Autor: bd


  • Die Lust der Selbstzerstörung in der Europapolitik

    Politisch äussere ich mich selten. Im Privaten nehme ich Diskussionen wahr und gelegentlich teil. Das Tagespolitische amüsiert, das Weltpolitische inspiriert und beseelt schliesslich. In meiner Gegend interessiert vor allem Europapolitik. Die Schweiz ist zwar faktisch vollständig westintegriert, aber kultiviert den Narzissmus der kleinen Distanz mit viel Pathos und Geld.

    Das erzeugt permanent Spannungen auf beiden Seiten. Für die grosse EU ist die Schweiz das kleine, dicke und eklige Stachelschwein, das schonungslos profitiert und stets als Opfer sich inszeniert. Demgegenüber empfindet die Schweiz die EU als technokratisches Joch, das die Spezifika der schweizerischen Politik ignoriert und somit bedroht.

    In der Schweiz dominieren Isolationisten. Das, obschon die Schweiz eine zutiefst globalisierte Nation ist, periodisch mit anderen vergleichbaren Stadtstaaten wie Singapur Ranglisten der am meisten vernetzten und kompetitivsten Volkswirtschaften anführt. Der UN-Beitritt erfolgte erst 2001 und war respektive ist nicht unumstritten.

    Im Mittelland fühlen die Menschen noch bäuerlich, auch wenn bereits raumplanerisch verstädtert. Dank günstigen Zinsen errichte Reiheneinfamilienhäuser mit Bus- oder S-Bahn-Anschluss beherbergen die kräftigste politische Kraft: ein latent apolitische, aber selbstzufriedene Büroarbeiterschicht, welche täglich in die beschaulichen Zentren pendelt.

    In diesem Milieu konnten sich Isolationisten durchsetzen. Denn die Globalisierung und Digitalisierung betrifft ebendieses Milieu. Das handwerkliche und lokale Gewerbe ist kaum bedroht, die ohnehin bereits globalisierten Spezialisten in den Grosskonzernen sind ausreichend kompetitiv und weltweit organisiert.

    Das ist nicht genuin eine einmalig schweizerische Situation. Europa ist bedroht. Vor 1914 stellte Europa knapp einen Viertel der Weltbevölkerung, aber das Gros der Weltproduktion. Mittlerweile weder-noch. Die globale Konkurrenz ist erwacht, gewiss auch selbstverschuldet mit zwei Weltkriegen. Auch der Wertepartner USA fühlt sich herausfordert.

    Wir ahnen und spüren also einen Untergang respektive einen langsamen, aber stetigen Verlust unserer Hegemonie. Aber anstatt die Nationen Europas sich zusammenschliessen, gemeinsam antworten und auf allen Disziplinen sich rüsten, verfällt die Büroarbeiterschicht der freudschen Lust der Selbstzerstörung.

    Die Europäer wollen ihre Länder zurück. Sie verdrängen, dass gerade die Globalisierung und Digitalisierung ihre Länder bedrohen und dass eben bloss eine Föderation europäischer Staaten diese und weitaus dramatischere Herausforderungen der nahen Zukunft meistern kann. Insgeheim wünschen sie eine Epoche der Unruhe, der Anspannung.

    Mit grosser Lust demontieren die Europäer ihre EU. Sie kokettieren mit ihrer Irrationalität. Sie beschwören eine Veränderung, einen Wandel. Teils konnten sie sogar einen harten Ausstieg wie einen Brexit durchsetzen. Sie suchen die Entscheidung, die Tat. Doch dabei verdecken sie bloss ihre allgemeine Ohnmacht.

    Seien wir gespannt.


  • Was ist mir wichtig?

    Kürzlich wurde ich gefragt, was mir wichtig sei im Leben. Das ist eine bemerkenswerte Frage, auf die ich nicht zweifellos antworten kann. Grundsätzlich ist die Frage anspruchslos, denn sie drängt auf die simple, aber akzeptable Antwort, dass Familie und so wichtig sei. Doch ich möchte nicht so abkürzen.

    Als zutiefst leidenschaftlich-leidenschaftsloser Mensch ist mir nichts wichtig. Ich bin mir meiner Nichtigkeit bewusst, ich versuche mich nicht zu überhöhen. Ich versuche irgendwie widerstandslos zu fristen, ohne viel Energie zu vergeuden in noch unwichtigeren Angelegenheiten. Ich betreibe mich im batterieschonenden Modus.

    Im Bewusstsein der Vergänglichkeit möchte ich nicht priorisieren, was wichtiger ist und weniger wichtiger. Ich behalte eine flache Liste möglicher Lebensaufgaben und bewältige sie mehr oder weniger routiniert. Wobei ich Hausarbeit so gut als möglich meide und darauf achte, dass ich mich nicht überanstrenge.

