Sie nennen es Arbeit

Im Herbst 2006, gefühlt eine Ewigkeit her, erschien das nette Büchlein “Wir nennen es Arbeit” ausm Umfeld der Zentrale-Intelligenz Agentur Berlins. Das Büchlein hat sich bis nach Olten verirrt, sicherlich auch nach Langenthal, Zofingen oder Aarau, aber bestimmt nicht nach Solothurn. 

Darin werden die prekären Verhältnisse digitaler Nomaden glorifiziert, die tagsüber in den restaurierten Cafes der grossen Stadt hängen. In Basel beispielsweise das Frühling, in Bern das Effinger, in Zürich vielmehr das Auer. Es sind Unternehmensberater, Coaches, Marketing-Spezialisten, Agentur-Fritzen, die im Cafe und auf LinkedIn überpräsent sind.

Wer in einem Cafe sitzt und es Arbeit nennt, möchte bloss seine Erfolglosigkeit verbergen. Wer nämlich wirklich erfolgreich ist, residiert am Aeschenplatz oder am Paradeplatz, hat eine angemessen attraktive Sekretärin und muss nicht durch die Cafes der grossen Stadt schleichen und im Cafe wie auf die LinkedIn Beschäftigung simulieren.

Ich bin ebenfalls mässig erfolgreich. Ich gehe bloss ins Cafe, weil ich mir keine angemessen attraktive Sekretärin leisten kann. Denn im Cafe trinken die hübschen Mädchen der grossen Stadt Cafe und wirken beschäftigt, innovativ, kreativ und freigeistig. Das macht mich irgendwie an, lenkt mich aber gleichzeitig ab. Und drum bleibe ich mässig erfolgreich. 

Noch mehr über meine Branche

Ich möchte nicht bloss über Einzelschicksale meiner Branche berichten. Ich möchte auch das Absurde hervorheben, das meine Branche kultiviert. Ebenso möchte ich sogenannte Bullshit-Jobs demaskieren, die, umso sie sinnloser, desto besser bezahlter sie sind. Das ist vor allem eine Ohrfeige für jene, die tatsächlich sinnvoll, aber unterbezahlt schuften. 

Ich mag meine Branche nicht sonderlich. Ich experimentiere bloss, wie lange so ein Typ wie ich darin überleben kann, ohne aufzufallen oder abgeschossen zu werden. Bekanntlich harre ich bereits seit knapp acht Jahren in dieser Branche. Ich habe meinen würdigen Absprung ins mittlere Management eines SMI-Konzerns ohnehin verpasst. 

In diesen acht Jahren habe ich etliche Geschichten angesammelt. Ich schrieb bereits für die Ausbildung frischer Absolventen der üblichen Hochschulen eine kleine Geschichte, warum wir Unternehmensberater grossartige Verführer und Geschichtenerzähler sein müssen. Das war im 2013, also schon sieben Jahre her. 

Ich glaube, ich habe genug Material, um die lockere Periodizität eines lokalen Blattes zu genügen, wo ich hoffentlich mit Pseudonym publizieren kann. Es sind nicht bloss die Uwes, Ubertas, Uelis, sondern vor allem auch die sinnlose Geldvernichtungsmaschine im Wasserkopf der grosser Unternehmen, was fasziniert und womöglich interessiert.

Ein semioffener Brief an meine favorisierte Kandidatin für die Regierungsratswahlen im Stadtkanton.

Liebe Kandidantin

Ich bin relativ frisch in deinen netten Stadtkanton eingewandert und grundsätzlich apolitisch. Ich habe bei den letzten NR-Wahlen gehorsamst Smartvote ausgefüllt. Du bist mir als das kleinste politische Übel mit 66% Übereinstimmung ausgewiesen worden. Das hat mich gefreut, weil habe ich im Stadtkanton doch eine höhere politische Ablehnung erwartet. 

Ich habe damals ausnahmsweise nicht nach Aussehen, Beruf oder Sympathie gewählt, sondern tatsächlich politisch und zutiefst analytisch. Ich habe alle meine Stimmen dir geschenkt. Ich habe auch heimlich am Wahltag gefiebert und gehofft, du würdest bald als nette Nationalrätin meinen netten Wohnkanton repräsentieren. 

