Month April 2017

Die Geschichte unseres Freundes B.

Es fällt mir manchmal alles so einfach, es fällt mir alles in die Hand. Ich fühle mich wie ein Hochstapler. Mir gefallen Hochstapler. Mir gefallen Aufstiegsgeschichten. Ich möchte die Geschichte weiterschreiben. Ich möchte aber nicht meine eigene missbrauchen, mein Leben zum Katz inszenieren, mein Umfeld damit verletzen.

Also möchte ich die Geschichte eines Sohnes meiner Heimatstadt erzählen. B. wuchs an der Ziegelfeldstrasse auf. Damals eine vielbefahrene, stickige und lärmende Kantonsstrasse. Der ferne Kanton verantwortete den Unterhalt. Doch der klamme Kanton musste gerade seine Kantonalbank an den Bankverein verschachern. Er musste dringendst Liquidität sichern.

Unser Freund B. besuchte die Primarschule im Bannfeld. Er hat sich sozial integriert, spielte Caps, konnte mitm Ball einigermassen jonglieren, konnte aufm Gerobaum 3 neben den blauen Matten die erste Schwierigkeitsstufe erklimmen. Im Stafettenlauf konnte man sich auf ihn verlassen. Er dominierte aber nicht alle Disziplinen; er konnte zweckmässig sich einreihen.

Während den kleinen Pausen spielten die Buben Rondo, die Mädchen versteckten sich am Weiher und tratschten. Eines Tages verspätete sich B.. Vermutlich war er erkrankt. Auch nach zwei Wochen fehlte B.; sein Meerschweinchen wäre längst verhungert, sein Absenzenheft längst gefüllt. B. war verschwunden.

Noch ein Woche später salutierte der Schulpsychologe R., der Mann fürs Grobe. Wenn Kinder sterben, untertauchen oder weggeschafft werden, durfte R. die Geschichten verpacken, versüssen und als Stellvertreter den Bannfeldern vermitteln. R. war angespannt, R. hatte seinen Notizblock geöffnet. R. trug langes, aber bereits ergrautes Haar, das er locker zum Schwanz zusammenband.

In der Freizeit penetrierte R. die Klassenlehrerin der 2A. Manchmal küsste R. sie leidenschaftlich im Klassenzimmer. Die Mädchen am Weiher konnten die spontane Intimität beobachten; vermutlich hat sie das Ereignis vergrault. Seitdem kultivierten sie eine Keuschheit, die erst der sanfte Drogenkonsum mit 16 in Frohheims Veloparkplätzen sprengte.

Der gewohnt nervöse Schulpsychologe R. verliebte sich in Palavern, in Unschärfe, bis endlich er nach gefühlt dreissig Minuten verkünden durfte, dass der Kollege B. vorläufig ausfalle. Der Kollege B sei verunfallt, tragisch verunfallt. Doch niemand müsse sich sorgen, B. werde genesen und bald dem Unterricht teilnehmen.

Kein Thema, denn bislang war B. nicht aufgefallen. Sein Leben schien bislang unspektakulär. Eine solide Mittelklasse, weder zu gut noch zu schlecht, weder zu beliebt noch zu unbeliebt. Ein Kind ohne Eigenschaften. Wie so oft im angepassten Mittelland, einer Gegend ohne Identität, bloss die Aare, die Jurasüdfusslinie und die A1 sowie A2 verbinden.

Doch der Unfall erweckte B. Das war sein Erlebnis. Denn seitdem hat er sich geschworen, dass er nicht in Mittelmässigkeit fristen werde. Er werde sich niemals mit einer gewöhnlichen Anstellung begnügen. Er werde immer nach Höherem, Weiterem und Schnellerem streben. Er werde niemals bremsen, er werde sich ganz der Beschleunigung hingeben.