    Was ist mir nun wichtig? Ich weiss es nicht. Ich will entgegen, dass mir wichtig sei, dass mein Umfeld gedeihe. Dass Menschen um mich herum reüssieren, einigermassen glücklich seien und eine kluge Art der Gegenwartsbewältigung praktizieren können. Ich will, allerdings habe ich genügend Menschen verletzt, dass ich nicht glaubwürdig bin.

    Original und vermutlich Jahrzehnte zurück war ich durchaus motiviert, mein Umfeld gedeihen zu lassen. Ich wollte antreiben, herausfordern. Ich wollte ein Umfeld schaffen, wo alle sich verwirklichen und Glück erfahren durften. Irgendwann verirrte ich mich aber. Ich kann nicht mehr exakt rekapitulieren wann und wo und wie.

    Vermutlich das erste Mal, als ich meinen verstorbenen Lehrmeister enttäuscht habe. Oder meine Familie. Ich weiss nicht. Vermutlich auch die erste Liebe mit knapp fünfzehn im Umland Oltens. Die Liebe, die ich mit einer perfiden Begründung boykottiert habe, sie sei nicht gesellschaftlich akzeptabel, auch wenn ich mich nie für Etiketten interessierte.

    Ich könnte noch etliche Verfehlungen auflisten, die alle bloss meine Unglaubwürdigkeit bezeugen, dass ich meinen Mitmenschen Gutes tun möchte. Deswegen kann ich die initiale Frage damit nicht klären. Ich muss also weiter untersuchen, was mir denn wichtig sei. So elegant und selbstlos kann ich das Thema also nicht beenden. Weiter geht’s.

    Was mir wichtig sei? Ich weiss es nicht. Möglichst viel Geld verdienen? Kaum, denn dazu habe ich den falschen Beruf oder das falsche Gefäss gewählt. Möglichst viel Liebe machen? Ebenfalls unwahrscheinlich, weil dafür habe ich das falsche Betriebssystem installiert. Möglichst viel rauchen und saufen? Gleichsam fraglich und nicht kompatibel.

    Also was dann? Glücklich sein? Ich? Ich bin ein Glücksverweigerer. Ich verneine das Konzept des Glücklichseins. Leben bedeutet zu bewältigen. Ich beschreibe es als Gegenwartsbewältigung. Innerhalb dieses Rahmens darf man gelegentlich rebellieren, eskapieren. Solange man niemanden schadet.

    Letztlich ist mir wichtig, im Leben nicht zu viel Widerstand leisten zu müssen. Ich möchte manchmal kapitulieren, nicht Zeit und Energie opfern, sondern mich treiben lassen. Ich möchte nicht entscheiden oder Wege errichten. Gleichzeitig möchte ich aber, wo ich keinen Widerstand zu befürchten habe, schöpferisch sein. Dort inspirieren.

    Ich pendle zwischen Welten, gleichsam dem Zwischenwesen, das im Titel dieser Plattform angedeutet ist. Ich möchte dort, wo ich kann, mitwirken. Aber anderswo, wo ich nicht mag, es geschehen lassen, ohne opponieren zu müssen. Eine Art der Gleichgültigkeit, die sich aber ungleich verteilt. Das ist mir irgendwie wichtig.

    Wie auch immer – diese Frage konnte ich nicht klärend beantworten. Stattdessen habe ich wohl weitere Fragen provoziert.

    https://www.youtube.com/watch?v=4GbGyY9wPW4


  • Unbedeutend sein

    Ich kann derzeit mir nicht vorstellen, mein Leben hier und jetzt zu beenden – oder vielmehr beendet zu werden. Ich befürchte, dass ich noch nicht alles ausgekostet hätte. Ein Drittel des Lebens habe ich bewältigt, jetzt kommt das mittlere Drittel. Ich bin ausgereift, im Leben angekommen, habe wichtige Entscheidungen und so weiter getroffen.

    Im letzten Drittel endlich werde ich bloss siechen dürfen. Ich werde fristen, bis ich sterbe, bis alle Bekannten und Verwandten mich vergessen. Vermutlich werde ich staatlich deponiert, schäme mich als Nettoempfänger des Gesundheitssystems. Später beerdigt man mich mit dem Restgeld, feiert und vergisst. Das Leben wie alle anderen. Tot.

    Ich fordere für gewöhnlich, dass man jeden Tag sterben könnte. Man sollte dergestalt ausgeglichen, zufrieden und ausgeruht sein, dass man sterben könnte. Zufrieden, tiefenentspannt. Die Dinge geregelt wissen. Doch von diesem zeitlosen Zustand habe ich mich entfernt. Ich kann noch nicht sterben.