Bekanntlich hat’s nicht gereicht. Die Lokalmedien bewunderten deinen sogenannten Achtungserfolg. Danach habe ich dich wieder vergessen. Ich war zwar informiert, dass du unterdes auch in der Legislative unseres gemeinsamen Wohnkantons gewirkt haben sollst. Ich habe das leider nicht bemerkt, weil ich keine Tagespolitik konsumiere. Verzeihe mir. 

Ich habe dich also vernachlässigt. Bis ein Arbeitskollege dich beiläufig erwähnte. Ich kann den Kontext nicht mehr rekonstruieren. Jedenfalls konnte ich mich an deinen Namen erinnern. Ihr kennt euch beide. Ihr habt beide beim lokalen Fernsehen gearbeitet. Ich mag das Lokale, weil es hemdsärmelig, authentisch, übereifrig und leidenschaftlich ist. 

Ich habe daraufhin recherchiert über deine Person. Ich erfuhr, dass du einer Wohngemeinschaft leben sollst. Ich habe Spekulationen über deine sexuelle Identität respektive Gesinnung aufgeschnappt. Ich habe deine alten Moderationen auf Youtube studiert. Ich habe Rezensionen deiner Bücher registriert.

Ich habe mich auf deine private und berufliche Identität fokussiert; deine politische habe ich hingegen ignoriert. Ich habe nicht erhoben, wie viele und welche Vorstösse du durchgesetzt, unterzeichnet hast oder wie dein Wahlverhalten im lokalen Parlament war. Keine Ahnung, ich wüsste auch nicht, wo ich das nachschlagen kann. 

Du hast mich irgendwie fasziniert. Überdies bist du technisch sehr gutaussehend. Manche Männer sollen sich über deine zu tiefe Stimme echauffiert haben, was mir nicht auffiel, solange ich nicht bewusst darauf achtete – wohingegen die meinige wohl dementsprechend zu hoch oder zu weiblich sein müsste. Jedenfalls bist du hübsch und reizend.

Das qualifiziert dich aber nicht als Regierungsrätin. Natürlich nicht. Für mich aber schon. Ich bin sehr entzückt, eine Kombination aus politischer und sexueller Übereinstimmung, zumindest einseitig und unerklärt, beobachten und feststellen zu können. Das ist aussergewöhnlich derart, dass ich dir am liebsten diesen Text zustellen möchte.

Allerdings weiss ich auch, dass du für eine grüne Partei agierst. Ich möchte nicht in einem Shitstorm diskreditiert werden, bloss weil ich aufrichtig, offen und ehrlich war. Gewiss bin ich unbedeutend genug, dass es mir nicht schaden würde – dennoch möchte ich morgen nicht deine prominente Timeline zieren.

Ich hoffe, du wirst künftig meinen netten Heimatkanton angemessen regieren. Ich vertraue dir mit Vorschuss, obwohl ich dich nicht kenne. Wir teilen bloss den Jahrgang, einen Bekannten, die unmögliche Liebe zum Politischen und eine Affinität zum geschriebenen Wort. Das muss genügen, dir diese Widmung auf meiner persönlichen Plattform zu schenken.

Schön, dass es dich gibt. Ich bin froh, dass Basel-Stadt mir so etwas bieten kann. In Olten gab’s die letzte politische Übereinstimmung bloss mit jemanden, der nun in Basel-Stadt ganz apolitisch lebt, Frau und Kind hat, Doktor der Jurisprudenz sich wähnt und gelegentlich im Schützenmattpark hängt.

Wer weiss, wen ich meine so nebenbei?

Die strategische Freundin

Die beiläufige Einsamkeit in Basel-Stadt könnte ich lindern, indem ich eine strategische Freundin suchen würde. Also eine, die hauptsächlich zum Vernetzen gut genug ist. Ich könnte etliche Unzulänglichkeiten ignorieren, solange diese Freundin mich mit ihren Kollegen und Freunden in Basel-Stadt vernetzt.

Sie müsste minimal in Kleinbasel wohnen und maximal aus Kleinbasel stammen. Drei Branchen bevorzuge ich, wo sie tätig wäre: Gastro, Soziale Arbeit und Kunst/Kultur. Alle anderen wären nicht praktikabel, weil nicht gerade kompatibel mit meinem Lebensweg. Bekanntlich sind Adepten dieser Branche besonders in der Stadt vernetzt.

