• Meine bürgerliche Sehnsucht

    Bekanntlich verabscheue ich Mittelmässigkeit. Das bürgerliche Leben repräsentiert Mittelmässigkeit. Doch auch ich ersehne ich gewisse «Normalität». Ich mag kein blosses unstetes Leben, keine unendliche Hast, keine unendliche Rastlosigkeit. Ich mag’s gerne beständig. Weil ich Beständigkeit mag, habe ich es auch relativ lange in Lostorf «ausgehalten».

    Ich habe in den letzten Jahren durchaus das Verlangen entwickelt, mich zu beruhigen, meinen Rhythmus zu entspannen. Ich mag nicht dauernd mich schmerzen, verletzen und quälen. Ich muss nicht immer damit spüren, dass ich noch existiere und irgendwie überlebe. Ich kann Glück abgewinnen davon, ein geregeltes, relativ normales und zuweilen unspektakuläres Leben zu führen.

    Ich kann durchaus zweisam einen Wocheneinkauf meistern. Ich kann durchaus zweisam verreisen. Ich kann durchaus zweisam einen Haushalt bewirtschaften. Ich könnte technisch kochen, putzen und kleine handwerkliche Angelegenheiten regeln. Ich kann Katzen hüten und mit Kleinkinder spielen. Ich kann mich mit Schwiegereltern austauschen. Ich kann meinen Egoismus zügeln, ich kann mich zurücknehmen.

    Ich kann mich auch fortpflanzen. Ich habe jahrelang «geübt», ich kenne diverse Praktiken. Ich hatte mich zeitlang auch ordentlich «ausgetobt». Aber ich verspüre keine Sehnsucht, mich weiter austoben zu müssen. Ich habe keine Lust. Ich erfahre zwar gerne Grenzen, ich übertreibe zuweilen. Aber gleichermassen wünsche ich mir gewisse Normalität. Ich will Alltag. Ich will Alltag.

    Ich kann mir technisch vorstellen, eine Familie mit einer lieben Frau zu begründen. Eine Frau, die viel Liebe versprüht. Die fürsorglich ist. Die kochen kann. Die lachen kann, die manchmal tiefenentspannt ist. Die aber auch sich durchsetzen kann. Eine Frau, die gerne geniesst und lebt. Ich wünsche mir eine Beziehung als Team, eine Familie als Team. Ich wünsche mir das, bevor ich sterbe.

    Ich habe bereits mit 27 mir geschworen, dass ich bürgerlicher leben wollte. Ich habe es versucht. Ich habe mich manchmal selber betrogen. Ich habe mich manchmal selber sabotiert. Die Umstände damals waren wohl nicht immer ideal. Ich hoffe, sie werden besser. Aber je älter man wird, umso schwieriger ist alles. Plötzlich ist man 40, mit Kindersehnsucht, mit Sehnsucht nach Häuslichkeit, aber alleine.


  • Die sinnliche Autobahn

    Die ersten Pfade durch unsere Natur entstanden bloss, weil jemand Spuren folgte. Das Verhaltensmuster wiederholt sich im Schnee. Wir stampfen in den Schritten eines Vorgängers. Das beruhigt und vergewissert uns, einen richtigeren Weg zu schreiten.

    Die ersten befestigten Strassen unserer Vorfahren schlängelten einträchtig sich mit und durch die Natur. Diese Strassen berücksichtigen alle natürlichen Hindernisse. Doch solche Strassen verschwinden immer mehr. Sie sind weder effizient noch effektiv. Sie verlangsamen uns.

    Die modernen Autobahnen dagegen zwängen, trotzen ihren Weg. Über Schluchten ist die Strasse gestelzt. Erhebungen sind durchbohrt. Die Strasse nimmt ihren optimalen Verlauf. Die Neigung ist exakt kalkuliert. Die Strasse ist kein Zufall. Sie beschleunigt uns.

    Die alle Naturgewalten ignorierende Autobahn repräsentiert für mich die totale Naturbeherrschung. Daher liebe ich Autobahnen. Ausm selben Grund liebe ich denn auch Kernenergie.

