Der letzte Heldentod ist nicht mehr genau zu rekonstruieren. Wann damals in Europa sind wir für eine Idee gestorben? Seither droht bloss der Hungertod; verarmte Klassen Europas hungern und verderben, randalieren und vagabundieren innerhalb des Schengenraums. Ich bin in einem ganz unheroischen Zeitalter geboren, wo Geschichte aufgehoben schien.
Nun aber erblicke ich fern-nah einen jungen Heroismus. In Syrien damals war alles anders; Männer flohen und verhungerten, Frauen und Kinder erlagen den Bomben – beide unheroisch, sinnlos und ohne Bedeutung. Sie sind weder fürs Vaterland, noch für die Union oder für Freiheit gestorben. Das ist tragisch, darüber werden keine Opern erzählen.
Die Situation in der Ukraine präsentiert sich anders. Der dortige Herr Präsident ist derzeit der populärste Politiker in der westlichen Einflusszone. Gewiss ist er darin trainiert und geübt. Er weiss sich zu inszenieren und ist gleichzeitig nahbar, authentisch, menschlich. Er harrt in einem Bunker irgendwo in Kiew – mit einem Playoff-Bart. Wohl sexiest man alive.
Und vermutlich seit drei Wochen ohne Sex; seine Familie ist irgendwo versteckt, in Sicherheit. Er bespielt derweil die Weltbühne ohnegleichen; hat vorm Kongress referiert, wohnt Kundgebungen virtuell bei, postet Selfies und zuweilen auch Ironisches. Es ist die beste Show, weitaus besser als der zweite Irakkrieg damals.
Seine letzte Rede vor dem Europäischen Parlament hat sogar von der Leyen berührt. Alle seinen Reden sind gefühlt epochal, eloquent – und beseelen sogar mich. Gleichzeitig arbeite ich mit ukrainischen Männer zusammen, die neben der gemeinnützigen Arbeit in ihrer Heimat auch faule und fette schweizerische Konzerne trotz Krieg beliefern.
Oder ein anderer Arbeitskollege dient zwar in der Armee, aber während Feuerpausen programmiert er für denselben faulen und fetten schweizerischen Konzern. Ihre Frauen sind allesamt in Sicherheit. Die Mehrheit weilt in Polen. Mehr als drei Millionen sind bereits geflüchtet innerhalb weniger Wochen.
Es ist diesmal kein Auf-verlorenem-Posten-Harren, ohne abgelöst zu werden. Diese Männer sind ergriffen und motiviert. Sie arbeiten, kämpfen und versorgen ihre Familie heroisch. Uns hierzulande überfordert bereits eine Steuererklärung. Wir werweissen über Ferien in Südtirol oder Schwarzwald. Wir klagen über den Benzinpreis und sind schwer betroffen.
Dass wir an der Peripherie unserer Einflusszone erst wieder etwas über Heroismus lernen müssen, ist eigentlich ebenso tragisch. Der Spirit, die Leidenschaft innerhalb der Union schien wie erloschen; alte Männer bedauerten die Bedeutungslosigkeit der Union. Und nun erfrischt eine fernes, doch nahes Völkchen unseren Ideen; es kämpft ganz klassisch.
Sooderso: Die Ukraine wird nie mehr dieselbe sein. Das Selbstbewusstsein, das nunmehr auch Sendungsbewusstsein werden dieser Nation ein beispiellosen Wirtschaftswunder beschaffen. Sie werden vermutlich alsbald Polen überholen und als Tigerstaat innerhalb der Union sich rühmen dürfen.
Der Krieg an sich ist nicht heroisch. Der Krieg ist traurig und tragisch, weil stets Menschen sterben. Es sind keine Kabinettskriege mehr, wo ausschliesslich Soldaten einander bekämpfen. Jeder Krieg ist nunmehr ein totaler Krieg. Manchmal kann man dank Kampfdrohnen aus einem klimatisierten Büro Krieg führen – wie ein bullshit job.