Ob ich allerdings eine solche Freundin auch langfristig bewirtschaften könnte, ist ungewiss. Ich könnte sicherlich ein bis zwei Jahre Interesse simulieren, bevor ich vollends mich übergeben und/oder permanent masturbieren müsste. Es wäre nicht sonderlich nachhaltig. Überdies müssten die neuen Freunden die Freundschaft kündigen, sobald ich mich trenne.

Das mindert meine Motivation, eine strategisch begründete Beziehung zu starten. Überhaupt könnte ich das vermutlich nicht. Ich will nicht erneut missverstanden, ungeliebt und ungeborgen mich fühlen. Zumindest nicht für zwei Jahre erneut meines Lebens, das ja auch allmählich schwindet und stets vergänglich ist.

Wonach ich mich sehne

Ich kann mich nicht wirklich beklagen, ich geniesse steter und immerwährender Erfolg. Ich bin einigermassen selbstzufrieden und empfinde keine grosse Notwendigkeit, die Verhältnisse meines Lebens radikal zu reformieren. Ich bin grösstenteils glücklich. Ich vermisse nichts. Und bezüglich meiner Zukunft bin ich vielfach zuversichtlich.

Allerdings stört mich, dass ich mich nicht geliebt, gebraucht und begehrt fühle. Ich kann spekulieren, ob man mich mag. Aber ich spüre nichts davon. Ich bin weiterhin in meinem Basel-Stadt gefangen ohne Liebe und Zuneigung. Es ist manchmal kalt hier, gerade jetzt natürlich, als die Jahreszeit sich wechselt.

Das ist das einzige, wonach ich mich sehne. Ich sehne mich nach Zärtlichkeit, Geborgenheit, Zuwendung, Zuneigung, Liebe – und nicht bloss in Gedanken, in Träumen, in Spekulationen und in unerfüllter Sehnsüchte, sondern in der Tat, tatsächlich, verwirklicht und gegenwärtig in meinem Hier und Jetzt. 

Das bedauere ich manchmal. Wenn ausnahmsweise jemand sich über meinen Zustand erkundigt, kann ich bloss das antworten. Alle andere Herausforderungen kann ich gefühlt problemlos bewältigen. Es ist bloss das unendliche Sehnen nach Liebe, das unerfüllt ist und vorläufig auch unerfüllt bleibt. Schade.

Nicht vermittelbar

Ich bin momentan nicht wirklich vermittelbar. Ich werde allmählich dicker. Ich werde nachdenklicher. Ich wirke traurig und verletzt. Das schmälert meine Chancen aufm Sexmarkt. Momentan habe ich keinen Zugang. Mein Abo ist gekündigt worden. Ich habe vermutlich eine AGB verletzt. 

Auch sind meinen privaten Umständen nicht gerade förderlich. Für eine potenzielle Interessentin bin ich zu kompliziert, zu beschäftigt, zu abgelenkt. Das ist für den Narzissmus einer Interessentin natürlich ungeschickt. Sie fühlt sich nicht bestärkt oder bestätigt. Ich kann ihr nicht meine totale Aufmerksamkeit schenken.

Ich müsste meine Verhältnisse reformieren, damit ich wieder begehrt werde. Ich vermisse das Gefühl, begehrt und gebraucht zu werden. Ich fühle mich gelegentlich nutzlos und überflüssig. Ich friste und sieche. Ich weiss nicht einmal, worauf ich warte – vermutlich einfach auf meine Zukunft.

Der politische Sitzstreik

Jüngst soll ein Sitzstreik in der Hauptstadt unserer beschaulichen Willensnation sich ereignet haben. Sekundärquellen haben hierüber mich unterrichtet. Das politische Tagesgeschehen ignoriere ich grösstenteils. Derzeit debattiert die Schweiz auch über Beschaffung von Kampfjets und über eine Vaterschutzentschädigung. 

Der Sitzstreik war politisch motiviert. Eine sogenannte Klimabewegung will den Klimawandel hervorheben. Die Gretchenfrage ist, ob der Klimawandel menschlich verursacht ist oder nicht. Wir leben im Anthropozän. Es entspricht der Natur des Menschen, die eigene und äussere Natur zu beherrschen. 

