittere ich bei einer Blutentnahme? Wieso schwitze ich bei einer Arztvisite? Wieso kann ich mich nicht für meine Gesundheit begeistern? Wieso kann ich nicht über Herzbeschwerden diskutieren?

    Bin ich verletzt oder traumatisiert worden? Ich kann mich nicht erinnern. Was verursacht meine Medizinphobie? Ich kann diese Angst nicht rationalisieren. Diese Angst erklärt, wieso ich beispielsweise jeden Zahnarzt mied, ich keinen Hausarzt besitze oder nichts über meinen Gesundheitszustand aussagen kann.

    Ich bin sogar schlechter geimpft als eine Hauskatze. Mein Impfausweis ist veraltet. Die letzten Einträge stammen aus den Neunziger. Das letzte Mal immunisierte man mich an meinem ersten Schultag der Kanti. Das kann erschrecken, ich bin quasi unterversorgt. Doch beklagt darüber habe ich mich nie.

    Grundsätzlich fasziniert mich das Spital als Unternehmen. Darin sind unterschiedliche Disziplinen kombiniert. Ein Spital benötigt Ärzte, Pflegepersonal, einen fundierten technischen Dienst, eine Administration. Als Unternehmensberater beäuge ich Krankenhäuser kritisch; die Automatisierung und Digitalisierung sind gering.

    Ich könnte mir sogar vorstellen, ein Spital zu optimieren. Ein Kanban-System für die Patientenaufnahme, mit unterschiedlichsten Serviceklassen anhand Lebensbedrohung; transparent mit Kanban-Karten am Haupteingang platziert. Mit einer geschätzten Wartezeit. Mit Standardprozeduren, die von flexiblen mechanical turks erledigt werden können.

    Und so weiter. Ich könnte problemlos dort wuseln. Ich könnte sogar Blut wegwischen, solange es nicht mein eigenes ist. Ich habe bekanntlich in der Pflege gewirkt; dort verstarben Menschen. Dort durfte ich Unrat, Erbrochenes wegputzen; ich durfte das Siechen begleiten. Das hatte mich nicht erschaudert.

    Doch sobald es persönlich wird, bin ich blockiert. Ich kann nicht mehr funktionieren. Ich kann problemlos retten, helfen, Wunden desinfizieren und verbinden. Aber ich könnte mir selber nicht helfen. Eigenartig, nicht wahr? Aber wiederum habe ich mich gebessert. Ich besuche Ärzte, ich lasse mich untersuchen.


  • Abermals alternd

    Früher quälte einen, ob man zu schnell, zu früh käme. Ob man die Ejakulation hinauszögern könne. Später sorgte einen, ob man überhaupt noch erigiert, ob nicht nach fünf Minuten Verkehr alles wieder zusammenbricht. Früher freute man sich über jeden Haarwuchs, später spriessen die Haare widerlich aus den Ohren und an den Zehen.

    Wie rasch man altert. Wie rasch der Körper zerfällt. Wie rasch man ermüdet. Das überrascht mich stets wieder. Auch ich altere, mehr oder weniger würdevoll. Ich beobachte die Jugend an den Bahnhöfen der Schweiz, in den belebten Bars Oltens und anderer Städte. Die Jugend ist immer frisch, unverbraucht und voller Leben.

    Ich aber muss mich mit schweren Themen beschäftigen. Beruflicher Erfolg und Anerkennungen knechten mich. Familienplanung und Beziehung fordern mich. Ich kann nicht mehr bedenkenlos feiern. Ich kann nicht alles im Alkohol auflösen. Ich kann nicht mehr Nächte vertanzen. Ich muss spiessiger werden.

    Ich bedauere das nicht. Ich kann mir stets ein wenig Jugend erkämpfen. Ich kann mir Freiräume schaffen. Ich kann diesen Raum mit meinen Liebsten besetzen. Dort kann ich auch jenseits der Vierziger noch meine Jugend simulieren. Dort kann ausbrechen, tanzen und feiern; alles geregelt und eingedämmt.

    Ich bin nicht alleine, der zaudert und zögert. Meine Generation besitzt Ableger in den grossen Städten, die lebenslänglich das Modell der Berufsjugendlichen kultivieren. Dort kann man das vagabundierende, studentische, unbeschwerte und unkomplizierte Leben verwirklichen. Sex ohne Beziehungen, Gin mit Tonic, die Zukunft verherrlichend.