    Ich hetze derzeit von Kleinigkeit zu Nebensächlichkeit. Ich bin vollends in der operativen Hektik gefangen. Der Beruf dominiert, die Familie erledigt den Rest. Ich werde immer schwerfälliger, ich reagiere statt zu agieren. Ich kann mich nicht zurückziehen und somit beruhigen. Lediglich der latente Alkoholismus tröstet.

    Wenn ich heute verunfallen würde, vom Tram oder Auto überfahren werden würde, mein Pendelzug mit einem entgegenkommenden kollidieren würde, wenn eine unheilbare Krankheit ausbrechen würde, wenn ich mich verschlucken würde oder mein Herz kollaborieren würde – dann würde mich das bedauern.

    Irgendwas hätte ich mir doch noch vorgestellt. Ich bin kein Narziss, der seine eigene Rolle überhöht. Keineswegs, ich bin mir meiner lokalen wie globalen Bedeutungslosigkeit bewusst. ich wehre mich dagegen nicht. Ich engagiere mich auch nicht für impact oder reach. Ich verkrieche mich im Beruflichen wie Privaten.

    Dennoch flüstere ich mir selber ein, dass noch etwas fehle. Dass dieses kleine Oltner Leben doch etwas bewirken könnte. Dass ich gar etwas verpasse, was ich noch nicht kenne. Doch vermutlich irre ich bloss, bin durch das Zeitalter des totalen Individualismus dermassen verfremdet, dermassen dem Realitätsbezug entrückt.


  • Mein bevorzugter Zustand

    Ich möchte nicht nachdenken, ich möchte nicht Konsequenzen tragen müssen. Ich möchte stets fliehen, rasen und hasten. Ich möchte vergessen, was geschah. Ich möchte alles, hier und jetzt, und morgen nachdoppeln. Ich möchte stets einen Zustand der endlosen Manie erleben, stets unbeschwert, enthemmt und entkoppelt mich fühlen.

    Ich möchte weder Steuer erklären noch mit Geld haushalten, weder Toiletten schrubben noch Pflanzen giessen müssen. Ich möchte von alldem nichts wissen. Ich möchte immerzu jauchzen, ohne Bedingung leben, ohne Verpflichtungen sterben. Irgendwie alles zudem, aber nichts wirklich. Alles haben, nichts müssen. Und stets sein.

    Ich möchte an einem Ort mich konzentrieren. Ich möchte alle Energie verdichten, ich möchte manisch tanzen, überborden; Sitte und Ordnung verlieren. Ich möchte ausbrechen, nicht mehr routiniert mich selber beüben, mich stets mässigen. Ich möchte mich nicht entscheiden, ich möchte nichts abwägen müssen.

    Alles, und nicht nichts. Alles hier und jetzt. Ich könnte stundenlang darüber schwärmen. Ich könnte mein Umfeld anstecken und begeistern. Ich könnte motivieren, anstacheln, Ehen brechen, Abstinenzler überwinden. Alles verballern, alles riskieren, alles verlieren. Ich kann bloss so atmen, mich bewegen und überleben.

    Alle Versuche, mich zu zähmen, sind gescheitert. Kein Kind kann mich jeweils domestizieren, keine Frau vermochte oder mag je vermögen, obwohl ich stets dafür tendiere. Auch die Arbeit, eigentlich die grosse Anstalt, kann mich nicht erziehen. Nichts, der Staat ist vollends gescheitert, wer aber zugegebenermassen nie beauftragt wurde.

    Wie weiter? Ich geniesse diesen Zustand solange als möglich, solange ich noch kann. Bevor irgendwas, irgendwer mich zurückholt, wieder erdet, wieder erinnert, dass ich ebenso sterblich, ebenso vergänglich und ebenso gekettet bin wie alle anderen, die hier bloss einsam und unbefriedigt fristen, langsam sterben und sich selber bedauern.


  • Wieso Zürich?

    In Zürich konzentriert sich die schweizerische Wirtschaft sowie Kultur. Eine mittelgrosse Stadt, nett am Ufer eines in die Voralpen reichenden Sees, entwässert durch einen entspannten Fluss. Drei Hügel umrahmen die beschauliche Stadt. Der Bahnhof zählt zu den meistfrequentierten der Welt. Die Menschen zu den wohlhabendsten.

    Seit einigen Monaten lebe ich Basel. Olten musste ich verlassen. Ich fühle mich verpflanzt, fremd. Das fühle ich mich auch stets, wenn ich beruflich Zürich besuche. Die Einfahrt in die Stadt fasziniert mich hingegen. Ich beobachte gerne die Europaallee wachsend. Jedesmal entdecke ich weitere Bürokomplexe oder wuchtige Apartmentbehausungen. Schön.