Ob wir Wälder abholzen, den Boden für Rohstoffe penetrieren, die Luft verpesten, das Wasser verschmutzen, kann problemlos als etwas Natürliches festgestellt werden. Ich beschwere mich hierüber nicht. Es ist ein kontinuierlicher Prozess, der längst nicht abgeschlossen ist. Atom zu spalten, krönt bislang die menschliche Naturbeherrschung.

Ich hoffe, dereinst vermag der Mensch auch Atome zu fusionieren, die Physik der kleinen Teilchen zu entschlüsseln und das Sonnensystem urbar zu machen. Die Naturbeherrschung ist ein Mehrgenerationenprojekt schlechthin. Vereinzelte boykottieren diese Entwicklung; das sind spätromantische Strömungen des 21. Jahrhunderts.

Was mich stört, ist, dass die Klimadiskussion politisch aufgeladen ist. Die Diskussion, ob der Mensch das Klima beeinflusst oder nicht, ist stellvertretend bloss fürs Unbehagen mit dem Fortschritt, mit der Zivilisation und mit der Zukunft. Der Mensch fürchtet sich gelegentlich vor der Zukunft. Als Futurist entsetzt mich das. 

Untröstlich sind die beiden politischen Lagern, welche für oder gegen den hausgemachten Klimawandeln argumentieren. Haudegen beider Lagern haben anlässlich des Sitzstreiks die Contenance verloren. Echtzeitnah sind die Äusserungen den Lokalmedien zugestellt worden, insbesondere ein verurteilter Lokalpolitiker ausm fernen Aargau hat sich profiliert.

Ich kann die Lust der Provokation und des Spektakels nachfühlen, wie Rechts den Klimawandel leugnet. Dass der Amateur-Feldhockeyianer mit seiner Kinderschar, der Politiker wie Verleger und Journalist gleichzeitig verkörpern möchte, bloss spielen will, ist verständlich. Ein klassischer Plot des Spektakels.

Die Grün-Linken wiederum dürfen sich echauffieren, dass der Staat ausnahmsweise die menschliche Ohnmacht markierte. Der Sitzstreik ist mittlerweile aufgehoben. Die armen Demonstranten waren ohnmächtig. Das Gefühl, den Weltgeist weder lenken noch gestalten zu können, kann einen erkranken. Man nennt das auch Weltschmerz. 

Ich bekämpfe den Weltgeist nicht. Ich interagiere daher auch nicht mit der Welt, insbesondere nicht mehr der politischen. Ich will mich daher auch nicht solidarisieren mit den Grün-Linken oder Rechten. Sie beiden irren und sind überkommen. Sie beide werden auch nicht wirklich nachgefragt, sondern beschäftigen sich künstlich.

Einst wollte ich mich der grünen Bewegung anbiedern. Nicht der Sache wegen. Die Sache ekelt mich, weil das Grüne der menschlichen Natur der Naturbeherrschung widerspricht. Mich verblüfft bloss das Potential junger, geiler und williger Miezen in der grünen Bewegung. Vermutlich eine klassische Altherren-Fantasie. Das als Zwischenbemerkung. 

Der Sitzstreik ist mittlerweile aufgelöst, die Debatte darüber bereits vergessen worden.

Der Kleinstädter in der Grossstadt

Ich bin ein Kleinstadtmensch. Ich bin kein Held der Kleinstadt, kein Stadtoriginal. Ich habe meine Kleinstadt-Karriere vorzeitig abgebrochen. Ich könnte weiterhin in der Kleinstadt thronen, in meiner Stammbar schlummern, dort gelegentlich mitschuften und die Zugezogenen imponieren. 

Früher oder später wäre ich auch erneut politisiert worden. Ich hätte eine kleine freie Liste in der Kleinstadt begründet. Vermutlich wäre ich sogar irgendwie gewählt worden. Ich hätte mich fürs Grundeinkommen und für Kultursubventionen engagiert. Ich wäre in der Kleinstadt gut bekannt geworden. Man hätte mich gegrüsst. Ich hätte einen sicheren Kolumnenplatz.

Äussere Ereignisse haben mich aber ins Exil gezwungen. Dort friste ich seit jeher, bekanntlich auf vergebliche Ablösung. Was entstand, ist, dass ich Differenzen mittlerweile wahrnehmen kann. Ich kann vergleichen, weil ich beide Lebenswirklichkeiten lebe oder mindestens einmal gelebt habe.