    Ich werde vermutlich Olten verlassen. In einer fernen grossen Stadt das Leben umgestalten. Ich werde einerseits anständig und seriös und gesittet leben, aber gleichzeitig meinen Freiraum mit meinen Liebsten planen. Dort werden wir toben, dort werden wir uns angemessen vergnügen, um wieder heimzukehren.


  • Vergesslichkeit

    Ich vergesse. Ich vergesse, was geschah. Ich verdränge. Ich kann mich kaum noch erinnern. Ich kann bloss schreiben. Schreibend erinnere ich mich. Denn sonst verflüchtigen sich meine Gedanken. Ich fürchte mich vorm Vergessen. Und vergesse daher dauernd und ständig. Ohne Kalender, ohne Backlog wäre ich verloren.

    Ich muss meinen Tag mittels Notizen, Erinnerungen und Hinweisen stützen. Ich kann den Alltag ohne meine Helferlein nicht mehr bewältigen. Das besorgt mich zuweilen. Wieso vergesse ich stets und bloss? Wieso kann ich knapp meine eigene Telefonnummer merken? Aber nicht die meiner Liebsten? Was behindert mich?

    Bereits früher wollte ich alle Gedanken manifestieren, niederschreiben, damit dokumentieren und schliesslich konservieren. Die Vergänglichkeit bedrohte alles. Ich konnte erst einschlafen, sobald meine Gedanken notiert waren. Die modernen Technologien haben diese Angst gelindert. Natels können alles aufnehmen und schultern.

    Unangenehme Gedanken wie einen Arztbesuch kann ich komplett ausblenden. Unangenehme Erfahrungen kann ich komplett ignorieren. Ich kann meine persönliche Geschichte umschreiben. Ich kann mich zwar auseinandersetzen, ich beschäftige mich auch damit. Doch irgendwann beende ich eine Episode.

    Danach verschwinden meine Erinnerungen. Ich muss sie geradezu kultivieren. Ich muss mich stets wieder erinnern, damit ich nicht vergesse. Ich muss also meine gesamte Geschichte stets reflektieren und rekapitulieren; meinen gesamten Kontext. Ansonsten verliere ich ihn; er verdorrt im Tagebuch.

    Normale Menschen denken nicht so viel und zu viel nach. Das weiss ich. Ich quäle mich gewissermassen selber. Doch ich mässige mich auch. Auch hier beherrsche ich mich gut. Ich übertreibe nicht. Ich überfordere mich nicht. Ich weiss, was ich mir zumuten kann. Manchmal muss man einfach abschalten und darf vergessen.


  • Ein Schweizer in Paris

    In der Schweiz lebt es sich gut. Man kann ein gutes und bequemes Leben einrichten. Die Schweiz schockiert und verblüfft nicht. Unsere Städte sind überschaubar, freundlich und sauber. Niemand muss sich verlaufen. Niemand muss sich der Zukunft wegen sorgen. Und wenn, können die Sorgen kaum rationalisiert werden. Die Schweiz ist ein Freizeitpark.

    Ich mag Bequemlichkeit und Gemütlichkeit. Ich faulenze gerne. Ich entspanne mich damit. Dennoch besuche ich gelegentlich fremde Länder. Ich war kürzlich in Paris, eine klassische Weltstadt, eine klassische Sehnsuchtsmetropole. Gross, verwegen, bishin gefährlich. Die Stadt kann einen überfordern. Die Stadt überreizt die Wahrnehmung. Sie betört.

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    Allein die Sehenswürdigkeiten. In Bern kann man einen Nachmittag spazieren und alles Sehenswerte bequem erledigen. In Paris müsste man eine Woche verplanen, um alles und jeden zu besichtigen. In drei Tage schafft man nichts. Die Vielfalt lähmt, blockiert einen. Man müsste priorisieren und sich fokussieren. Ich war nicht gross interessiert.

    Ich hatte andere Interessen, die ich nicht publizieren muss. Ich habe den Eiffelturm funkelnd gesehen. Ich habe das Montparnasse-Hochhaus dominierend gesehen, das ich ausm Franzbuch noch kenne. Ich habe La Défense überragend gesehen. Den Triumphbogen habe ich einmal umkreist. Die Sacré-Cœur de Montmartre war auch irgendwie sichtbar.

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    Ich war einkaufend. Punkt. Die grossen und breiten Boulevards haben meinen Geist nicht angeregt oder irgendwie inspiriert. Die verwinkelte Metro ebenfalls nicht. Die vielen Problemausländer auch nicht, welche die Stadt überbevölkern. Paris war nie meine Sehnsucht, die viele Intellektuelle der Schweiz befällt.