    DBE-Biberstein


  • Die kampflose Jugend

    Ich habe kürzlich in der NZZaS aufgeschnappt, dass die Jugend bloss noch das private Glück suche und die Gesellschaft nicht herausfordere. Ach, ich möchte gerne auch die Jugend anklagen. Aber ich kann ihren Unmut nachempfinden. Ich verurteile das nicht als «bequem» oder «mutlos», sondern als pragmatisch und als zweckdienlich. Niemand möchte die Last der Welt schultern. Niemand muss die Last der Welt schultern. Das muss kraft seines Amtes bloss der Papst. Wir können die Welt nicht retten oder verändern; wir können unser Glück aber privatisieren.


  • Depressiv in Como

    Meine letzte Nacht heute in Como. Ich habe mich zurückgezogen. Ich bin in einer Seitengasse. Ich höre Jazz. Ich esse rohes Fleisch. Ich trinke Weisswein. Ich bin alleine, na und? Die Musik besänftigt, tröstet. Ich kenne alle diese standards. Ansonsten ist Italien musikalisch relativ unterentwickelt; die Jugend marschiert im Gleichschritt, das soziale Panoptikum prägt und beeinflusst jeden. Zeit also für eine kleine Zusammenfassung.

    DBE-Como-Szene

    Ich war ein guter Tourist. Ich habe viel Geld ausgegeben. Ich habe die lokale Industrie gestützt. Ich habe wohl alle Attraktionen abgehakt. Doch Como selber habe ich rasch erschöpft. Ich bin sicherlich zehn Male die grossen Einkaufsstrassen rauf- und runtergeschlendert. Ich habe sogar eingekauft, obwohl ich grundsätzlich selten im Ausland beispielsweise Kleidung einkaufe, weil ich bereits bestätigte Zulieferer für alle meine Sachen weiss.

    Ich war einsam, natürlich. Die Abende und Tage in Como waren sehr einsam. Ich hatte kaum Konversation, die einzige erwähnenswerte habe ich bereits erwähnt. Ich fürchtete, meine Sprache zu verlieren. Stattdessen übte ich das Schreiben. Das hier Publizierte ist bloss das wirklich Verwertbare; den Rest verschliesse ich im Tagebuch. Ich habe das impulsive Schreiben weiterentwickelt. Ich habe mir tagsüber Themen notiert, alles schön nach Kanban. Am Abend habe ich abwechselnd impulsiv und konzentriert geschrieben-resümiert; das Tagebuch als Notizblock.

    Ich mietete mir ein Auto in der Schweiz. Ich bin Kunde der Mobility. Mein Auto war so schwach, dass ich bloss im zweiten oder höchstens dritten Gang fahren konnte. Nur damit konnte ich mir vergewissern, dass ich wirklich über Pferdestärken herrsche und walte. Ich fuhr einen uninspirierten Opel, für Kenner ein Grossvater- oder Hündelerauto, das zweckmässiger nicht sein könnte. Ich raste zu schnell, zu sportlich am Comer See entlang. Ich pausierte hier und da, trank Kaffee und Wein.

    DBE-Mobility-Auto

    Die Abende waren hart. Zweimal wollte ich kapitulieren und im McDonald’s speisen. Das wäre unkompliziert gewesen. Ich hätte mich auf die unbequeme Sitze quälen und einen BigMac verdrücken können. Ich hätte gefressen und die natürliche Pflicht erfüllt. Aber in Como ist das Abendessen das einzige wirkliche happening. Es ist der Anlass schlechthin; es ist Comos Bestimmung. Jeden Abend turteln junge oder alte Paare, schwedische, holländische, französische und vor allem italienische durch die Gassen. Sie studieren die Karten, vergleichen Preise und einigen sich schliesslich.

    Ich durfte mich immer abseits hinsetzen. Meistens in einer Ecke war ein Tisch nicht besetzt; kein Paar oder grosse deutsche Familie schwieg oder lärmte. Aber die Blicke haben geschmerzt. Sie alle waren verblüfft, verwundert, dass ich alleine durchaus gutes Essen bestellte, Wein oder Bier trank. Dass ich alleine hier bin. Denn wer ist schon alleine in Como. Bloss die Flüchtlinge sind einsam und einige locals, die über alles wachen. Como ist wirklich denkbar schlecht für lonely hearts. Wer einsam ist, muss in eine westliche Weltstadt, dessen Verkehrssprache er spricht. Mit offenen Augen kann man dort durchaus Menschen ansprechen, man kann Konversationen führen. Hier in Como ist’s quasi unmöglich, das Nachtessen ist bereits von den Paaren und Familien okkupiert. Und die reden selber kaum, ausser der vorlaute Nachwuchs.