Ich war in der Kleinstadt, ich bin in der Grossstadt. Ich wollte früher höchstens nach La-Chaux-de-Fonds oder nach Biel emigrieren. Diese Städte entsprachen meinem Lebensgefühl. Sie sind beide nicht gerade wohlhabend. Touristen visieren sie selten an. Sie sind irgendwo abseits, existieren dennoch. Sie sind unbemerkt, aber auch unbeirrt.

Die Kleinstadt versichert dir, dass du wichtig und dringend bist. Sie reserviert dir deinen Platz. Du hast eine Rolle. Du hast eine Aufgabe. Du kannst darin dich wohlfühlen. Die unterschiedlichen Lebenslinien kreuzen und verfangen sich stets. Man fühlt sich stets mit der Kleinstadt verbunden.

Dein Nachbar ist der grosse Bruder eines ehemaligen Kollegen aus dem Kindergarten, dessen Freundin dein Schwarm am Gymnasium war, die zuvor mit dem einzigen Verleger in der Stadt turtelte, bis er eine Frau aus der Nachbarstadt vom anderen Kanton importierte und sich am Sonnenhang gegenüber zurückgezogen hat. 

Du bist mit allen Menschen irgendwie verknüpft. Deine Geschichte in der Kleinstadt ist die Geschichten aller und alle Geschichten sind auch deine. Du kannst problemlos ausgehen, ohne dich zu verabreden, weil du ohnehin jemanden triffst, den du kennst oder wieder kennenlernen möchtest, weil du ihm zehn Jahre lang zufällig nie begegnet bist.

Die Kleinstadt tröstet dich. Du kannst in der Kleinstadt nicht vereinsamen. Sie hört dir stets zu. Jede Strasse erinnert dich; deine erste Velotour nach erfolgter Veloprüfung, der erste Kuss, der erste Exzess, der erste Streit, der erste Unfall und alles das, was du bereits erfolgreich verdrängt oder schlichtweg vergessen hast. 

Die Kleinstadt besteht und besteht mit dir. Sie weist dich zu, sie schützt und umarmt dich auch dann, wenn du sie betrügst, für kurze Zeit mit der Grossstadt flirtest. Aber in der Grossstadt wirst du schnell wieder vereinsamen. Du wirst in der Grossstadt bloss mit anderen Flüchtlingen aus deiner Kleinstadt dich vernetzen. 

In der Grossstadt kennst du bloss Menschen, die mit deiner Kleinstadt verknüpft sind. Du bist mit niemanden in der Grossstadt original und ursächlich in der Grossstadt zusammengekommen. Umso grösser die Grossstadt, umso einsamer fühlt sich der Kleinstädter und sozialisiert sich mit seinesgleichen.

In Zürich vernetzen sich die Ostschweizer, die Thurgauer, die Solothurner, die Luzerner, aber auch die Deutschen untereinander. Man vermischt gelegentlich sich dort, wo eine gemeinsame Arbeitsstätte einander zusammenführt. Wohlgemerkt sind Dating-Plattformen keine sozialen Multiplikatoren, weil sie Kontakte auf die sexuelle Sehnsucht reduzieren.

Obwohl die Grossstadt mit einem Angebot protzt, ist der Kleinstädter nicht befähigt, es zu konsumieren. Man könnte täglich ein Konzert kosten, täglich neue Restaurants testen, man könnte etliche Ausstellungen besuchen, auch avantgardene in provisorischen Zwischenräumen. Die Vielfalt der Optionen verführt.

Der Kleinstädter ist hingegen routiniert. Er besucht immer denselben Ort, speist immer dasselbe und ist ohnehin mit seinesgleichen verbunden. Das grossstädtische Angebot ist verschwendet und vergebens. Der Kleinstädter ist in der Grossstadt versteckt. Das Überangebot subventioniert der Kleinstädter mit überteuerten Lebenskosten. 

Ein mieser Deal. Ich glaube, du kannst bloss in den Zwanziger eine Grossstadt kennenlernen und dich vollends assimilieren. Zuvor und nachher wirst du stets ein Kleinstädter bleiben und dich damit auch begnügen. Ich habe selber keine Ambitionen mehr, grossstädtischer zu werden. Ich bleibe Kleinstadt.