    Die Männer sind sehr einheitlich gekleidet. Im Sommer die Weisshemder sommerlich mit Mokassins, die übrigen jahrezeitenlos mit Espadrilles. Die Fülle beeindruckt mich stets. Die Haare entweder seitlich oder rückwärts gekämmt, im Default akkurat geliert. Bei der Sonnenbrille bin ich verunsichert, jedenfalls konsequent mit Sonnenbrille.

    Ob Banking, Finance oder Startups, gerne Fintech, Insurtech oder Consulting – sie sind alle Associate und wollen sich beschleunigen. Ich kenne keine, doch alle mit ihrem Titel. Auf LinkedIn followen und liken sie angelsächsische Beiträge, deren Inhalt sie kaum verstehen. Abends posieren sie vorm Coco mit überteuerten Grilladen.

    Zürichs Speckgürtel dafür döst. Zürich kannibalisiert jegliche Autonomiebekundungen des Umlandes. Alles will, alles tendiert nach Zürich. Selbst Aarau ist nunmehr Zürich West, seit der der Baregg keine natürliche Autobahnbarriere mehr symbolisiert. Die Tuchlaube verdämmert, das KBA von den Jüngeren längst vergessen.

    Die halbe Schweiz strebt nach Zürich. In Zürichs Gassen verwildern die schweizerische Dialekte; sie alle nivellieren zur Zürcher Einheitssprache. Die entschlossenen Ausländer wiederum verjüngen die Stadt; produzieren Nachwuchs, den sie im fern-nahen Institut Montana platzieren. Derweil die Einheimischen sich als etwas Besonderes einbilden.

    In Zürich verbreitet sich der Hipster ähnlich rasant wie den übrigen westlichen Weltstädten, ob Berlin, Paris, Wien oder sonstwo. Sie dominieren mittlerweile die lokalen Kulturen, beeinflussen mit ihrem Kaufverhalten ganze Industrien. Ich bin in dieser Hinsicht mitschwimmend, weil ich deren Güter, sozialen Errungenschaften konsumieren.

    Ich bin ziemlich verkrampft im Umgang mit Zürich. Fühle ich mich minderwertig? Fühle ich einen zu strengen Wettbewerb in Zürichs Gassen? Fühle mich zu wenig selbstsicher, um in Zürichs Lokalen auftreten zu können? Kaum, bislang war ich in Zürich erfolgreich. Ich möchte einfach nicht me too sein; also auch in Zürich sein, bloss weil alle dort sind.


  • Ohnmächtig gelebt

    Vermutlich starteten wir alle das Erwachsenwerden mit klaren Vorstellung. Mit klaren Vorstellung, wie und wie nicht wir leben wollten. Wir konnten uns gewiss abgrenzen. Manche wollten durchfeiern, drei Tag lang wach bleiben, verreisen und unaufhörlich entdecken. Andere träumten früh vom Heimchen und Kindchen und Häuschen an der Dünner. Alles gültig, wahr.

    Wir starteten mit einigermassen klaren Konzepten. Die Eltern, wenn anwesend und nicht gerade selber ausgehebelt, wollen uns weismachen, dass unser aller Leben irgendwie doch begrenzt sei, denn irgendwas forme und standardisiere und mässige uns stets. Sei es die Arbeit, der finanzielle Druck oder das andere Geschlecht. Freilich mit guten Absichten.

    Sooderso waren wir nicht empfänglich für solche Ratschläge. Wir wollten reüssieren. Wir wollten bewegen, wir wollten empfinden, wir wollten Freiheit, Unabhängigkeit erlangen. Wir wollten uns nicht mehr länger rechtfertigen, für nichts und niemanden. Vor allem nicht für den Leichtsinn, unsere Nächte, Eskapaden und diversen Schulden.

    Doch schon früh disziplinierte uns das Umfeld. Ob Matura, Lehre oder weder-noch, alle mussten liefern, mussten früh sich einordnen. Die unbeschwerte reine Schulzeit war rasch vergessen. Alsbald mussten wir Geld verdienen, Krankenkassenprämien kalkulieren, Sozialversicherungsabgaben inkludieren. Im System erwachsen.

    Wir balancierten, seiltanzten. Der Wochenendrebell entstand, ein belastbares Konzept des permanenten und wiederholten Eskapismus. Montags bis freitags simulierten wir gewisse Normalitäten, kastrierten uns selber; gehorchten den Eltern und Lehrmeistern, den sozialen Anforderungen. Eine Schule des Lebens, Schein und Ordnung wahren.

    Doch freitags konnte nichts uns nunmehr aufhalten. Wir waren entzündet. Die ersten Joints zirkulierten in der 2. Klasse der Regionalbahn. Wir alle verlängerten den Feierabend am Bahnhof, Dosenbier und noch mehr Marijuana. Ein Ausnahmezustand. Wir ernährten uns von Malibu Orange, Gummibärli, Bier und Hanf – bis sonntags.