Damit war ein gewisser Futurist entschlossen, sein noch unschuldiges und junges Leben komplett zu verändern. Seine Herkunft, seine Abstammung jedoch verweigerten das sorglose Leben; ein Leben in einer Bildungsbürgerblase. Wo man mittags über Manieren feilscht, abends über den zweiten Bildungsweg der Altersgenossen schnippt.

Der Intellekt war unschuldig, die Prinzipien der schweizerischen Leistungsgesellschaft, die keine Schöngeisterei toleriert, höchstens als Dandy und als Erbreich, waren noch nicht durchgedrungen. Die Eltern sprachen nicht einmal Hochdeutsch, sie waren kürzlich eingewandert, Ausländer niederen Ranges, rechtlich den deutschen Fachkräften gleichgestellt.

Überdies waren sie schwarz. Damit waren sie ohnehin stigmatisiert. Nicht unbedingt an der Ziegelfeldstrasse, dort waren sie eine schweigende Mehrheit. Doch im Kontext der schweizerischen Leistungsgesellschaft waren Schwarze seltene Gäste. Es sei denn, sie parkierten Blutmillionen auf Nummernkonten der Bankgesellschaft.

In den USA verkündete der eine Bill den zweiten Haushaltsüberschuss, der andere Bill revolutionierte die damals sogenannte old economy. Apple musste gerettet werden. Die jüngsten Rassenunruhen waren in den prosperierenden Endneunziger wieder vergessen und in der allgemeinen Millenniumseuphorie übertüncht.

In diesem Kontext wollte B. sein Leben reformieren. Nach einem halben Jahr kehrte B. zurück. Wieder zurück. Er humpelte noch, doch innerhalb eines Jahres war er komplett wiederhergestellt. Die Narben zeugten zwar noch von einem Schicksalsschlag, doch sie waren bloss den Eingeweihten und Suchenden sichtbar. Der erste Sieg.

Sobald Menschen die Vergänglichkeit ihres Seins zu spüren bekommen, sobald sie bemerken, dass sie begrenzt sind, sobald sie ihr Potential endlich einordnen können, sobald sie begreifen können, dass die Schweiz sozial sehr durchlässig, sehr flüssig ist, dass Herkunft, Hautfarbe einen nicht stoppen können, dann werden sie entfesselt.

Unser Freund B. schien seitdem wie entfesselt. Rasch steigerte er seinen Notendurchschnitt. Die gewohnt entspannten Klassenbesten mussten sich plötzlich sorgen. Sie liessen den Aufsteiger aufm Nachhauseweg einschüchtern. Sie bannten ihn aus dem Klub der angesagten Kinder. Er war nun unheimlich geworden. Weil er beanspruchte Chancengleichheit.

Das überraschte in der Tat seine Zeitgenossen. Die ersten näherten sich an, sie verbrüderten sich. Leidgenossen. Sie vereinigten sich, um anderen zu schaden. Sie wollten Aufmerksamkeitskartelle bilden. Sie wollten sich verständigen, sicher fühlen, sie wollten einen Heimathafen für ihre Operationen. Wir alle brauchen Freunde.

Unser B. hat sich nun Freunde klug ausgesucht. Er hat sich gezielt zwischen Freundschaften gestellt. Er hat Gefälligkeiten ausgetauscht, er hat anfänglich gewiss mehr spendiert, doch später dezent seine Ansprüche eingefordert. Er hat stets kalkuliert; kein Grüssen war mehr zufällig, kein Geschenk unbedeutend oder unpersönlich. Alles war eingeplant.

Damit verlieren menschliche Beziehungen ihre Unschuld. Sie werden beliebig, weil verhandelbar. Sie werden in letzter Konsequenz durch Geld ersetzt. Doch wir sind ohnehin alle verhandelbar; wir alle können spontan einen Preis nennen, der uns befeuert, der uns unsere Mütter töten lässt. B. kannte den Preis seiner Mutter gut und erhöhte ihn jährlich.

