Wahlen entscheiden den Krieg

Der Krieg ist noch längst nicht gewonnen. Die jüngsten Offensiven verheissen Optimismus, weil der Winter naht. Der Winter war stets Russlands Wunderwaffe. Diesmal droht Russland mit frierenden Wutbürgern in den labilen westlichen Demokratien, die bereits durch die innere Konservative Revolution unterminiert sind. 

Ich befürchte keinen baldigen Zusammenbruch der ukrainischen Stellungen im Donbass, im Süden oder im Nordosten. Der Verteidigungswille ist intakt; die Menschen leisten an allen Fronten Aussergewöhnliches. Das Einzige, was sie fürchten, ist alleine gelassen zu werden. Dass man sie vergisst, dass man sie nicht mehr unterstützt.

Denn trotz des Improvisationsgeschickes, trotz überlegener, weil vernetzter Aufklärung sind ihre Truppen je länger desto mehr angewiesen auf westliche Waffen, westliche Munition, Nahrungsmittel und vor allem uneingeschränkte finanzielle Unterstützung für alle laufenden Ausgaben des Staates. Der Staat ist bereits jetzt ausserordentlich überschuldet.

Der Krieg ist längst nicht mehr hyperreal. In den ersten Wochen berichteten Sondersendungen über minimalste Veränderungen während der Schlacht um Kiew. Mittlerweile publiziert selbst die NZZ bloss noch lustlose Tageszusammenfassungen. Corona plant wohl ein Comeback. In der Schweiz versucht man die Energiekrise zu antizipieren.

Für mich ist der Krieg weiterhin präsent. Kürzlich ging ich mit zwei ukrainischen Frauen aus. Sie sind beruflich in die Schweiz gereist und freuen sich auf die Auszeit. Die eine lebt provisorisch in Polen. Sie will alsbald heimkehren. Sie fristet seit mehr als sechs Monaten von ihrer Familie getrennt. Sie bewohnten ein Mehrgenerationenhaus. 

Sobald die Menschen hierzulande frieren, hungern oder sich einschränken müssen, beispielsweise auf die diesjährige Weihnachtsbeleuchtung verzichten müssen, werden sie anfälliger gegenüber Voten, die einen eindeutigen Urheber dieser Entbehrungen verorten und eine sofortige Lösung versprechen. 

Man müsste bloss die Sanktionen gegenüber Russland aufheben – die Energiekrise wäre abgewendet, die Teuerung normalisiert. Man müsste bloss die Ukraine opfern. Wir haben schon so viele Völker vergessen – es wäre eigentlich ziemlich vertretbar und wir könnten alle wieder in unseren beheizten Bädern sprudeln und günstige Fossilien verbrennen. 

Wir könnten uns durchaus arrangieren. Wir müssten einfach die Ukraine ignorieren. Bald startet ohnehin die europäisch dominierte Fussballweltmeisterschaft. Herbstmesse, Weihnachtsmarkt und Fussball könnten uns ausreichend sedieren. Das Gewissen könnten wir noch mit einem Corona-Comeback beruhigen. 

Ich glaube nicht, dass die Ukraine den Krieg noch vor der Herbstmesse entscheiden kann. Momentan werden ja noch keine modernen Panzer ausgeliefert. Mit den elf deutschen Panzerhaubitzen kann man keinen Krieg gewinnen; man kann ihn höchstens verlängern. Falls wir den Krieg beenden möchten, müsste man Putin zum Verhandlungstisch schiessen.

Ich befürchte, dass die westliche Unterstützung nachlässt; in den nächsten Monaten werden keine Panzer verfrachtet. So verharren die Fronten weiterhin. Stattdessen werden die inneren Feinden beklagen, dass sich das Leben verteuere. Bereits positioniert sich die SVP. Im aktuellen Klartext titelt sie «Frieren, hungern und ein leeres Portemonnaie».

Ukraine ist dem Populismus der westlichen Demokratien ausgesetzt. Die Wähler hierzulande richten über Sieg oder Niederlage im Krieg. Glücklicherweise ahnen die Ukrainer nichts; sie glauben, sie alleine können ihr Schicksal beeinflussen. Wir dürfen sie nicht vergessen, wir müssen sie weiterhin fördern, ist ja auch ein Stellvertreterkrieg.


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