    Es ist eine stille und sehr kleine Stadt. Ich empfehle die Stadt durchaus, aber bloss als Paarurlaub. Aber als Steppenwolf deprimiert die Stadt einen. Denn die spärlichen touristischen Reize kann man nicht wirklich geniessen, wenn man sie nicht teilen kann. Den grössten Reiz, ein Rundflug mit einem berühmten Wasserflugzeug allerdings, habe ich mir nicht gegönnt. Ich hatte mich auch nicht ernsthaft bemüht. So ein Panoramaflug könnte eventuell auch alleine unterhalten.

    Bin ich nun tiefenentspannt? Ich bin gewiss entspannter als vor einer Woche. Damals war noch berufstätig, ziemlich unmotiviert. Ich hatte die Sinnhaftigkeit meines Tun hinterfragt. Das tue ich weiterhin. Ich werde ohnehin eine berufliche Veränderung anstreben. 2016 ist mein Jahr der Wiedergeburt, nicht als Christ, sondern als Mensch, als Individuum, als David. Ein Neo-David-Projekt. Das ungefähr fünfte? In diesem Kontext war der Unterbruch in Como durchaus nützlich und hatte mich angeregt. Er hatte mir bewiesen, dass ich schreiben muss, damit ich überleben kann. Er hatte mir auch den sicheren Hafen aufgezeigt. Das alleine rechtfertigt das Geld, das ich ausgab.


  • Der sichere Hafen

    Wir brauchen Lebensräume. Wir brauchen Rückzugs- wie Aufmarschgebiete. Wir müssen uns entfalten können. Doch das können wir bloss, wenn wir eine Gegend kennen, wo wir aufgehoben sind, wo wir heimisch und sicher sind. Das ist der sichere Hafen. Ich denke aber nicht an die Bar 97, die als «barmherziger Hafen» alle Heimatlosen aufnimmt, wie im 2003 NZZ Folio würdigen durfte.

    Wenn ich keinen sicheren Hafen habe oder zumindest keinen spüre, dann bin ich verloren. Ich bin naturgemäss entwurzelt, heimatlos, entfremdet und was sonst noch zur grossen Leere zählt. Ohne sicheren Hafen verderbe ich. Ich vergrüble. Ich verkümmere. Ich werde depressiver. Ich blockiere mich dann selber. Ich hege dann meine unendliche Kaputtheit, vergleichbar mit jener eines gewissen R. Darin verstecken sich selbstzerstörische Triebe; der ebenso unendliche Todestrieb, der uns alle umgibt und bedroht.

    Glücklicherweise ist mein sicherer Hafen nicht an Ort und Zeit gebunden. Es ist etwas Ideelles. Es ist ein Gefühl. Es ist abstrakt. Er konkretisiert sich nicht in einer Lokalität, an einem bestimmten Ort. Aber ein sicherer Hafen bildet sich aus liebgewonnenen Menschen. Eine Art Umfeld, das einen stabilisiert und gewissermassen auch rettet, ohne dass es retten muss, sondern einfach, weil es «da» ist. Das erleichtert vieles. Mein sicherer Hafen existiert. Ich erinnere mich gerne daran.

    Doch weil mein sicherer Hafen ein blosses Gefühl ist und sich nicht manifestieren kann, zweifle ich gelegentlich. Alles bloss eine Einbildung? Eine Illusion? Bin ich in Wirklichkeit alleine und weiss es noch nicht? Werde ich aufwachen und alle und alles ist fort? Werde ich überhaupt geliebt? Werde ich geachtet und respektiert? Habe ich nicht schon zu viele Menschen enttäuscht und verletzt? Wer findet mich «gut»? Der wirklich Not leidende Syrier ausgenommen, der mir tiefste und vollste Gutheit attestierte.


  • Das leere Reisen

    Wer reist, ist rastlos. Das Reisen leert die Gedanken. Man hetzt, fährt durch Landschaften. Man berieselt und bereizt sich. Man ist wo, ist bald aber wo anders. Man muss sich nicht quälen, wer man ist und wieso man hier ist. Schliesslich reist man. Man irrt durch Strassen, man schlendert durch unbekannte Städte. Das Reisen entspannt mich. Ich habe Geld, ich habe Möglichkeiten. Ich muss keinen Plan haben. Ich denke bis zum nächsten Halt. Ich studiere Landschaften, ich beobachte Menschen. Ich trinke Wasser.

