Die nicht nachhaltige Krise

Gegenwärtig ist der Staat reaktiviert. Der Bundesrat hat gewisse Autorität gewonnen. Das Parlament ist faktisch ausgeschaltet. Der Notstand regiert. Solange diese Zustand terminiert ist, bin ich entspannt. Die Bevölkerung ist hörig. Die Temperaturen steigen. Die Kulturindustrie flüchtet ins Virtuelle. 

Die Meme-Produktion blüht. Das Internetz ist voller Witz und Unfug. Das Internetz verbindet. Die grossen Pornoseiten trösten. Die sozialen Netzwerken sind plötzlich wieder hip und cool. Und Videokonferenzlösungen retten die Unternehmen. Man chattet, schreibt, telefoniert. Man ist vernetzt dank Internetz. 

Die ersten psychologischen Krisen überfallen einzelne Familien. In meinem Umfeld habe ich bereits einige registriert. Noch ist die Sinnkrise keine Pandemie. Das warme Wetter beruhigt. Auch ist die Corona-Lage nicht ganz so ausweglos. Bald muss der Bundesrat die Massnahmen lockern. Bald werden wir alle wieder ausgehen und feiern können.

Überhaupt spüre ich keine grosse Unruhe. Die Menschen sind wie Ratten und passen sich an. Ich hätte mehr Widerstand erhofft. Selbst im rauen Basel sind die Jugendlichen einigermassen gesittet. Grössere Gruppen werden nicht gebildet. Das nächtliche Besäufnis beschränkt sich in den eigenen vier Wänden.

Doch möglicherweise trügt die Ruhe. Ich freue mich auf jede weitere Woche Quarantäne. Ich beobachte das Schicksal der Bevölkerung neugierig. Werden wir doch noch alle wahnsinnig? Werden wir doch alle die Sinnlosigkeit unseres Daseins anerkennen? Oder werden wir doch normal funktionieren, arbeiten uns an die Empfehlungen halten? 

Ich hätte mir von Corona mehr Spektakel gewünscht. Es ist geradezu langweilig geworden. Auch die NZZaS, ansonsten brav alarmierend und stets aufgeregt, ist bereits Corona-ironisch. Mittlerweile werden die Vorteile der Selbstinhaftierung aufgezählt; die Luft sei viel sauberer geworden, die Natur könne Lebensräume zurückerobern. 

Ich leide, weil es nichts zu leiden gibt. Die Todesstatistiken berühren mich nicht. Die Todesfälle an der EU-Aussengrenze beschäftigen mich weitaus mehr; sie ergreifen mich. In diesem Jahr sind es “erst” 200 ertrunkene Flüchtlinge. Gleichzeitig sind in der Schweiz knapp 600 Menschen direkt-indirekt an Corona gestorben, davon 80% über 70-Jährige. 

Ich bin nicht erkaltet oder erstarrt. Ich relativiere diese Todeszahlen bloss. Die Flüchtlinge waren jung, hungrig und wollten ihre Verhältnisse ändern, damit sie wieder atmen und leben können. Unsere Senioren wären ohnehin gestorben – mit oder ohne Corona. Möglicherweise hat Corona etwas beschleunigt. 

Wir sind nun alle solidarisch. Das medizinale Personal ist plötzlich gewertschätzt. Man isst lokal, stützt die KMU. Man kauft füreinander ein. Man sorgt sich liebevoll um Senioren. Man kann die soziale Härte des spätkapitalistischen Systems beinahe vergessen. Wir feiern unsere neuen Helden; die Menschen an der Kasse, im Spital, in den Kasernen und sonstwo.

Doch es wird sich nichts ändern. Bald ist wieder business as usual. Alle Krisen sind vergessen. Die einzelnen Menschen mögen sich ändern. Aber die grossen Verhältnisse bleiben unverändert. Es ist das System, das uns erzieht und diszipliniert. Im System sind die Menschen stets anders als sie naturgemäss sind. 

Sobald das System wieder funktioniert, mit Beihilfe der Kulturindustrie zur Zerstreuung und Beruhigung der Massen, ist die nun erlogene Solidarität wieder verschwunden. Und wie nach jeder Krise müssen wieder nochmals “härter” werden, um die Folgen der Rezession abmildern zu können. 

Es werden ohnehin die geschickten und bereits erfolgreichen Unternehmen überleben. Die humanistischen Unternehmen werden aufgrund der Krise liquidiert. Wer gewinnt, sind die üblichen Verdächtigen. Die Technologiefirmen profitieren bereits jetzt. Sie sind Krisengewinner.

Sie werden noch mehr Daten sammeln und noch bessere Werbeinserate schalten können. Die jüngste Aufregung wegen der laschen Datenschutzpraxis von z.B. Zoom haben uns kurzweilig empört – wie vor einigen Jahren Facebook. Alles wird wieder business as usual, sobald der Bundesrat seinen Zügel loslässt. 

Ich will keine Zuversicht verderben, bekanntlich bin ich ja zutiefst zuversichtlich. Aber diese Krise war zu wenig dramatisch und vor allem zu temporär. Sie wird daher nicht nachhaltig sein. Tut mir leid. Mehr Corona bitte.