So wie das Land so die Kultur. Ein gewisser Christian Jungen beschwert in der letzten NZZ am Sonntag sich, dass unsere Kultur ihn langweile und dass bloss noch ein gewisser Lukas Bärfuss ihn kitzle. Sie ahnen aber nicht, was sich abseits aufbraut.
Ich schrieb im 2008 im ensuite eine miserable Abhandlung über den zeitgenössischen Künstler in den grossen Städten. Ich formulierte hochmütig Sätze wie:
Ein gesunder Künstler ist so krank wie ein verheirateter Philosoph.
Mit diesem Artikel «verarbeitete» ich L. Aufnahme in die Kunstschule. Ich war damals sehr enttäuscht. Denn er verkörperte der ideale Künstler. Suizidal, versoffen, selbstzweifelnd, eigenbrötlerisch, asozial. Ich wollte die Szene nicht vergessen, als er sich einmal in mein Zimmer schlich, mit einem Messer bewaffnet und mich in grösster Desperation bat, dass ich ihn als Freund aufschlitzen solle. Ich hab’s erwartungsgemäss nicht getan. Wir flüchteten uns in die nächste Nacktbar, kauften uns zuvor noch eine Flasche Wodka und Martini. Und versoffen dann alles.
Ich hatte mit L. damals ein Projekt, um den Amoklauf zu beschreiben. Ich bin heute noch von Amokläufen fasziniert. Was ist der Trigger, was ist der Moment, der einen Amoklauf auslöst? Ein Kollege T., zeitweise Mitbewohner, äusserte mehrfach den Wunsch, nach seinem Abschluss einen Amoklauf durchzusetzen. Doch zunächst würde er seinen allgemeinen Entzug brechen; Nutten ficken, sich vollsaufen und dann so viele Drogen wie möglich konsumieren. Es war seine Art, sich zu verabschieden. Er hat sich mittlerweile anders verabschiedet und ist verständlicherweise weggesperrt worden. Er lebt weiterhin in Askese und ist fern dieser Welt.
Ich mag bis heute keine Cüpli-Künstler. Das sind für mich bessere Hipster. Ich mag eher die engagierten Künstler, die zum Beispiel hier in Olten urbane Gärten kultivieren, Feste veranstalten und auf Facebook gegen die «Gentrifizierung» in Olten ankämpfen. Ich kenne die Akteure fast allesamt persönlich, habe aber aus persönlichen Gründen keinen Kontakt mehr, weil ich mich damals für ein bürgerliches Leben «entschieden» habe. Dann lieber solche Künstler. Doch letztlich sehne ich mich weiterhin nach dem teuflischen Künstler.
Solche Kunst ist, um meinen uralten und beschissenen Artikel zu zitieren, «kühl-kalt einerseits, glühend-impulsiv anderseits». Bloss, um weiter zu kopieren, «unbequeme, weltscheue, nur beschränkt gesellschaftstaugliche Autisten» vermögen sie zu produzieren. Ein solches Leben ist gewiss ungesund; man darf auch früher sterben. Einen Künstler seinen Lebensabend mit einer Monika im Norden Italiens fristend? Das ist irgendwie verstörend.
Ich werde die schweizerische Kultur nicht «retten» oder so. Aber ich werde sie demnächst aufrütteln und Schicksale zusammenfassen und Geschichten erzählen. Heute feiern wir irgendwie den Nationalfeiertag. Aber ich möchte nicht, ich möchte kotzen. Natürlich bin ich dankbar, dankbar für die Ausbildung, dankbar für meinen Job oder so, dankbar für die Sicherheit und politische Stabilität, dankbar, dass man mich nicht wegsperrt, obwohl man sicherlich genügend Gründe finden könnte. Und so weiter. Aber ich habe so ein starkes Unbehagen mit mir, mit der Welt, mit allem. Ich habe mich in dieser Hinsicht nicht gebessert.
Denn für mich ist’s weiterhin unerträglich, dass wir voll reich sind, andere aber hungern dürfen, über unsere Zäune krabbeln, um dann weggewiesen zu werden. Und dass wir die grossen Fragen und Probleme unserer Zeit nicht beantworten können, weil wir beschäftigt sind, gut auszusehen, einen guten Eindruck zu hinterlassen, mehr Kohle zu schaufeln und irgendwie eine Liebe des Lebens zu finden. Wir sind alle so beschäftigt, dass wir uns gar nicht beschäftigen können und wollen, was ringsherum passiert. Wir erlauben uns den totalen Eskapismus, weil wir ja zum Bruttosozialprodukt beitragen. Das entschuldigt alles.
Eventuell werde ich mich heute wieder betrinken und mich an teuflische Künstler erinnern.