    Demgegenüber fühle ich mich an einem einzigen Ort gefangen. Wer bin ich und wieso bin ich hier? Ich grüble, aber ich kann mich nicht entscheiden. Ich bin hier, weil ich offenbar Ferien «verdient» habe. Ich habe Geld gehäuft, das mir eine Auszeit finanziert. Wer stets am selben Ort weilt, muss sich zwangsläufig mit sich selber auseinandersetzen. Er kann sich nicht durchs Reisen, durchs Hasten und Rasen zerstreuen.

    Eine Woche lang wirklich stationär zu sein, überlebe ich bloss mit Alkohol oder Gesellschaft. Wenn ich alleine bin, falle ich auf mich selber zurück. Ich verderbe damit mir mein Gemüt. Ich versprühe dann Melancholie; und ich bin dann kein Party-Rave-Dave. Das schmerzt. Ich bin dann übernachdenklich. Ich brauche einen sicheren Hafen. Ich brauche gewisse Strukturen. Das Reisen an und für sich, also das sich stets Bewegen, entspricht mehr meinem Gemüt; das schafft Sicherheit durch Unsicherheit und Abwechslung.

    Das nächste Mal unternehme ich einen road trip durch Italien.


  • Die erste Konversation

    Ich spreche nicht viel. Ich bestelle zwar Pizzen. Ja, Weisswein, Bier, Polenta oder Zigaretten. Was auch immer. Meine Konversationen sind reduziert-funktionalisiert. Ich hatte noch kein Gespräch geführt. Ich bin quasi alleine. Doch heute habe ich das erste Mal richtig gesprochen. Ich lernte in der Schweiz, in Chiasso einen zurückgewiesenen Flüchtling kennen, dem man freundlich die Durchreise nach Deutschland verweigert. Er stammt aus Syrien. Seine Kinder sind noch dort; seine Mutter auch. Er will nach Deutschland, arbeiten und so. Die Geschichte ist millionenfach erzählt worden.

    Ich erzählte ihm von meinen «Problemen», typische first world Geschichten. Es war zynisch. Als wir in Como eingefahren sind, lagen sie alle aufm Perron herum. Die Zeltburgen, die vielen Decken, das grosse Warten. Der Gestank. Die Polizisten. Die spontanen Helfer. Ich spendete ihm meine Münzsammlung und einige Zigaretten. Er sei kurz vorm Wahnsinn, nicht mehr viel halte ihn lebendig. Er hungere, was deutlich sich auch abzeichnete. Ich dagegen bin voll ausgestattet. Ich trage einen MacBook, ein iPad, ein Nexus 6P, mehrere hundert Euro, gefühlte sechs Päckchen Zigaretten. Ich erkundigte mich scheu nach seinem next step. Keine Ahnung, die Nacht überleben.

    Gute Idee, mein nächster Schritt ist eine Apéro Bar. Ich sollte allmählich wieder essen. Ich habe keinen Hunger. Eventuell besaufe ich mich oder ich verjuble mein Geld mit den Flüchtlingen. Ich zahle eine Runde Muschishots. Wir feiern, wir jubeln. Wir zertrümmern Como; wir stürmen und überfallen die Touristen. Wir randalieren. Wir leisten Widerstand. Ein letztes Mal. Das erste Mal. Dennoch verblüffenderweise sind die Flüchtlinge wirklich «angenehm», also weder aufdringlich noch bedrohlich. Das irritiert. Wenn ich verzweifelt wäre, was würde ich tun? Wenn meine Familie bedroht ist? Wenn meine Frau vergewaltigt wird? Meine Eltern erschossen? Wäre ich auch so gelassen?

    Glücklicherweise habe ich keine Konversationen, ich habe niemanden, mit dem ich mit austauschen könnte. Ich glaube, ich werde mich mit Euronen bewaffnen und die zahlreichen spontanen Helfer anquatschen. Unvorteilhaft ist, dass ich in der Schweiz lebe; das «böse» Land aus deren Perspektive. Eventuell kann ich mich ja als Deutscher tarnen. Ich wirke ja bekanntlich im Ausland immer deutsch. Ich lasse mich überraschen, doch im Zweifel passiert nichts. Ich vergnüge dann mich mit Spaghetti und lese Die Möglichkeit einer Insel fertig, die perfekte Ferienlektüre.


