Im Berlaymont-Gebäude in Brüssel

Das Berlaymont-Gebäude in Brüssel kann den kleinen und bäuerlichen Schweizer durchaus beeindrucken. Ich weilte bislang bloss in den Zentralen grosser Unternehmen. Das sind funktionale Bauten, aber ohne jegliche Symbolik und Pathos. Die Bedeutung des Unternehmens misst sich an der Ausstattung dieser Bauten.

Ein prosperierendes oder ehemals prosperierendes Unternehmen muss einen repräsentativen Hauptsitz im Zentrum einer Grossstadt besitzen. Dieser Hauptsitz soll den Mitarbeitenden primär, Kunden wie Lieferanten sekundär die Grösse des Unternehmens veranschaulichen. Es ist eine Architektur eines unterschwelligen Imposantismus’.

Das Berlaymont-Gebäude verzichtet hingegen auf explizite Merkmale der Angeberei. Die künstlichen Säulen sind nicht marmorn. Der Boden spiegelt sich nicht. Überteuerte Kunst ziert keine Wände. Das Berlaymont-Gebäude ist unaufgeregt. Es ist bescheiden, aber weitläufig im Geiste und eine sinnliche Erfahrung für den Besucher. Vor allem als kleiner und bäuerlicher Schweizer.

Das Berlaymont-Gebäude ähnelt im Grundriss einem geschwungenen Kreuz. Das erschwert die Orientierung. Hier residiert die Exekutive der EU, der grössten Volkswirtschaft der Welt und das wichtigste Projekt des Westens, weit vor anderen Vorhaben wie CERN, ISS, UNO oder NATO. Hier konzentriert sich die kryptische Macht Europas.

Das Berlaymont-Gebäude ist wie ein Flughafen gesichert. Es ist eine kleine Welt, die kosmopolitischer wohl bloss noch am UNO-Hauptsitz sein kann. Alle Nationen sind anteilig ihrer Bevölkerung vertreten. Alle Nationen entsenden ihre hellsten Köpfe, ihre schönsten Männer und Frauen. Es sind Abgänger typischer Universitäten, der besten Schulen Europas.

Das Berlaymont-Gebäude regiert Europa. Doch es ist keine gewöhnliche Regierung. Hier muss man nicht mit einer Nation protzen. Hier muss man kein Volk beeindrucken, keine Massen besänftigen. Vielmehr ist es eine Spezialisten-Regierung. Man verunglimpft die EU gerne als Technokratie. Ich meine, anders könnte man die EU nicht regieren.

Die Menschen hier sind allesamt mindestens zweisprachig. Alle Pressekonferenzen werden zwar simultan in zwei Sprachen übersetzt, aber von den Journalisten beanspruchen gerade einmal fünf Prozent das Angebot. Die Journalisten stammen ebenfalls aus allen Nationen Europas Welt. Es soll auch ein Journalist aus Kasachstan sich tummeln, ein Exot.

Der Pressedienst ist gut organisiert. Überhaupt ist das europäische Organisationsgeschick bewundernswert, wenn man das politische Chaos Belgiens gegenüberstellt. Ich glaube, im Berlaymont-Gebäude geschieht nichts zufällig oder Zufälliges. Das ist eine perfekt abgestimmte Maschine, die seit Jahrzehnten erprobt ist und sich bewährt hat.

Hier arbeitet man nicht für acht Millionen verfettete Schweizer, die gerne sich isolieren und besserwisserisch die Aussenwelt verurteilen. Hier arbeitet man auch nicht für achtzig Millionen herausgeforderte Deutsche, die allmählich wieder ein Selbstwertgefühl empfinden. Hier arbeitet man für fünfhundert Millionen Europäer. Für etwas Grösseres.

Vermutlich für das Ganzgrosse. Die EU garantiert seit sechzig Jahren Menschenrechte, Friede und Wohlstand innerhalb der Grenzen. Es ist eine beispiellose Epoche seither. Es ist das komplexeste soziale System, das die Menschheit geschaffen hat bislang. Als Laie versteht man die Abläufe, die Rollen und Finessen nicht.

Das Standardwerk, das die EU erklärt, umfasst ungefähr fünfhundert Seiten. Populisten kritisieren die EU deshalb als volksfremd. Die EU ist aber keine Institution eines Volkes, sondern einer Idee, die weitaus mächtiger ist. Ein Volk ist stets künstlich begriffen, künstlich abgegrenzt, es ist eine vermeintliche “Ethnie”. Eine Idee ist aber übergreifend.

Eine Idee kann alle Menschen anfeuern. Die Idee der EU fasziniert weiterhin, trotz Kritik in allen Nationen, trotz Brexit, trotz Trump. Die EU ist das wahre Gegenmodell zu Trump und den digitalen Diktaturen wie China oder den Gewaltherrschern wie Putin oder Erdogan. Sie ist die letzte Idee des Westens.

Im Berlaymont-Gebäude spürt man diese Idee. Die Menschen, die hier arbeiten, sind von der Idee eines vereinigten Europas überzeugt. Das im Gegensatz zu den Parlamentariern im Espace Léopold, wo nach krummen Regeln das Europäische Parlament tagt und Euro-Skeptiker und Rechtsradikale einander freundlich grüssen.

Ich bin sehr dankbar, konnte ich zumindest einen Moment in diesem Gebäude wirken und einige Persönlichkeiten kennenlernen, die jenseits meiner Kategorien für Exzellenz sind. Das hat mich berauscht und meinen Glaube an der Idee der EU bekräftigt. Ich bin dankbar, dass ich als Schweizer einmal Teil etwas Grösserem sein durfte.


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