Nach einigen Jahren war abgesichert. Er hat sich mit einigen einflussreichen Persönlichkeiten vernetzt. Der eine mauserte sich zum erfolgreichen Jazzmusiker, der die grossen Bühnen der grossen Städten bespielte. Der andere zum lokalen Anwalt für Arbeitsrecht. Eine andere Investition war ein respektierter Kantonspolitiker.

Er arbeitete hart, er finanzierte sich selber eine Matura. Er startete ein Hochschulstudium, das er erfolgreich absolvierte. Er bezeichnete den Zürcher Kreis 1 zeitlang als seinen primären Wohnsitz. Er kleidete sich wie die jungen Schnösels Münchens oder Hamburgs. Er verfeinerte den Stil mit dem dezenten Zürcher Schick, der erst für Eingeweihte auffällt.

Er bereiste Südafrika, Israel und die Westküste so wie als eine gesamte Generation tat. Er inszenierte sich weltgewandt, weil er die neuesten Cocktails aus den lokalen Reiseführern rezitieren konnte. Weil er übers Essen und Wetter parlieren konnte. Er war Schwiegermutters Traum, auch gerade wegen seiner ungewohnten Hautfarbe.

Doch in den Endzwanziger harzte seine Karriere. Die meisten Menschen konsolidieren in den Endzwanziger ihre Beziehungen, ihre sozialen Kreise. Danach bilden sie bloss noch Zweckgemeinschaften wie Ehe, Nachbarschaft oder Kindesbekanntschaften. Die Menschen fokussieren sich auf einen primären Kreis, ersten Kreis.

Unser Freund B. hat aber seinen primären Kreis versäumt. Er hatte komplizierte Tauschbeziehungen gestrickt. Doch diese verursachten einen unökonomisch hohen Aufwand. Die Ertragsseite war immer schmäler geworden. Der Prozess war schleichend, doch plötzlich war der soziale Bankrott nicht mehr abzuwenden. Er hatte sein Sozialkapital verspielt.

Gewiss grüsste man noch in Oltens Lokalen. Man kannte sich schliesslich. Wenn man nicht gerade den lokalen grossen Boss beleidigt, kann man entspannt tanzen, trinken, sich vergnügen und Mädchen fingern. In Zürich, der zeitlang primäre Wohnsitz, konnte er sich nicht durchsetzen. Die grosse Konkurrenz konnte er nicht in der Jugend einlullen und verketten.

Dort konnte seine Beziehungsmasche sich nicht verfangen. Er fütterte seinen Zürcher Status bloss mit Oltner Nachschub, Zuzügler. Als dieser endete, verflüchtigte sich sein dortiger sozialer Stand. Gewisse Arbeitskollegen konnte er mit Gefälligkeiten über einige Monate retten. Ein letzter Auftrag eines Oltners finanzierte ihn noch für einige Monate.

Irgendwann konnte er nicht mehr überleben. Er hätte sich zwar anstellen lassen können. Er hätte sich in einem Konzern verdingen lassen können. Doch das war nicht mehr genehm. Er suchte die Herausforderung der Gründerszene. Nicht der Alltag. Sondern das Prestige. Nicht das Prestige einer UBS. Nein, das Prestige eines Startups.

Also war er erneut entschlossen. Er war entschlossen zu glauben, dass die Schweiz ihn beenge und einschränke. Also auf nach Berlin. In die wirklich grosse deutschsprachige Stadt. Wo everything goes, wo man neue soziale Netzwerke gründen kann. Wo man wirklich noch etwas bewegen kann. Wo alle bisherigen Beziehungen vergessen kann. Wo man neustarten kann.

Was geht mit Frankreich?

Frankreich wählt. Ich gestehe, ich habe das Land nicht gross bereist. Ich bin kaum auskunftsfähig. Ich könnte über den Stadt-Land-Konflikt schwadronieren, ich könnte das Charisma der Tat beschwören, ich könnte irgendwas ausm Archiv buddeln und mit Frankreich vermengen. Ich könnte Paris der Dekadenz bezichtigen. Ich könnte.