    Dennoch ist die Stadt schön anzusehen. Man spürt, dass Frankreich zentralistisch regiert ist. Das gesamte Volksvermögen Frankreichs konzentriert sich in Paris. Die französische Industrie mag darben, der Kulturkonflikt verzweifeln und die politische Komödie erschaudern, aber solange der Franzose Paris hat, kann er gut schlafen.

    Der Prunk beeindruckt mich. Paris konserviert den französischen Weltanspruch. Paris dokumentiert die Grösse Frankreichs. Als Schweizer kann man das nicht verstehen; wir haben keine Alleen, wir haben keine Statuen. Wir haben kein Obelisk des alten Ägyptens, das einen grossartigen Platz schmückt. Wir haben keine Helden des Krieges.

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    Die Schweiz mag zwar kompetitiv, wirtschaftlich effektiv und effizient sein. Wir sind reich, angeblich glücklich und besonnen versichert. Aber unsere Städte können nicht verzaubern, nicht faszinieren oder imponieren. Wir haben das auch niemals beansprucht. Deswegen irritieren Städte wie Paris. Paris muss fesseln, muss kitzeln. Das ist Paris‘ Zweck.

    Denn Paris eint Frankreich. Die Schweiz konnte sich nie richtig auf eine Hauptstadt verständigen. Bern war ein fauler Kompromiss, immerhin besser als Aarau. Eine Planstadt in meiner Nachbarschaft hatte man früh verworfen, weil zu teuer und weil damit Bern, Basel oder Zürich oder die West- oder Südschweiz brüskiert worden wäre. Kompliziert.

    Ich war also in Paris. Ich bin beeindruckt. Paris war bislang meine grösste Weltstadt. Berlin ist ebenfalls mächtig. Aber Berlin hat keinen Charme, keine historische Grösse, keinen Prunk. Berlin ist zu hässlich, die Alleen wirken künstlich und wie von Hitler erzwungen. Zudem ist Berlin komplett zerstört und hastig wiederaufgebaut worden. Paris nicht.


  • Die Jahre des Schaffens

    Ich bin besessen, dass unsere schöpferische Lebensenergie endlich ist. Wir können zwar wirken und überzeugen, aber bloss befristet. Wir können nicht die Energie konstant gleich hoch dosieren. Wir verpuffen und verausgaben uns alle. Früher oder später. Wir verbrennen. Wir verwelken. Wir sterben.

    Ich prognostiziere allen Menschen mindestens fünf Jahre intensiver Schaffenskraft. Für fünf Jahre kann man lodern. In einem Thema, in einer Domäne. Man kann eventuell weltweit oder mindestens regional reüssieren. Sei es als Barkeeper, Journalist, Schriftsteller, Künstler, Geschäftsmann oder Playboy.

    Aber irgendwann ist die Energie verbraucht. Man verflacht. Man verfault. Man erschöpft das Thema. Man erzwingt, man ist verkrampft. Man ist nicht mehr spontan und schöpferisch und ungestüm. Man verliert gewisse Unschuld. Man ist zu bemüht. Denn alles, was entsteht, ist es wert, dass es zugrunde geht.

    Auch ich bin endlich. Auch ich kann alles verballern. Ich verschwende. Ich verschwende meine Themen, ich verschwende mein Leben. Doch bewusst. Ich achte und respektiere meine Zyklen. Ich starte bald eine berufliche Wiedergeburt. Meine künstlerische Phase endet aber. Vermutlich verhungert dieser Blog.

    Ich habe mich irgendwie verpflichtet für eine Kunstausstellung im Dezember. Aber diese werde ich vermutlich nicht mehr umsetzen. Ich will haushalten. Ich will mich schonen. Weil ich andere Ziele ebenfalls verfolge. Ich möchte meine künstlerische Energie nicht heute fehlinvestieren. Ich kann alles später nachholen.


  • Die wahrnehmbare Zeit

    Sobald du dich nicht mehr erinnern kannst, was du vor zwei Tagen war, hast du ein Problem. Du spürst, wie deine Zeit sich verflüchtigt. Du kannst sie kaum noch wahrnehmen. Weil du hastest. Du rast. Du musst dich bemühen, damit du dich erinnerst. Du musst dich anstrengen. Genau das solltest du aber tun.

    Denn wenn du es unterlässt, deine Vergangenheit regelmässig zu rekapitulieren, lebst du zeitlos, ohne Vergangenheit, damit ohne Gegenwart und schliesslich ohne Zukunft. Du bist getrieben. Du treibst mit. Die Tage verschwinden, du verlierst die Kontrolle. Deine Wahrnehmung entrückt dir. Du wirst die Tage nicht mehr unterscheiden können.