Uwes Aufstieg

Uwe war ein hungriger Kerl ausm Toggenburg, Bauernsohn. Eine lange gedehnter und überinterpretierter ostschweizerischer Dialekt war kennzeichnend. Er wollte stets seine Herkunft betonen. Er entstammte nicht ausm Etablissement, ausm Platz Zürich und war mit den richtigen Familien weder verwandt noch verschwägert. 

Uwe hatte ein Geltungsbedürfnis. Uwe wollte reüssieren. Uwe war nicht mit seiner Position als jüngster Projektleiter in einer grossen Bank zufriedenzustellen. Uwe umtrieb eine unersättliche Sehnsucht, beinahe ein faustischer Drang ins Unendliche – was ihn schlussendlich auch elektrisierte und die Position als Verwaltungsratspräsidenten erlaubte.

Ja, Uwe ist Verwaltungsratspräsident. Darauf ist er heute ziemlich besessen. Bei jeder Gelegenheit erwähnt er, dass er, der zunächst scheue und unbedarfte Bauernsohn ausm Toggenburg, heute Verwaltungsratspräsident sich nennen darf einer Unternehmensberatung, die am Paradeplatz repräsentativ residiert. 

Er hat mittlerweile auch eine Sekretärin, die für alle seine Belange sich aufgibt. Sei es spontane Kinderbespassung, Flugtickets, sei es die tagtägliche Kalender-Hygiene, simple Emails oder spontane Haushaltseinkäufe. Sie muss jung und hübsch und vor allem belastbar überdies sein. Kein erfolgreicher Mann hat eine hässliche und gealterte Sekretärin. 

Uwe gründete vor zehn Jahren seine Firma. Er hat sich das Startkapital von seiner Verwandtschaft geliehen. Er war zum Erfolg gezwwungen. Er wollte eine Art Plattform schaffen, wo Kunden präsentieren, Interessenten sich informieren und alle gleichzeitig sich betrinken konnten. Es soll der soziale Höhepunkt der Branche bilden.

Aufgrund seiner Spezialisierung in der grossen Bank hat er bereits ein Fokusthema für den Anlass und für die zukünftige Unternehmensberatung ersonnen. Das Thema war in Gartners Hype Cycle aufm Pfad der Erleuchtung. Beste Voraussetzungen, hier ein Thema in der Schweiz zu führen. Uwe liess sich von seinem Bauch beraten – so wie alle guten Managers.

Und tatsächlich debütierten Uwe und Uwes Thema. Bereits nach der initialen Konferenz konnte er einige langfristige Mandate sichern. Mit diesen konnte er sein privates Darlehen zurückzahlen und eine erste, auch wenn vorerst noch zaghafte Wachstumsphase finanzieren. Die kleine Unternehmensberatung zählte fortan sechs Mitarbeitende. 

Die Konferenz war bald der Ort, wo man hin pilgerte. Verdienten Kunden vermittelte er eine Bühne, wo sie den Erfolg – wegen seiner Unterstützung – öffentlichkeitswirksam verkünden durften. Daraufhin wollten die Interessenten auch erfolgreich sein und begehrten Uwes Unterstützung. Eine kleine, selbsterhaltende Geldmaschine entstand. 

Mittlerweile ist die Konferenz die grösste ihrer Art in Europa. Uwe hat auch längst nach Asien expandiert. Es ist alles internationalisiert worden. Natürlich besetzte er weitere Themen, die gerade die Unternehmen beschäftigen. Er bewies stets ein Gespür für Wichtigkeit und Dringlichkeit von Themen. 

Seine Unternehmensberatung hat auch mindestens zwanzigmal so viele Mitarbeitende wie damals. Die Dividenden sind mittlerweile sechsstellig. Er ist der alleinige Hauptaktionär. Manche Partner halten 1% oder 2%, für dessentwegen sie sich privat verschulden mussten und im Falle eines Verkaufs bloss noch die Hälfte des Kaufpreises beanspruchen dürfen.