    Das war die kleine Illusion einer Freiheit, eines selbstbestimmten Lebens. Das Wochenende gehört uns. Wir dienten, verrichteten unsere Pflicht unterwöchig, doch am Wochenende waren wir frei und ungestüm. Das war unser Selbstverständnis, unsere Droge, unser Soma. Montags ärgerte aber eine unbestimmte Verspätung im Pendlerverkehr: Personenunfall.

    Die ersten ernsthaften Paarbeziehungen etablierten sich. Das Wochenende war plötzlich auch Arbeit. Arbeit an der Partnerschaft. Zwecklose Beziehungen, nicht immer durch leidenschaftlichen Sex motiviert respektive legitimiert. Manchmal auch ein Funktionieren bloss, das dem unterwöchigen Ablauf glich, lediglich anders betitelt.

    Das reduzierte die vormals maximale Wochenendefreiheit. Die individuelle Freiheit war nun als eine Verhandlungsmasse einer Paarbeziehung aufgedeckt; das Spiel mit Geben und Nehmen, mit Kredit und Schuld hat sich durchgesetzt. Das vormalige Lebensmodell war durchtrennt. Für unbefriedigenden Sex, für den Fernsehabend der ewigen Kompromisse.

    Gewisse Paarbeziehungen verfestigten sich. Andere endeten in Kinder oder in Trennung. Wer konnte, flüchtete in flüchtige Beziehungen; in schnellen, oberflächlichen und unbefangenen Sex mit unbekannten Menschen, ebenso flüchtig kennengelernt um vier Uhr morgens oder im verruchten Internetz, wo vormals unvorteilhafte Frauen einen zweiten Frühling erleben.

    Anderen konnten sich nicht mehr rechtzeitig retten. Deren Leben war immer mehr durchorganisiert. Nicht bloss die Paarbeziehung strukturiert den Alltag, sondern auch die nahenden Kindchen ruinieren den Rest der individuellen Selbstbestimmung. Kinder vernichten jeden Individualismus; sie entfremden vom eigenen Leben.

    Seitdem trotten wir durchs Leben. Jeden vierten Dienstag im Monat dürfen wir zwei Stunden auswärts trinken. Doch maximal zweieinhalb Bier, nicht zu viel, denn wir müssen stets einsatzbereit sein. Das Natel observiert unsere latente Vergnügungssucht, Heimchen und Kindchen wachen und verurteilen jede Verspätung oder Nichtmeldung.

    Wir freuen uns auf balde Ferien. Diese verdoppeln unsere Last. Wir spurten durchs fremdbestimmte Programm der Heimchen und Kindchen. Müssen entweder wochenlang an irgendwelchen fernen Stränden uns langweilen oder möglichst viele Sehenswürdigkeiten gleichzeitig besichtigen; irgendwelche aufregenden antiken Porzellansammlungen.

    Glücklicherweise ist das Leben aber endlich. Man hat zwar gelebt, aber bloss ohnmächtig, ausgeliefert. Man ist zwar statistisch erfasst worden, doch einen Sinn konnte das Leben nicht stiften. Man stirbt als Sozialversicherungsnummer, die Nachwelt würdigt das Erbe und den steten guten Willen. Rasch ist man vergessen. So wie man sich einst selber.


  • Ein aktueller Zustand

    Gewiss erwartet meine nunmehr verkleinerte Leserschaft einen Bericht über das Papiwerden, übers Wickeln und sonstigen neumodischen Vateraktivitäten. Oder wie ich das Kindchen auf Strassen Basels schubkarre. Oder wie die Paarbeziehung aufgrund erweiterten Ansprüchen komplizierter nun sich ausgestaltet. Nichtsda.

    Ich überlebe wie gewohnt. Zwar müder, erschöpfter, schlafloser, manchmal allem mehr überdrüssiger als üblich. Ansonsten einigermassen stabilisiert. Nicht beruhigt, nicht gänzlich sediert und kastriert, aber immerhin den Möglichkeiten maximalst eingeschränkt. Das Haus spontan verlassen? In Olten feiern? Ausgeschlossen.

    Ich habe jüngst die Göttliche Ordnung auf Basels Münsterplatz verfolgen dürfen, eine kurzweilige Komödie über den Sinneswandel eines gezähmten Heimchens, das in der fernen Grossstadt Zürichs ihren Tiger und den Mehrwert des hängigen Frauenstimmrechts entdeckt. Eine Art Heimspiel in Basel-Stadt, ein klassisch progressiver Halbkanton.