R. war kürzlich dort. Dessen Lebensgefährtin stammt aus der Bretagne, eine für mich fremde Gegend; davon ist der Atlantikwall eine dumpfe Ahnung, angrenzend soll auch Mont Saint-Michel überragen, vermutlich eine begehrliche Trouvaille dort. Ich verstehe Frankreich nicht. Ich habe die Sprache verlernt. R. beginnt sie zu beherrschen.

Ich verstehe aber, wenn die Menschen protestieren, wenn sie Widerstand leisten. Sie kompensieren das grosse Unbehagen mit der Kultur. Wir erleben eine Politik der Zeichen. Seit einigen Jahren ist sie offensichtlicher geworden; die toten französischen Philosophen können posthum doch noch triumphieren.

Doch Frankreich hat weitaus grössere Probleme als das schlichte und allgemeine Unbehagen, das derzeit viele Menschen irritiert und ergreift. Frankreich ist meines Erachtens degeneriert, verklemmt und hat zu viel in Elitenförderung investiert; zu viele staatliche Akademien und Hochschulen; eine zu fette Kulturindustrie.

Doch zu wenig Fachschulen, zu wenig Risikokapital, zu wenig flexibilisierte Arbeitsmärkte, zu wenig schlanke Prozesse und Organisationen. Irgendwie ist alles vermodert. So jedenfalls poltern wir am Stammtisch. Das sind für uns die Welschen. Wir attestieren ihnen mangelnde Sekundärtugenden. Dass Frankreich bald einen Schlächterin bestimmt, überrascht also nicht. 

Die Platzvisite

An öffentlichen Plätzen ist das menschliche Leben verdichtet. Eine Platzvisite. Man beäugt. Mädchen hüpfen mit dem linken Bein, balancieren der frisch gekreideten Linie entlang. Sie lachen, verlieren das Gleichgewicht; kreischen. Die Müttern nebenan beobachten zufrieden das Treiben, scrollen durch Facebook; kontrollieren.

Ich fühle mich wie ein Altherr. Ich beneide das unbeschwerte Leben. Das unentwegte Schaustellen-Schauspielern. Die Menschen und insbesondere die menschliche Jugend erwachen, bevölkern rasch die öffentliche Plätze. Sie kleiden sich luftig-leicht. Sie kosten den frühen Abend, die angenehme Wärme, die frische Entdeckungslust.

Mein Leben dagegen verhärtet sich, stagniert, ist voller Schwere, ist beengt, erdrückend. Kleine Momente befeuern mich, sie beleben und erfrischen. Es sind wenige Momente, die ich stets vermisse, die mich aber wieder motivieren und eben antreiben. Aber im Grundsatz bin ich verabschiedet, bin blosser Beobachter, ohne Netz.

Ich kann nachempfinden, wie alle Menschen in grossen Städten den Frühling verabscheuen. Männer verlieren Haare, ergrauen, ihre Glieder schrumpfen, ihre Haut verrostet, ihre Augen werden ausdrucksloser, leerer; sie erblinden ob der Jugend, sie verbittern. Die Frauen fürchten die Konkurrenz; diese jungen, aufreizenden, graziösen Geschöpfe.

Sie, die unschuldige Konkurrenz, verderben den gutgemeinten Familiensonntag. Die kurzgemeinte Platzvisite; sie entzweit Paare, sie vergiftet Beziehungen. Sie nämlich postiert einen Benchmark, den ultimativen Referenzpunkt des vorgetäuschten, vorgeheuchelten Glücks, das alle Öffentlichkeit zu erdulden hat.

Die Platzvisite erinnert der eigenen Vergänglichkeit. Man kann sich aber irgendwo verkriechen, der Welt sich verabschieden und fristen; man kann warten und vergessen, gelegentlich arbeiten, einkaufen, an Randzeiten sich nicht gross aufdrängen. In schummrigen Bars sich bemüssigen. Warten mit seinesgleichen. Ohne Platzvisite.