    Als ob du im Gefängnis oder arbeitslos, ohne Tagesablauf und ordnende Tagesstruktur wärst. Du bist in einer wahrnehmungslosen Endlosschleife gefangen. Du taumelst im Nichts; bist nichts, fühlst nichts. Alles wiederholt sich. Du sitzst, du fristest. Es passiert dir. Dir geschieht. Du durchblickst nicht mehr die Zusammenhänge.

    Bloss eine achtsame Bewusstwerdung der Zeit beseelt. Weil sonst funktionierst du nur. Du musst jede Minute, jede Stunde bewusst erleben, durchleben. Du musst die Wahrnehmung deiner Zeit einfrieren können. Damit du dein Leben, schliesslich deine Zeit kosten kannst. Ansonsten bedauerst du im letzten Lebensabschnitt dein, das verpatztes Leben.

    Auch ich muss mir immer wieder vergewissern, dass ich lebe. Ich möchte mich nicht überreizen und überfluten und überkitzeln. Manchmal kann ich bloss entschleunigen, indem ich mich hinsetze und mich erinnere, was bisher geschah. Woran habe ich gedacht, woran habe ich gearbeitet? Was und wen habe ich gespürt? Wo und wie wem war, bin ich nah?


  • Der Liebesentzug

    Eltern bestrafen das Kind durch Liebesentzug. Wenn das Kind nicht gehorcht, nicht verwirklicht, was die Eltern verpassten oder projizieren. Wir sind so selber erzogen worden. Die Liebe verknüpfen wir mit Bedingungen. Das ist ein Übel der Zeit. Wir materialisieren damit die Liebe zum Tauschobjekt, das man beliebig einsetzen kann.

    Ich selber bin fähig, Liebe zu entziehen. Ich habe auch so meine ehemaligen Partnerinnen gequält, wenn sie mir nicht einen Wunsch erfüllten. Wenn ich mich ungerecht behandelt fühlte. Oder wenn ich mich einfach missverstanden wähnte. Der Liebesentzug ist eine schwierige Waffe. Ich konnte sie nicht recht bedienen, verletzte mehr.

    Ich konnte durch Liebesentzug noch nie meine Ziele erwirken oder gar erzwingen. Liebesentzug ist nicht bloss ein Übel, sondern ein grosser Irrtum. Er verkompliziert menschliche Beziehungen. Ich wünsche mir eine Welt ohne Liebesentzug. Ich möchte niemanden bestrafen oder damit erziehen.

    Gewiss erlebte ich auch Liebesentzug. Man kennt solche Alltagssituationen. Ein Streit eskaliert. Der Partner ignoriert einen. Wenn man sich als erster meldet, bekundet man Schwäche und akzeptiert quasi seine verlorene Position. Man disqualifiziert sich als Opfer, das zu wenig hart und standhaft ist.

    Aber wenn man Liebesentzug offenkundig anprangert, dagegen ankämpft, riskiert man eine Eskalation. Denn das könnte den Partner bedrohen, hinterfragen und eine Grundsatzdebatte provozieren. Sooderso verlieren alle Parteien in diesem Spiel. Liebesentzug kürt keine Gewinner, vielmehr sind alle Verlierer und verringern ihre Liebesfähigkeit.

    Die Aufmerksamkeitsökonomie im Allgemeinen durchdringt auch private Beziehungen. Man muss wahrgenommen, anerkannt und gewertschätzt werden. Wir sehnen uns lebenslänglich. Kein Alltag kann dieses Bedürfnis wegorganisieren. Eltern-Kind genauso wie Partner-Partner. Denn Aufmerksamkeit kann nicht konservieren oder als dritte Säule sparen.

    Liebesentzug vergiftet den Aufmerksamkeitshaushalt einer Beziehung. Liebesentzug gefährdet das Wohlwollen, die Gutmütigkeit und die Geduld. Manche Beziehungen funktionieren bloss noch als Entzugserscheinungen. Man bekriegt sich, um sich zu versöhnen. Das kann pathologisch ausarten.

    Als Opfer eines Liebesentzuges darf man sich nicht in diese Rolle drängen lassen. Man darf den Liebesentzug auch nicht ausblenden und verharmlosen. Aber gleichzeitig nicht dramatisieren und sich selber erregen. Man muss sich ausgleichen und seine eigenen Stärken und Schwächen reflektieren.