    Gleichzeitig veröffentlicht der hier bereits im Stadt-Land-Kontext zitierte Benjamin seine Dystopie, eine radikalisierte Stadt-Land-Gesellschaft, die in der selbstgewählten Autonomie der Städte endet. Gleichzeitig brilliert Dimitri im Verdrängungskampf der Generationen. Und die Futuristen tobten, brüllten, tranken und vagabundierten mit Mutters Camper.

    Und nebenbei durfte ich erfahren, dass Basel-Stadt den Erwerb eines elektronischen Stramplers mit ungefähr tausend Franken subventioniert, unabhängig des Realeinkommens, sondern im Giesskannen-Metapher. Ich hätte anders priorisiert, muss mich wohl aber erst an das politische System Basel-Stadts gewöhnen.

    In diesem breiten Kontext altere ich. Ich werde privater, zurückgezogener. Ich werde automatisch häuslicher. Ich werde nicht mehr so oft ausbrechen können. Ich werde gewiss arbeiten, Geld verdienen und so weiter, dort weitere Geschichten bilden. Doch abseits davon muss ich haushalten, geduldig und nachsichtig bleiben.


  • Der Königsmörder

    Eine kleine Kränkung, Verletzung kann dich ziemlich weit motivieren, antreiben; sie kann deinen Weg beschleunigen. Ich habe beobachtet, wie ein gewöhnlicher Angestellter, nicht übermässig engagiert, sondern mehr bestrebt, das Leben gemütlich sich einzurichten – also wie eine solche Person hinauswachsen konnte und politische Gegner niederstrecken musste.

    Dessen schnelle Karriere beeindruckte mich. Man spekuliert über seine Anstellung, ob eine dritte Person die Entscheidung beeinflusste. Denn fachlich wie menschlich konnte er nicht überzeugen. Er ähnelte einem untersetzten Koch, der grösstenteils im Innenhof Nikotin verdampfte. Nebenbei konzipierte er seine Doktorarbeit über die Unternehmenskultur. Sehr ungleich.

    Er nannte einige als Freunde. Der eine verantwortete, dass er dort war, die restlichen hat er im Nachhinein geschart. Sie alle stammen vom lokalen Mitbewerber; man kennt sich. Sein ehemaliger Vorgesetzter verfolgte andere Prioritäten und hat deswegen ein Team zurückgelassen, das er sofort übernehmen und im Portfoliosinn vergrössern konnte.

    Die Beziehung zum ehemaligen Vorgesetzten war belastet; sie waren nun hierarchisch gleichgestellt. Er durfte mittlerweile über ein grösseres Budget walten als sein Konkurrent; auch organisierte er die wichtigere Projekte – doch bis auf das eine, das einer grossen Veränderung, die alles hinterfragt, alles umbaut und eigentlich jeden betrifft.

    Im Verlaufe des Jahres hat sich die obere Führungsriege selber gesäubert. Ein neuer starker Mann sollte die überkommenen Strukturen aufbrechen, sollte das Unternehmen in ein goldenes Zeitalter grosser Gewinne zurückführen. Der ehemalige Vorgesetzte wollte sich positionieren, kommunizierte offen und ehrlich; er skizzierte eine gut dotierte Stabsstelle.

    Doch unser gewöhnlicher Angestellter war nachtragend. Er war entschlossen, er wollte sich selber überwinden; er wollte Macht spüren, Macht ausüben – und die vergangenen Demütigungen vergessen. Er möchte niemals wieder Koch genannt werden. Niemals wieder; er der nebenbei doktoriert, Frauchen und Kindchen im Wiesental nährt.

    Die Ambitionen seines ehemaligen Vorgesetzten waren offenkundig, sie wurden auch nicht ernstgenommen. Er agierte nicht ausreichend professionell-gerissen. Er war vom Typ vielmehr gutmenschlich und naiv, unbekümmert. Keine fiese, berechnete Ratte; kein Machtmensch, kein Politiker, obwohl er sich einredete, er sei politisch.

    Unser gewöhnlicher Angestellter hatte sich rechtzeitig beim neuen starken Mann angebiedert, seine Dienste angepriesen, seine Doktorarbeit geschickt eingebettet. Er war plötzlich Einflüsterer, Berater. Denn der neue starke Mann misstrauten allen; er war nicht vom Fach, nicht von der Szene, nicht von hier. Er suchte Freunde statt einen Hund.

    Gemeinsam planten sie eine Reorganisation. Fachlich ist sie gut, angemessen. Ein Schritt in die richtige Richtung; ich kann sowas schliesslich beurteilen. Und unser gewöhnlicher Angestellter hat das eigentlich beste Ressort geschaffen, thematisch einem noch weiteren Mitbewerber entrissen. Nun thront er.

    Sein ehemaliger Vorgesetzter und vergangener Demütiger hätte sich als erster Untergebener einreihen müssen. Doch unser Kollege hat bereits am selben Tag zwei Königsmörder rekrutiert – und ihnen die Stelle des ehemaligen Vorgesetzten versprochen, falls sie sich öffentlich von ihm distanzieren würden.