  • Der einsamste Ort der Welt

    Ein Casino ist der einsamste Ort. Film und Werbung wollen einen vom Gegenteil überzeugen. Doch in Wirklichkeit sind weder barbusige Miezen noch gemeinsame Erfolge zu beobachten. Stattdessen verlieren sich alternde und nervöse Asiaten und einsame Männer wie Frauen an den unzähligen schrillen Automaten. Die Jugend oder die weniger Einsamen gruppieren sich um klassische Tischspiele, wo sie ihren Einsatz dramatisch setzen können. Casinos repräsentieren die Leere, Kälte und Härte dieser Welt. Das ebenso sinnlose Glücksversprechen, das schnelle Geld, lockt und verführt die Massen. Ich beobachte bloss und ziehe mich in den einsamsten aller einsamen Orten zurück: in den Raucherraum.

    DBE-Casino-Enklave


  • Die wichtigsten Bücher bis zum dreissigsten Lebensjahr

    Listen. Es existieren Listen der wichtigsten Bücher, die jeder bis dreissig gelesen haben muss. Eine solche Liste ist mir kürzlich zugespielt worden. Ich habe erwartungsgemäss nichts davon gelesen. Daher meine Liste der wichtigsten Bücher, die jeder bis dreissig oder gerne auch später gelesen haben muss.

    Hermann Hesse, Steppenwolf

    Der Steppenwolf ist ein Klassiker aus den Zwanziger des letzten Jahrhunderts. Darin schilderte Hesse das eigentliche Motiv dieses Blogs: der Gegensatz zwischen einer bürgerlichen und antibürgerlichen Existenz. Der Doppelgänger somit ist bloss ein Echo. Dieser Roman zerstörte jeden jugendlichen Hochmut; der Roman vernichtete das schwache und noch nicht gefestigte Ich. Er lässt einen verzweifeln.

    Der Roman hat mich sehr beeinflusst. Der Steppenwolf war mal ein geflügeltes Wort. Mit einer gewissen L. bastelte ich Flugblätter, die wirre Botschaften enthielten, mit denen wir die Passanten zu verunsichern hofften. Der Humor als grosse Bindung, als grosse Synthese allerdings habe ich erst später erkannt. Als Jugendlicher faszinierten mich klassische Grenzüberschreitungen mehr.

    Thomas Mann, Doktor Faustus

    Doktor Faustus krönte Manns Karriere. Darin spiegelte ein Erzähler das Leben eines bewegten Adrians. Adrian strebte nach künstlerischer Entfaltung. Er wollte den musikalischen Durchbruch erzielen. Und so bediente er sich des Teufels. Der eigentliche Plot ist überschaubar und quasi trivial, weil Fauststoff. Der Roman ist für heutige Ansprüche nicht mehr lesbar. Die Sätze sind gestelzt, die Wörter zu altertümlich.

    Darin konzentrierte sich alles, was deutsche Literatur einst hatte. Es ist wie das letzte Werk einer Generation. Der Roman endete im Zweiten Weltkrieg. Er vergrösserte mein Epochenverständnis. Der Roman stammte aus einer anderen Zeit und so soll er auch behütet werden: wie ein Schatz. Die Konflikte, die Diskussionen und unzähligen Essays, verstreut im ganzen Buche, empfinde ich weiterhin als aktuell, sind aber durch andere Probleme unserer Zeit zurückgedrängt worden.

    Oswald Spengler, Untergang des Abendlandes

    Spenglers Der Untergang des Abendlandes war das «epochenmachendes Werk», das er lange in sich trug und schliesslich am richtigen Ort (Deutsches Reich!) zur richtigen Zeit (1918!) veröffentlichte. Der Titel lässt einen verführen, die westliche Zivilisation sei fertig entwickelt und beginne einen unaufhaltsamen Niedergang. Spengler aber wünschte sich einen neuen Cäsarismus, damit die westliche Zivilisation handlungsfähig bleibe. Ironischerweise verwirklichte Hitler schliesslich diesen Wunsch, beschleunigte aber damit den endgültigen Zerfall der westlichen Kultur.

    Stattdessen erwachte der Mensch nach dem Zweiten Weltkrieg in einer verwalteten Warengesellschaft, sediert mit Kulturindustrie und das ferne Glücksversprechen immer mehr, neueren und besseren Gütern. Ich konnte mit dem Buch einige Geschichtslücken füllen. Ebenso spendierte mir das Buch eine tiefe Gelassenheit darüber, wieso unsere Kultur so leer, so uninspiriert ist. Ich befürworte seitdem, dass wir mehr Ingenieure statt Maler ausbilden sollten, mehr Soldaten statt Philosophen. Denn wir leben weiterhin in entscheidenden Zeiten.