Doch in offenen Gesellschaften wie der unsrigen, die ausserordentlich kompetitiv sind, ist es unerlässlich, dass wir uns messen, vergleichen, hin und wieder anspornen, um schliesslich uns gegenseitig zu übertreffen; grössere Vorräte zu hamstern oder schönere Frauen zu begatten. Wir können nicht uns verstecken.

Deswegen ist jede Platzvisite stets auch eine Stählung der eigenen Wettbewerbskraft. Ein Auseinandersetzen. Eine Zeremonie, die Identität und vielmehr wieder Sinn auflädt; durch Annäherung bei gleichzeitiger Abgrenzung. Man ist nah, dennoch fern, ist mokiert zuweilen, empört oder fühlt testen Empfindens sich sicher.

So fühle ich mich.

Freilich verschuldet

Egal, was ich tue, ich provoziere. Ich kann niemanden befriedigen, ich kann niemanden beglücken. Ich kann keine Transformation erwirken. Ich kann nichts. Man sollte Absichten statt Taten verurteilen. Aber ich werde für beides bestraft; für meine guten Absichten und schlechten Taten, die daraus resultieren.

Gewiss bin ich nicht verantwortungslos. Ich kann mich weder freikaufen noch lossprechen. Alles, was ich tue, beeinflusst und verändert. Menschen und vor allem deren Interaktionen sind unberechenbar. Diese begrenzbare Variabilität entschuldigt und rechtfertigt keine Sorglosigkeit, Achtlosigkeit. Sie erklärt allenfalls.

Ich zweifle, wie frei ich überhaupt agiere. Ich fühle mich zuweilen ausgeliefert. Ich kann zuweilen nicht klar und vernünftig denken; ich reagiere lediglich. Das Konzept eines übermächtigen freien Willen, der über alles thront und wacht, alle unsere Entscheidungen orchestriert, davon habe ich mich längst entfremdet.

Dummerweise fusst darauf unser liberales Gesellschaftsmodell, dass jedermann frei entscheiden und wählen darf, wie er das Leben verwirklicht. Ohne dieses “Axiom” müssten wir unsere Gesellschaft remodellieren. Das will niemand, weil das würde eine lange, weil zähe Aushandlung verursachen, ohne Hoffnung auf Einigung.

Wieder auf meine Situation übersetzt, muss ich mich immer verantworten können. Jederzeit. Auch für Taten, die ich noch nicht verübt habe. Für Gedanken. Für meinen Witz, für alle Äusserungen; für besoffene oder nüchterne. Oder für alle gutgemeinten Vorschläge, Ideen oder auch durchgesetzte Massnahmen. Für alles.

Das lastet schwer. Ich wünsche mir zuweilen eine Amnestie. Gott bürgte früher. Kein Gott mildert das Strafmass. Auch kein Gott tröstet, wenn man gross zweifelt und sich einfach schuldig fühlt. Mein Fall ist nicht besonders, ich habe nicht besonders mehr zu verschulden als meine Mitmenschen. Dennoch fühlt alles sich so schwer an.

Weswegen? Womit kann man sich erleichtern? Alkohol hilft nicht, ich habe es getestet, vergebens natürlich. Darüber zu reden auch nicht, denn das verschiebt die Last bloss; ich verlagere sie auf meinen Gesprächspartner und tue so, als ob ich sie bewältigt habe. Schreiben vertagt die Last nur. Was also? Zeit?

Selbstverletzung

Ich verletze mich selber. Damit will ich nicht spüren, dass ich noch lebe. Damit will ich mich begrenzen. Damit will ich testen, Thesen testen. Grundsätzlich kann man das machen. Denn ich verurteile nicht, wenn andere sich selber verletzen. Aber fertig lustig, sobald ich meinem Umfeld schade. Beruflich wie privat, grundsätzlich.