    Das war grandios. Der ehemalige Vorgesetzte war bereits mit dieser Tat, die allen bekannt ist, abgeschossen; es musste sich niemand mehr öffentlich distanzieren oder dergleichen. Er ist vernichtet, er musste vormittags sich mit Shots betäuben; er verlor alles, sein Projekt, seine Stelle, sein Gesicht. Er konnte bloss noch zurücktreten. Bedauerlich.

    Die original angeschafften Königsmörder waren nicht mehr notwendig, dennoch konnte der eine die Stelle dankbarst übernehmen und sein Prestige erhöhen. Er hat nun eine bedeutungsvolle Kaderfunktion inne; mehr Gehalt, eine periodische Besprechung zum neuen starken Mann. Er muss bloss noch Gehorsamkeit beeiden.

    Der ganze Ablauf hat mich beeindruckt. Jemand hat die Mechanismen der Politik gelernt und angewendet. Mit diesen Werkzeugen hat er es relativ weit gebracht für eine kurze Frist mit wenig Unterstützung, mit wenig einflussreichen Freunden in der Organisation. Nun kann er ein kleines Reich zimmern, mit treuen externen Berater und Untergebenen.


  • Plötzlich Vater

    Ich wollte eigentlich nie Vater werden, ich wollte nie erwachen, plötzlich für Frau und Kind sorgen dürfen, täglich mich koordinieren müssen; wer was erledige, wer wen zeitnah unterstütze, wer das Kindchen füttere, wer haushalte und so weiter – ich wollte das alles eigentlich nie, ich wollte stattdessen als verdorbener Schriftsteller scheitern.

    Doch ich kann mich anpassen. Ich wage die baldige Vaterschaft. In wenigen Tagen darf ich meine Tochter empfangen – sofern die planmässige Geburt glückt; die Mutter sich nicht verletzt, das Kindchen gesund und lebensfähig langsam die Augen öffnet und vermutlich noch längst nicht das Geschenk des Lebens würdigt.

    Ja, und gewiss bin ich nicht vorbereitet. Das Zimmer des Kindchen ist zwar bestens ausgestattet, formell sind wir gerüstet; uns fehlt bloss ein Familienwagen mit lokalem Kennzeichen und grosszügiger Versicherung – aber gedanklich bin ich bloss abstrahierend; das nahe Kindchen begreife ich als fernes Experiment.

    Doch in wenigen Tagen und folglich Stunden bin ich unmittelbar herausgefordert. Keine Abstraktion schützt mich mehr. Auch dieser Blog, dieser Beitrag ist dann überkommen. Ich werde meine Lebenskraft anderswo investieren, ich werde mich nicht mehr in diesem beispiellosen Masse verausgaben dürfen. Ich werde verantworten und so.

    Ich bedauere nichts, denn ich habe mich entschieden. Ich hätte jederzeit stoppen und abbrechen können. Ich hätte fliehen und auch Verantwortung abstreiten können. Ich will nun riskieren, nichts experimentieren, sondern übernehmen, haften und vor allem viel lieben und wertschätzen, geduldig wachen, sorgsam entwickeln lassen.

    Ich bin aber ausreichend realistisch gesinnt, ich kenne meine Stärken und Schwächen; meine Fähigkeiten sind begrenzt. Ich werde nicht als Übervater imponieren. Ich werde stattdessen das Kindchen kitzeln, ich werde herumalbern und trollen; ich werde mich nicht immer durchsetzen können, oftmals werde ich bloss nachgeben.

    Ich werde auch viel nebenbei arbeiten. Ich werde mein Töchterchen vermutlich netto vorläufig drei Stunden täglich durchschnittlich erleben können – schliesslich muss ich arbeiten, eine Firma vergrössern und einen Blog erhalten und meine Drohnen fernsteuern und meinen Geist weiterbilden und meine Beziehung pflegen.

    Vermutlich werde ich priorisieren, die einen oder anderen Aktivitäten vernachlässigen. Glücklicherweise erkenne ich meine Muster; ich werde erfahrungsgemäss mich übernehmen, indem ich alle Aktivitäten zu vereinen strebe – und dann überall nicht überzeugen, weil ich meine Kraft verzettele. Vermutlich.

    Im Gewöhnlichen paralysiere ich mich nicht mit zu vielen Gedanken. Vielmehr lebe ich drauf los, unbeirrt, ungestüm – und zwar ganz futuristisch, ich fürchte im Moment der Tat keine Konsequenzen. So startet auch das Wagnis Vaterschaft in wenigen Tagen verhältnismässig unreflektiert; ich habe keinen mühsam zusammengetragenen Sorgenkatalog.