Die Mehrheit der Ukrainer können das nicht. Auch haben sie den Krieg nicht gewollt, nicht provoziert, nicht herbeigesehnt, als Erlösung aller Probleme überhöht. Der Krieg überraschte sie ebenso. Die Ukraine führt keinen Angriffskrieg; sie wollen keine Nationen erschaffen oder Terroristen jagen, sie wollen nichts vergelten.
Dass sie tapfer sich nun verteidigen, schafft das Heroische. Dass die wehrfähigen Männer nicht massenhaft auswandern, sich verstecken oder vorschnell ergeben, bestärkt das Heroische. Dass selbst führende Politiker oder ehemalige Politiker wie des Präsidenten Vorgänger sich anschliessen, bestätigt das Heroische.
Natürlich konsumieren wir auch die ukrainische Propaganda; alle gezielt produzierten Videos und Äusserungen. Auch wir informieren uns notgedrungen bloss einseitig, weil die andere Seite ebenfalls überzeichnet, vermutlich zu offensichtlich und zu arglistig. Hier will sich ja die Weltwoche positionieren, schwadroniert unentwegt von “differenzierenden Fakten”.
Das mag zutreffen. Ich gestehe auch, dass der Heroismus der Ukraine mich infiziert hat. Ich muss mich selber mässigen, dass ich mich nicht zu sehr hineinsteigere, meinem sinnlosen Leben fremden Sinn übertrage. Weil insbesondere ich, ganz unheroisch, ganz sehnsüchtig nach grossen Ideen, wozu zu sterben es sich lohnt, bin sehr empfänglich und empfindlich.
Der Krieg Ukraines ist nicht mein Krieg, leider. Natürlich ereignet er sich an der Peripherie der Union. Doch alleine das ist sehr bemüht, weil die Schweiz ist ja nicht einmal Mitglied der Union. Ich dürfte höchstens mich bestürzt zeigen, ein wenig spenden und Verhandlungen wünschen – mehr darf ich nicht. Das ist meine persönliche Tragödie.
Ich beneide diese ukrainischen Männern. Sie werden gewiss siegen. Eventuell nicht in den nächsten Wochen – aber in den nächsten Jahren. Sie werden irgendwann triumphieren. Ich hoffe, sie können vom Heroismus ein wenig zehren, ihn sublimieren in wirtschaftliche Energie; das Land einen und mittels Finanzhilfen wiederaufbauen.
Für Russland hingegen vermute ich düstere Jahrzehnte. Für Russland ist alles ganz unheroisch und sowieso der Krieg verloren. Auch wenn Kiew besetzt sein wird, auch wenn der Präsident der Ukraine ermordet werden könnte – Russland wird verlieren. Das ist ebenfalls tragisch. Millionen von Menschen werden alsdann noch sinnloser leben.
Sie werden keinen Heroismus erfahren. Sie werden vermutlich weiterhin bloss vom Grossen Vaterländischen Krieg erzählen können; deren letzte Geschichte. Und diese verblasst immer mehr. Sie endet irgendwann als urbane Legende, weil bereits jetzt die Zeitgenossen aussterben.
Hingegen die ukrainische Seele hat genügend Geschichten für zwei Generationen. Das ist sehr beneidenswert. Das kann mobilisieren. Und eventuell könnte das auch auf die Union übergreifen. Aber die Schweiz ist unbeirrt. Die Schweiz ist erzählt. Manche schwärmen von einem paradiesischen Stadtstaat, der mit allen geschäftet. Als Insel der Glückseligen.
Ich kann mich dieser ganz unheroischen Geschichte nicht anschliessen. Ich bin leider auch ein Futurist. Ich liebe Ideen, ich liebe die Auseinandersetzung und die Entscheidung – weil ich sie privat scheue. Ich möchte meinen Alltag kontrastieren, wo ich mich ohnmächtig und unheroisch fühle.
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