    Als Täter eines Liebesentzuges muss man sich überwinden und signalisieren, dass man sich eventuell geirrt hat, aber ohne dass man das Gesicht verliert. Ansonsten könnte ja jemand triumphieren und dies ebenfalls als Zeichen der Schwäche auslegen und sofort eventuell ausnutzen; Bedingungen stellen. Die Liebe soll man also wieder gesund dosieren.

    Man muss nicht alles permanent ausdiskutieren; kleine Situationen eines alltäglichen Liebesentzuges überbewerten. Man muss die Muster analysieren, die einen Liebesentzug verursachten. Und seinen eigenen Anteil bemessen, doch weder zu grosszügig noch zu sparsam. Ausgewogen, ehrlich.

    Ich selber möchte keinen Liebesentzug instrumentalisieren. Aber ich bin gewiss nicht perfekt. Ich neige zu diesem Verhalten; ich kenne meine Tendenzen. Ich versuche die Situationen zu reduzieren, die einen Liebesentzug auslösen können. Ich bin irgendwie ein Gutmensch; ich möchte niemanden quälen. Aber ja, ich bin nicht vollkommen.


  • Im Alltag geprüft

    Der Alltag prüft jeden Menschen, jede Beziehung. Der Alltag kann alles zerstören. Der Alltag kann aber alles beruhigen, alles regulieren und entspannen. Wir sind daran gemessen, wie gut wir funktionieren. Sei es im Beruf, sei es in der Liebe, sei es als Familie. Wir idealisieren die verwaltete Familie, die im gemeinsamen Cloud-Familienplaner den Alltag regelt.

    Wir romantisieren die vernünftige Beziehung, welche den Nachwuchs besonnen züchtet und wählt, den perfekten Zeitpunkt abwartet und notfalls nachhilft. Wir wollen das Leben im Griff haben. Der Alltag zähmt das Leben. Der Alltag kanalisiert unsere Befindlichkeit. Der Alltag nivelliert uns alle, damit wir alle uns einreihen und anordnen können.

    Auch ich tanze im Alltag. Ich verreise, ich kaufe ein. Ich besuche. Ich unterhalte. Ich entdecke. Der Alltag kann einen quälen. Mein Alltag erfreut mich. Ich pendle zwischen den Mandaten. Ich kämpfe um meine berufliche Unabhängigkeit. Ich liebe ohne Schrecken wie Bedingung. Ich trolle ganz futuristisch. Ich bin zufrieden und befriedet.

    Der Alltag aber kann beirren. Denn der Alltag simuliert Sicherheit, Berechenbarkeit. Wir wollen den Alltag voraussagen. Wir wollen die Ereignisse erwarten. Doch das Leben überrascht uns stets. Mit dem Alltag wollen wir solche Ausschläge abflachen. Wir wollen uns einmitten. Doch so verlieren wir kontinuierlich Leidenschaft und das kleine Glück im Alltag.

    Weil wir bloss noch reaktiv uns anpassen. Wir werden getrieben. Wir führen nicht mehr. Wir leben nicht mehr selbstbestimmt. Wir unterwerfen uns. Wir gestalten eine organisierte Langeweile. Ohne dass wir es bemerken. Der Alltag erobert plötzlich auch die Liebe, die Sexualität. Plötzlich ist alles getaktet. Wir entzaubern die letzte Magie.

    Doch was kann ich meiner Leserschaft raten? Wie kann man den Alltag wiedergewinnen? Wie kann man wieder das eigene Leben lenken? Indem man sich daran reibt. Indem man Widerstand leistet. Indem man gewisse Muster ablehnt. Ein Verhalten zurückwirft, nicht akzeptiert. Grenzen markiert, aber sie stets wieder überquert.

    Ich kenne meine Grenzen. Ich lasse mich nicht anschnauzen, wenn keine unmittelbare Lebensgefahr mein oder das Leben eines Mitmenschen bedroht. Ich lasse mich nicht erniedrigen. Ich lasse mich nicht anschreien. Manchmal muss man jedoch eskalieren. Aber bloss, wenn man sich wieder versöhnt. Das ist schwer, aber durchsetzbar.

    Ich meine nicht post mortem. Wir können alle lernen und uns verbessern, nachträglich und bereuend. Ich meine den Augenblick, den Augenblick im Alltag. Dort müssen wir Muster brechen. Dort müssen wir uns zuweilen überwinden. Wir dürfen uns nicht festfahren. Wir müssen beweglich bleiben. Wir müssen uns erweitern.