Uwe beherrscht die Unternehmung. Vor Jahren hatte er seinen “Rücktritt” als CEO zum Verwaltungsratspräsidenten den Branchenmedien kommuniziert. Damit wollte er signalisieren, dass er bloss noch als graue Eminenz im Hintergrund amte. Sein designierter Nachfolger als CEO hat aber die Täuschung durchschaut und vorm Aktienkauf gekündigt.

Andere Partner sind weiterhin im “goldenen Käfig” gefangen. Sie können nicht kündigen, solange sie ihre privaten Kredite für den Aktienkauf nicht getilgt haben. Weil im Falle einer Kündigung verlieren ihre Aktien den halben Wert. Solche Aktionärbindungsverträge sind unüblich, aber möglich; Vertragsfreiheit nennt das die Juristerei. 

Seine Führungsmannschaft fluktuiert. Die externe Agentur kann nicht einmal die Webseite akkurat aktualisieren. Aufgrund dieses Vakuums muss Uwe stets sich positionieren. Alle wichtigen und dringenden Entscheide betreffen Uwe. Wer ohne Uwes Absolution handelt, bestraft Uwe fürderhin mit Ignoranz und Bedeutungslosigkeit.

Ein Partner der Firma hat sich einst versucht, über Uwe hinwegzusetzen. Er wollte ein Team formen, das bloss ihm gehorche. Also dass er für das eine Team der starke Mann sei und Themen setzen dürfe. Er wollte einen eigenen Backlog etablieren und den ohne Uwe priorisieren. Er wollte eine kleine Firma in der Firma schaffen.

Warum? Weil der eine Partner meinte, er habe mehr Informationen als Uwe, sei klüger, besser, schneller als Uwe. Eine typische Ausgangslage in einer Unternehmensberatung. Denn alle Unternehmensberater sind kleine Narzissten, die ihre kleine Bedeutung stets überschätzen und ihren mickrigen Einfluss überbewerten. Ein Herausforderer Uwes also.

Uwe hat ihn sofort kaltgestellt. Zunächst hat er das Team aufgelöst, das der eine Partner aufgebaut hatte. Er hatte Schlüsselpersonen im Team sofort zu seinen persönlichen Mitarbeitenden geadelt. Sie hätten fortan uneingeschränkten Zugang zu Uwe, dem Verwaltungsratspräsidenten. Sie hatten Serientermine geschenkt bekommen. 

Es gibt wohl nichts Bedeutungsvolleres als ein Serientermin mit dem Verwaltungsratspräsidenten einer Unternehmensberatung. Das wusste auch Uwe und erkaufte sich so Loyalität. Den aufmüpfigen Partner platzierte Uwe in ein forderndes Kundenmandat. Dort war dann versenkt; der Partner konnte nicht mehr intern lobbyieren.

Dabei war Uwe stets sympathisch und verständnisvoll. Er begründete sich damit, dass der aufmüpfige Partner privat sehr stark herausgefordert sei. Es drohe mutmasslich eine Scheidung, daher müsse sich der Partner um sein Privatleben kümmern und ein sinnvolles Kundenmandat kann wertvolle Flow-Momente erzeugen.

Das war für alle sehr plausibel. Und stattdessen musste Uwe nun erneut und abermals die Führung übernehmen. Doch nicht ohne Einverständnis seiner Organisation. In einer Townhall stellte er die quasi rhetorische Frage, ob die Organisation bereit sei, für einen Turnaround einen autoritären Führungsstil zu billigen.

Die Organisation jubelte und legitimierte Uwe. Technisch hätte Uwe niemals die Organisation konsultieren müssen – denn er regierte bereits seit Jahren sehr autoritär. Er ist lediglich subtiler und perfider geworden. Auch Uwe hat gelernt, wie man Menschen manipuliert.

Uwe, der erfolgreiche Unternehmer und Unternehmensberater. Uwe sammelt übrigens auch Frauenleichen, ob beruflich oder privat. Das könnte noch interessieren. Mal schauen, ich habe gerade keine Lust.

Die unglaublichen Geschichten

Bekanntlich bin ich nicht sozial. Ich verkrieche mich gerne. Ich spiele, masturbiere und schreibe. Ich gehe selten aus. Wenn ich ausgehe, dann immer an denselben Ort, immer mit demselben Programm. Bier und Zigaretten, bis sie mich erschöpfen. Ich bin routiniert, ich habe mich längst mit meiner Lebenssituation arrangiert. 