    Anschliessend schlendere ich ins lokale Geburtshaus und denke mir einfach “Okay”. Okay, nun stehe ich hier, überschreite diese Schwelle, begleite meine Frau in den Saal, denke mir nichts dabei. Eventuell esse ich zuvor noch ein Sandwich, trinke einen Kaffee, poste auf Slack in #random noch ein Selfie. Völlig unbedarft, unkompliziert.

    Danach plötzlich Vater.


  • Mein Unglaube

    Ungläubige beneide ich nicht. Sie müssen anders sich orientieren. Sie haben kein Urvertrauen, Gottvertrauen. Sie können sich nicht zurücklehnen, sie können nicht erklären. Sie haben keine Kirche, wo sie einkehren dürfen, und zwar jederzeit und stets willkommen, gleichgültig inwietief sie gefallen sind oder man sie fallen liess.

    Stattdessen müssen Ungläubige die bekannte zweite Religiosität bemühen: Aberglauben, Irrglaube, völkische Kulte bishin, Heidentum gerne, Naturalismus oder sonstige Weltanschauungen, die eine grosse Ordnung um Zufall der Natur vermuten, weil die Natur ja nicht nicht würfeln darf und kann.

    Auch ich betrüge mich ein wenig. Ich lebe mit dem “Nordstern”-Konzept. Ich habe das so nicht unbedingt erfunden; es ist inspiriert vom Toyota-Produktionssystem, dort im Kontext der kontinuierlichen Verbesserung. Ich habe das Konzept als Lebensphilosophie adaptiert, damit ich überleben kann, damit ich abends besser einschlafen kann.

    Grundsätzlich anerkennt das Nordstern-Konzept, dass die heutige “Umstände” verloren sind. Egoismus, Gier, Geld, Macht und Sex dominieren das Wertesystem, unsere Welt. Wir sind ziemlich gefangen, wir jagen Statussymbole, wollen Karrieren, wollen permanent geliebt und verehrt werden. Wir schänden den Planeten, die Armen und sonstigen.

    Ja, wir bekriegen uns weiterhin, Kinder müssen weiterhin hungern, Minderheiten werden gehetzt, misshandelt und so weiter. Der normale Alltag, den wir seit unserer Bewusstwerdung kennen, manchmal ausblenden, manchmal auch periodisch darüber uns empören, um uns selber zu entlasten. Schliesslich waren wir schon immer dagegen.

    Ich anerkenne, dass wir daran vorläufig nichts ändern können. Wir werden uns nicht bessern oder verändern. Wir haben keine Notwendigkeit, schliesslich funktionieren wir weiterhin, schliesslich hat’s unsere Spezie weit gebracht; wir haben ein globales Informationssystem gebaut, wir sind konstant vernetzt, wir besiedeln die notwendigen Räume.

    Wir beherrschen diesen Planeten recht gut, gewiss noch nicht perfekt. Wir kämpfen gegen einzelne Naturkatastrophen, manchmal aber auch nur gegen die eigene Natur. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir bald die restliche Natur in uns und um uns herum kontrollieren können. Und dann werden wir unser System beschleunigen, pervertieren können.

    Gewiss ist das dystopisch. Aber das ist bloss “der nächste Meilenstein”. Das Nordstern ist eine aufgeklärte, liberalisierte Gesellschaft ohne Geld, eine Weltregierung, die das Forschen und Erkunden fokussiert, die eine klassische Überflussgesellschaft ist, hoch automatisiert und die Umwelt schont, wieder symbiotisch lebt. Ja, eine echte Utopie.

    Weder Hunger, Missgunst, Neid noch Krieg bedrohen diese Utopie. Die Menschen überschreiten die Grenzen unseres Sonnensystems, sie entdecken fremde Planeten, fremde Lebensformen. Sie überwinden die bekannten Gesetze der Quantenphysik, sie erstreben eine grosse, schweizerische Harmonie, müssen sich nicht betrinken. Sie sind glücklich.

    Ja, dieser ferne Nordstern motiviert mich. Vermutlich werde ich ihn nicht mehr erleben. Doch meine Kinder und Kindeskinder haben realistischen Chancen, diesen Nordstern geniessen zu können. Meine Kinder werden vermutlich noch die Radikalisierung des heutigen Ordnungssystems erdulden müssen, bis auch das implodiert.

    Daran glaube ich, das entspannt mich. Eventuell irre ich, doch das ist ein Glaube, den kann man weder widerlegen noch bestätigen, den kann man mir auch nicht ausreden. Man könnte mich foltern, mich zwingen, fünf statt vier Lichter zu sehen, mein Zimmer 101 personalisieren und so weiter, ich würde weiterhin daran glauben. Weil ich nicht anders kann.