    Nicolas Gomes Davila, Auf verlorenem Posten

    Es sind Neue Scholien zu einem inbegriffen Text. Dieser Autor ist kaum bekannt. Ich beleidige ihn, wenn ich ihn auf eine solche Liste setze. Sein liebster Ort ist der Giftschrank. Dort würde er ruhen. Aber dennoch möchte ich, dass man seine Aphorismen studiert. Sie erklären ein religiöses, antimodernes, ja reaktionäres Leben. Er «versteckte» sich als Privatgelehrter am Rande der Zivilisation. Seine Welt waren seine Bücher. Sein sozialer Status als Berufssohn finanzierte das alles. Er wollte weder reüssieren noch publizieren. Es sind solche giftige Gedanken, die unsere Moderne herausfordern:

    Der moderne Mensch nimmt bereitwillig jedes Joch auf sich, solange nur die Hand, die es aufzwingt, unpersönlich ist.

    Davila verachtet alles Zeitgemässe und ringt eben auf verlorenem Posten. Für uns im Alltag Gefangenen, die Ferien sich absparen müssen und einen erniedrigenden Brotberuf ausüben, sind solche Sätze «abstrakt» und sehr «entfernt». Er konnte sich von diesen «Niederungen» distanzieren und schlägt zurück. Wir können bloss zustimmen oder ablehnen; müssen aber daraufhin wieder im Gleichschritt uns einordnen.

    Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung

    Das ist ein Klassiker der Frankfurter Schule. In Adornos Dialektik der Aufklärung überragt vor allem das Kapitel Kulturindustrie. Die Kulturindustrie umzäunt den marginalen Freiraum des menschlichen Denken. Obwohl alles und alle gleich sind, sind Individualität und Freiheit im Spätkapitalismus bloss inszeniert. Wer die Kulturindustrie begreift, versteht auch Die Gesellschaft des Spektakels Guy Debords. Darin radikalisiert Debord Begriffe wie Warengesellschaft, Warenfetisch und resigniert, dass in unserer Gesellschaft selbst die Rebellion ein Spektakel ist und letztlich bloss das herrschende System bestätigt.

    Sigmund Freud, Fragen der Gesellschaft

    Freud entschlüsselte nicht bloss das Ich. Freud war meines Erachtens auch ein empfindsamer Soziologe. Seine kulturkritischen Schriften erhellen gesellschaftliche Abgründe. Ich möchte vor allem Das Unbehagen in der Kultur sowie Totem und Tabu als Pflicht anraten. Im Unbehagen der Kultur erzählt Freud die Geschichte der Urhorde. Der aufrechte Gang entblösste die Genitalien, zwang den Menschen zu einer autoritären Vaterherrschaft. Die unzufriedenen Söhne der Urhorde ermordeten schliesslich ihren Vater, da dieser alle Frauen sexuell beanspruchte.

    Auf Reue, auf Scham folgten die ersten Tabuvorschriften. Damit startete die sogenannte Kultur; eine ewige Sublimierung der Libido. Die Naturbeherrschung einerseits, die Beherrschung des wilden Weibes andererseits drückten diese Sublimierung ebenso aus wie die strenge sittliche (Sexual-) Moral diverser Kulturen. Aber eben, das Unbehagen in der Kultur konnte nie restlos eliminiert werden. Freud erklärt für seine Zeit zeitgemässe gesellschaftliche Phänomen mit dieser unterdrückten Sexualität. Freud behielt Recht; in Freuds Schriften lesen wir die Idee einer übersexualisierten Gesellschaft aber das erste Mal und in gewisser «Unschuld», welche die heutige Schriften, so auch die meinigen, vermissen lassen.

    Was sonst noch?

    Diese Bücher genügen nicht, um einen jugendlichen Charakter zu formen. Sie können einen Charakter durchaus ergänzen. Wer’s wirklich ausgewogen-ausgeglichen mag, dem empfehle ich die berühmte Liste der ZEIT, die mit einem eigenen Wikipedia-Artikel geehrt ist. Darin sind die wahren Klassiker versammelt. Und natürlich an erster Stelle ist die Bibel. Das Buch der Bücher, das nebenbei eine grosse Weltreligion begründete.