Gelegentlich werde ich dennoch angesprochen. Normalerweise versuche ich stets zu wiederholen, dass man mit mir sich nicht unterhalten solle. Warum? Weil ich kein angemessener Gesprächspartner sei und die Bedeutung meiner Aussagen stets überbewerte. Und überhaupt sei ich sehr grüblerisch und fatalistisch. 

Nichtsdestotrotz führe ich Gespräche mit fremden Menschen. In Olten muss ich mich niemals erklären. Es ist allen alles klar. Ich muss meinen Lebenslauf nicht rekapitulieren. Man weiss es. Ich muss meine Ereignisse nicht aufzählen. Sie sind bekannt. In Basel hingegen bin ich unbekannt. Ich bin keine Person des öffentlichen Interessen.

In Basel bin ich anonym. Manchmal fühle ich mich daher unverstanden und fremd. Jüngst empfand ich eine angenehme Bekanntschaft in Basel. Sie ist insofern bemerkenswert, als sie äusserst selten ist. Ich bin dermassen mit mir selber beschäftigt, dass ich meine Mitmenschen, die manchmal Raum und Zeit zufällig teilen, nicht wahrnehmen will.

Ich durfte mich ausdrücken, wer und was ich bin. Ich kann diese Fragen klar und einfach beantworten. Ich bin geübt, mich zu verständigen, sofern notwendig oder schicklich. Was mich diesmal verwunderte, war, dass ich intrinsisch bemüht war, die Mitmenschen meiner Existenz partizipieren zu lassen.

Ich teile ungern, sofern ich nicht mich wohl, geborgen, vertraut und damit sicher wähne. Ich kann aber gleichzeitig offen und ehrlich sein, sofern eine Zufallsbekanntschaft eine einmalige bleibt – ich also keine Konsequenzen fürchten muss. Ich kann dadurch nicht aufgrund meiner Aussagen oder meiner Geschichte diskreditiert werden. 

So entstand eine Situation, in der ich ausnahmsweise, weil gerade unverbindlich und unverfänglich, offen und ehrlich war – und beantwortete, wonach man mich fragte. Es entstand eine kurze Geschichte meines Lebens. Natürlich habe ich dennoch Details entfernt, die das Gegenüber schockieren könnte. Ich habe meine Geschichte zensiert.

Ich kann auch bei einer Zufallsbekanntschaft nicht wirklich offen und ehrlich sein, sofern ich nicht sofort spüre, dass diese Zufallsbekanntschaft im Hintergrund und Kontext mir ähnelt – was wiederum naturgemäss sehr unwahrscheinlich ist, weil etlich variable Verhältnisse das Verhalten und letztlich die Haltung formen. 

Ich möchte keine neuen Menschen kennenlernen, weil ich meine eigene Geschichte nicht stets aufrollen möchte. Ich fürchte mir vor Unglaube und/oder Unverständnis. In ganz seltenen Konstellationen fühle ich mich automatisch wohl und geborgen. Ich muss mich nicht maskieren oder sonstwie schützen oder das Gegenüber schonen. 

Ich bin bereits herausgefordert, tagsüber einigermassen zu funktionieren. Ich war jüngst zum Zmittag mit einem prominenten Gast verwickelt. Als angepasster Narzisst glaubte ich mich ertappt und aufrührerisch, als ich verbotene Literatur zitierte. Ich habe über die Gesellschaft des Spektakels berichtet. Das Werk ist spätestens seit Bush Junior ziemlich unspektakulär.

Wer tagsüber also glaubt, er müsse sich irgendwie mässigen oder disziplinieren, der kann auch abends sich nicht wirklich befreien. Ich bleibe angespannt. Und daher verschweige ich gewisse, aber gewichtige Details meiner Geschichte. Dennoch hört sich meine Geschichte unglaublich an. 

Ich glaube nicht, dass ich unglaublich bin. Ich arbeite einigermassen, ich zahle Steuern, ich pflege Beziehungen, ich kann sogar etwas wie Sexualität erfahren. Und ich berausche mich. Ich bin weitaus langweiliger als man mir zutraut. Vielmehr bin ich kastriert. Ich friste lediglich auf verlorenem Posten, warte vergebens auf Ablösung, die mich auflöst.

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