Ich habe meine eigenen Grenzen erkundet. Ich habe sie überschritten. Ich habe mich verletzt, ich habe mich gespürt. Ich habe experimentiert, posaunt; zuweilen bin ich ausgeartet. Ich habe stets Menschen mitgerissen, mitgeschleift; berührt oder entstellt. Ich war auf mich selber fokussiert; ich ignorierte mein Umfeld, ich blockierte.

Gewiss ist man in Retrospektive immer klüger. Allerdings verheile ich nicht. Manche Experimente habe ich überstrapaziert. Und manche Mitmenschen habe ich ausgeblendet. Ich möchte dieses Verhalten nicht mehr wiederholen. Denn wer sich selber verletzt, verletzt immer andere. Es sei denn, er lebt isoliert, entkoppelt und alleine.

Doch das war ich nie. Ich lebe auch heute in sozialen Systemen. Ich bin stets vernetzt; alle meine Handlungen beeinflussen meine Mitmenschen. Diesen Einfluss kann ich nie abschätzen. Ein Wort, eine Aussage, eine Tat können verändern, können Gefühle provozieren. Manche Kollegen empöre ich.

Ich rase unaufhaltsam, bremse mit meinen Schuhen vergebens, will nicht wenden oder ausweichen; ich beschleunige. Kollegen entsetzen, versuchen mich zu beschwichtigen, ich solle mich beruhigen, ich solle mein Potential nicht vergeuden, mich nicht verausgaben, ich solle doch mich mässigen. Aber meistens vergebens.

Schlussendlich verletze ich alle; mich und mein Umfeld, das meinetwegen sich ekeln muss. Sie können nicht verstehen, weil nicht einmal ich verstehe, weswegen ich mein Glück so herausfordere. Weswegen ich niemals ruhen und mich begnügen kann. Ich entschuldige mich hiermit für alles, was ich tat.

In der Zwischenzeit versuche ich, mein Verhalten in kleinen Schritten zu ändern. Meine Amokfahrt irgendwie zu beenden. Vor allem auch beruflich. Denn ich bin momentan nicht ausgeglichen, ich bin zu sehr angespannt. Ich könnte jederzeit scheitern und alles verlieren. Es bleibt spannend.

 

Das Kleinstadt-Wunder

Die Kleinstadt ist unbestellt. Du kannst rascher wirken und bewegen. Das fasziniert. Du kannst problemlos Banden knüpfen. Du kannst schneller beeinflussen. Du kannst dich arrangieren, gemütlich einrichten, deinen Alltag ritualisieren. Du kannst die Komplexität begrenzen, du kannst deine Managementkapazitäten schonen.

In einer grösseren Stadt hingegen bist du weitaus mehr herausgefordert. Du hast keinen sicheren Hafen, du hast kein Netzwerk. Vielmehr bist du alleine, du kannst nirgends zurückfallen, du kannst nirgends dich beruhigen und entspannen. Du bist angespannt, musst liefern, musst dich beweisen, etablieren; immer wieder erfinden.

Oder man vergrössert sein Netz, lebt im Quartier, im Viertel, im Kiez und in den Bars. Man vertraut nur gewissen Lokalen, einer Szene, einem gewissen Umfeld, das sich meistens aus Arbeitskollegen rekrutiert. Man verabredet sich eventuell auch mit Ausländer, mit Grenzgänger, mit Wochenaufenthalter. Mit den heutigen Wanderarbeitern.

Ich habe mich immer in der Kleinstadt orientiert. Das war mein Referenzwert. Olten ist gewiss einzigartig. Wir haben sogar Kultur, wir haben eine Szene, die sich engagiert. Ich kenne alle Aktiven persönlich. Ich könnte über jede Person informieren. Ich selber bin auch einigermassen bekannt, schliesslich habe ich gelebt.

