Die Kind-Eltern-Beziehung

Menschen, die es gut meinen, sind die gefährlichsten. Alle Eroberer kamen stets im Frieden, alle Missionare stets in grösster Frömmigkeit und jede Mutter stets mit den besten Absichten. Die Beziehung zwischen Kind und Mutter ist ohnehin bereits belastet durch die Entbehrungen der Schwangerschaft und Schmerzen der Geburt der Mutter. 

Die reinen Opportunitätskosten der Aufzucht sind kaum zu beziffern und können durch organisierten AHV-Erziehungsgutschriften mitnichten abgegolten werden. Jedes Kind hat bereits seit Geburt solche Lasten zu schultern. Entweder verpasst die Mutter einen kritischen Karriereschritt. Oder sie erkrankt als Hausfrau psychisch und moralisch. 

Die Hälfte aller Eltern trennen sich früher oder später. Das gemeinsame Kind ist oft als Vorwand einer Zweckbeziehung missbraucht. Das Kind, seit Geburt moralisch aufgeladen, muss schlimmstenfalls das Paarunglück der Eltern verantworten, die in eine Beziehung sich zwängen, die ohne Kind längst sich aufgelöst hätte. 

Es ist verzeihlich, dass auch Eltern überfordert sind. Niemand hat sie ausgebildet. Sie selber konnten bloss von ihren Eltern lernen. Das Leben ist naturgemäss komplex. Eine Droge, die uns alle sediert und maximal vereinfacht, ist momentan nicht mehrheitsfähig. Die Beziehungen zwischen den Menschen werden immer anstrengender und mühsamer. 

Die Lebensmodelle sind fragmentiert. Vorbildfunktionen sind überkommen. Man kann überall und gleichzeitig nirgends sich orientieren. Der Staat hat die Aufgaben der Lebensschule erfolgreich delegiert – oder nie innegehabt. Wir sind alle irrend, suchend und verzweifeln mitunter mehr oder weniger offensichtlich.

Oftmals sind die Vorwürfe einseitig. Kein Kind beklagt sich jemals bei der Mutter, dass es vernachlässigt wurde. Die Mutter ist der erste Bezugsperson eines jeden Menschen. Das fördert die Demut des Kindes. Doch jede Mutter ist geübt, das Kind vorwurfsvoll zu konfrontieren, dass sie das eigene Leben fürs Kind geopfert habe. 

Oft spricht die Mutter nicht bloss in Vergangenheitsform, sondern bezieht sich auch auf die Gegenwart. Es genügt also nicht, über Schwangerschaft, Geburt und Aufzucht zu wehklagen, sondern auch für die aktuelle, persönliche und/oder exakte Misere der Mutter behaftet zu werden. 

Man kennt das Verhalten auch als psychologische Erpressung: Das Kind mit Schuldgefühlen solange zu belangen, bis das Kind die eigene Bedürfnisse gegenüber der Eltern zurückstellt und sich unterordnet, damit der Kindesbeherrschungstrieb der Eltern befriedigt ist. Denn alle Eltern wollen ihre Kinder “kontrollieren” und sie in einer Ko-Abhängigkeit einfangen. 

Das ist ganz normal. Wie soll man denn etwas “loslassen”, worin man so viel investiert hat? Alle diese Entbehrungen sind vergebens, sobald die Ursache der Entbehrung sich befreit und lossagt. Daher ketten Eltern ihre Kinder solange als möglich – entweder finanziell oder mindestens moralisch, fürdass der Narzissmus der Eltern gestillt ist. 

Die Mutter hüllt ihren Narzissmus aber stets mit guten Absichten. Sie sorge sich bloss, sie wolle doch bloss das Beste bezwecken. Keine Mutter begreift aber, dass das Zeitfenster mütterlicher Fürsorge längst geschlossen ist. Dieses fragile Fenster der Möglichkeit der Mutterliebe beschränkt sich im Wesentlichen auf die ersten sechs Lebensjahren.

Danach folgt die kontinuierliche Abnabelung und Verselbständigung des gesunden Kindes. Mutterliebe bei einem 40-jährigen Kind ist bloss noch absurd und narzisstisch und unterdrückt die Selbstentfaltung des Kindes. Ein Kind, das auch noch Jahrzehnte nach der schmerzvollen Geburt bemuttert ist, fällt eher der gesellschaftlichen Barbarei heim. 

Denn niemand kann das Kind retten. Es ist auf sich selber zurückgeworfen. Keine Mutter mag das Kind vor der gesellschaftlichen Barbarei und den Herausforderungen des komplexen Lebens schützen. Wir sind alle alleine. Wir können uns notfalls eine neue Familie zimmern, die mit einer ähnlichen Ausgangslage herausgefordert ist. 

Die Eltern sind keine Lebenshilfe mehr. Stattdessen erdrücken sie einen mit ihrem Narzissmus; mit ihrem penetranten Streben nach Anerkennung, Aufmerksamkeit, Ko-Abhängigkeit und das Beherrschen- wie Rettenwollen. Die Kind-Eltern-Beziehung ist dadurch künstlich erschwert und vor allem entfremdet.

Die Missverständnisse häufen sich. Nichts mehr ist einfach und umgänglich. Alle Handlungen und Worte werden stets interpretiert. Das Kind meldet sich nicht? Ein Vertrauensbruch für die eine Partei. Die Eltern wollen bloss das Beste? Eine Bevormundung für die andere Partei. Die Beziehung ist eskaliert, die Muster sind beinahe nicht zu brechen. 

Alsdann ist das Kind gefordert, Muster zu überwinden. Das Kind muss sich distanzieren und Grenzen markieren. Das Kind muss das eigene Schicksal selber bewältigen – ohne Hilfe, auch wenn gut gemeint, der Eltern. Das Kind muss sich selber behaupten. Und das Kind muss eine neue Familie etablieren, die denselben Fehler der Erziehung nicht wiederholt.