  • Eine Welt ohne Sexualität

    Die Sexualität reduziert unser Lebenszweck auf die reine Arterhaltung. Im Verhalten der Menschen setzen Muster sich durch, wie sie Sex erreichen können. Man kann sich schmücken oder wie Italiener mit kitschigen Tattoos sich zieren, man kann sich bilden, man kann Witze erzählen, man kann sich selber darstellen, man kann Geld häufen.

    Es sind nicht die Variationen, die mich faszinieren. Mich fasziniert, dass der Sexualtrieb weiterhin so dominiert. Wir könnten uns eigentlich über wichtige Themen, über die grossen Krisen der Zeit auslassen. Wir könnten Lösungen erarbeiten, um den Welthunger zu besiegen. Das tun wir, aber nicht in der Masse, die nötig dazu wäre. Verborgene und den Meisten nicht zugängliche asketische Menschen tüfteln für und an einer besseren Welt.

    Stattdessen verschwenden wir Lebensenergie, um Sex zu haben. Mehrere Industrien begleiten diese unendliche Sehnsucht. Inwiefest wir befriedigt sind, mag ich bezweifeln. Dennoch beklagen wir niedrige Geburtenraten. Das ist mein, ein grosser Widerspruch. Einerseits so sexualisiert, andererseits so unfruchtbar! In den grossen Weltstädten hat man zwar Sex, gleichzeitig aber kaum Kinder, kaum Verpflichtung und Bindung. Die enthemmte Sexualität ist ein Experiment unserer Zeit, das durch dating apps über ganze Dörfer sich ausbreitet.

    Wir mechanisieren die Sexualität. Wir entkoppeln Sexualität mit Bindung, mit Fortpflanzung. Die Sexualität ist bloss noch ein Zeitvertreib. Ein Antidepressiva, ein süchtigmachendes Opiat. Die Frauen werden kalte Muschis. Sie überbieten sich mit Obszönitäten; die einen gurgeln Sperma, die anderen hüllen sich in billigen Stoffen. Die Männer besingen ihre Freiheiten. Wollen heute die eine, morgen die andere. Und überschätzen ihre Manneskraft. Wenn sie keine Erektion haben, beschuldigen sie die kalten Muschis.

    Natürlich betrifft mich das alles irgendwie auch. Zwei Optionen habe ich. Die eine beschwört die romantische Liebe, diese kleine Verschwörung gegen die Welt, dieser kleine Widerstand, um gegen die kalte Welt zu trotzen. Ein sicherer Hafen, wo man frei ist. Wo man verstanden ist. Wo man sich entfalten kann. Wo man gemeinsam wachst. So wie einst auch hier dargestellt.

    Doch die andere ist die finale Entkoppelung der Fortpflanzung von Sex. Ich will damit nicht das Klonen andeuten. Sondern die planmässige Zucht. Der Menschenpark. Ausgewählte Trägerinnen, genetisch einwandfrei, werden mit aufgewerteten, weil künstlich verbesserten Spermien geschwängert. Diese Trägerinnen werden staatlich verwaltet. Sie leben in Menschenfabriken. Sie produzieren on demand Nachwuchs. Eine Art Sexsteuer finanziert das alles.

    Sobald geboren, werden die Buschis mit Verbesserungen optimiert. Ich denke nicht bloss an alle möglichen Impfungen, sondern auch an alle möglichen Medikamenten, welche die Entwicklung begünstigen. Ebenso werden die Kinder planmässig herangezogen. Man bildet Techniker, Intellektuelle, Arbeiter, Sportler, Komiker. Die Erziehung ist keine Privatsache mehr, sondern ein grosser gemeinschaftlicher Zivilisationsakt. Nichts ist zufällig.

    Ich erhoffe mir davon, dass die menschliche Sexualität dadurch endlich als beliebiges Konsumgut abgewertet werden kann. Eine tauschbares Gut. Eine explizite, aber institutionalisierte Befriedigungsindustrie lindert die schlimmsten Sehnsüchte. Die Befriedigung kann sowohl real inform von anerkannten Liebeshelfern als auch virtuell mit einer direkten Mensch-Maschine-Schnittstelle dosiert werden. Nichts ist zufällig.

    Wer mich kennt, weiss, was ich bevorzuge. Ich möchte meine erste Option lösen.