Und nun wohne ich in einer grösseren Stadt, 170’000 gegen 17’000 Einwohner. Ich kenne knapp zehn Personen von 170’000, dagegen 400 von 17’000. Durchaus ein Kontrast. Ich bin noch nicht zu alt, um neue Menschen kennenzulernen. Doch alle in meinem Alter haben bereits Mühe, ihre bisherige Freunde zu pflegen. Jetzt komme ich.

Niemand erwartet mich, ich kann die Stadt nicht bereichern. Ich kann nicht aktiv mitgestalten; die Stadt ist bereits verbaut. Die Menschen sind bereits in ihren Szenen gruppiert. Sie kennen sich ebenfalls seit Jahrzehnten. Man kann zwar mit neuen Bekanntschaften ausgehen, trinken und essen.

Das verstimmt mich gelegentlich. Ich trauere Olten nach. Ich vermisse die Menschen. Doch fühle ich mich meiner neuen Heimat gross verpflichtet. Ich möchte meine neue Heimat erkunden. Und das tue ich bereits. Ich möchte mich in Basel betrinken. Ich möchte meine Freunde in Basel empfangen. Am Rhein, in den Bars, zuhause. Kommt.

Das Beziehungs-Testen

Wir messen nicht bloss Beziehungen; wir testen sie auch. Wir operieren immer mit einigen Annahmen. Diese bilden unser Verhalten. Wenn wir uns beispielsweise einbilden, wir werden nicht geliebt, dann testen wir unsere Beziehung explizit darauf. Wir provozieren mit Aussagen und erwarten darauf bestimmte Reaktionen.

Wir formulieren Testfälle mit Akzeptanzkriterien. Diese sammeln wir in Testsets, die wir beispielsweise am Beziehungssonntag durchackern. Solange, bis das Testergebnis unseren Erwartungen entspricht. Denn unsere Grundannahme hat uns längst einvernommen; wir können gar nicht mehr abweichen, und wenn würden Abweichung bloss bestätigen.

Der Liebst-du-mich-noch-Test kann sowohl in der Start- wie auch in einer unbewusst längst eingetretenen Endphase einer Beziehung praktiziert werden. In der Sexualität unterlässt man den ersten Schritt. Man zählt die Wochen, bis der Partner eine Initiative ergreift. Ein gefühlter Wert begrenzt die Toleranz; ist er überschreiten, ist die Liebe vergangen.

Diese Tests mögen zwar rasch und einfach angewendet werden, sind aber schwierig zu vergleichen. Die Testergebnisse können nicht reproduziert werden, da der Mensch nicht wie eine Maschine immer wieder deterministisch reagiert. Vermutlich mag man einen solchen Test auch nicht wiederholen. Vermutlich beendet man die Beziehung vorher. Auch gut.

Auch ich teste. Ich ermittle damit einen Beziehungsindex, den ich bisherigen Beziehungen gegenüberstelle. Werde ich mehr geliebt oder weniger? Wie absolut oder wie engagiert respektive verpflichtet ist die Liebe? Man kann eine Wissenschaft entdecken, wie man eine Beziehung bewertet; eine Menschenleben darin investieren.

Doch das alles überzeugt mich nicht. Ich muss mich zuweilen selber überführen, wenn ich irgendwelche Testfälle definiere, die überhaupt nicht reproduzierbar sind. Testfälle für Situationen entwerfe, die überhaupt nicht testbar sind. Und mich in eine Scheinsicherheit verlasse, die ich zutiefst verabscheue.

Was empfehle ich? Wir müssen bloss und mehr spüren. Beieinander nahe sein und empfinden, nicht bloss Geschlechtsverkehr ausüben. Nicht nur, aber sicherlich auch. Einfach nahe sein, näher sein und durchatmen. Oder bloss an einem Tisch sitzen; seine Beziehung beobachten und anlächeln. Einfach dasein. Achtsam sein. Und dann fühlen.