Die derzeitige Konservative Revolution

Unsichere Zeiten beschwören sichere Werte. Die Menschen sehnen sich nach Ordnung, nach Regeln, nach Mustern. Damit man erklären und in der Welt navigieren kann. Damit man sich selber beruhigen kann. Damit man nicht ausgeliefert ist. Damit man seine Ohnmacht verstecken kann. 

Die derzeitige Weltordnung gleicht keiner Ordnung. Der Westen bröckelt, genauer seit 11. September 2001. Nicht der Anschlag selber hat den Westen verletzt, sondern dessen Reaktionen darauf. Zwei sinnlose Kriege, die Milliarden von Steuergeldern verschwendeten und haufenweise Kollateralschaden verursachten. Das waren vergeudete Jahren. 

Nun ist der Westen tatsächlich herausgefordert. Extern wie intern. Vor allem China möchte den Westen herausfordern. Noch nicht jetzt, die Zeit ist noch nicht reif – aber irgendwann. Mit dem zweiten ewigen Herausforderer Russland ist der Westen bereits in einem Stellvertreterkrieg verwickelt. Ich möchte nichts prognostizieren – ich impfe mich mit Zuversicht. 

Die externen Herausforderungen sind beherrschbar. Sie könnten militärisch gelöst werden. Wesentlich komplexer sind die internen Herausforderungen. Diese können nicht mit China, Putin und so weiter externalisiert werden. Sie können nicht einmal konkret benannt oder verortet werden. Es gibt nicht den inneren Feind, den man wegsperren könnte. 

Wer bekämpft wen oder was? Der Westen ist keine homogene Gemeinschaft. Es ist keine Föderation. Westliche Politiker bemühen gerne eine internationale Staatengemeinschaft oder die regelbasierte Weltzusammenarbeit. Der Westen ist für mich lediglich eine Interessengemeinschaft, die manchmal nützt. 

So ist der Westen derzeit gestaltet. Die einzige Institution, die ambitionierter ist, ist die Union. Die Union ist derzeit aber geografisch begrenzt. Gleichfalls ambitioniert, aber vergeblich ist die UNO. Die UNO war seit jeher machtlos – war sie bereits während des Kalten Krieges. Gut, dass sie wenigstens existiert. 

Der Westen ist für mich also eine opportunistische Interessengemeinschaft, die in wechselnden Allianzen innerhalb sich zeigt; es gibt ein Westen unterschiedlicher Geschwindigkeiten – und alle ihre Anstrengungen sind unausgerichtet. Es gibt gemeinsamer Nordstern, der orientiert, verbrüdert oder Entbehrungen rationalisiert. 

Wohlgemerkt projiziere ich mehr in den Westen, insbesondere in die Union. Sie ist ein notwendiger Zwischenschritt zu einer Weltföderation. Aber momentan sind die Hälfte aller Demokratien im Westen beschädigt, der Materialismus und Hedonismus begeistern Massen und finanzielle wie geistige Armut mehren sich. 

Und dabei bin ich noch wohlwollend und zweckoptimistisch. Der Westen ist sehr verwundbar, unvollkommen, sehr schwierig zu legitimieren oder zu beschönigen. Der Zustand ist beschissen. Was fehlt, ist das gemeinsame Ziel, die gemeinsame Ausrichtung, die wahrhaftig alle eint und Distanzen oder Kulturen überbrückt. 

Und gerade während dieser Ziellosigkeit, die auch selbstzufrieden, arrogant und verzweifelt gleichzeitig anmutet, ist der Westen hauptsächlich intern bedrängt. Ich kann nicht alle westlichen Populisten auflisten; ich beginne mal mit den offensichtlichen wie Le Pen, Trump, Johnson, Berlusconi, Haider, Kurz, Petry, Weidel, Blocher, Orban, Kaczyński, Modi. 

Ich habe vermutlich südamerikanische wie asiatische Populisten vergessen. Man verzeihe mir. Vermutlich auch dänische, schwedische und holländische, spanische und portugiesische. Und in Italien ist meine Liste sicherlich nicht komplett, allerdings überblicke ich seit Jahren nicht mehr die Verhältnisse in Italien. Ich habe es aufgegeben. 

Diese hauptsächlich Männer, aber auch Frauen verbindet eine gemeinsame Mission. Sie sind wesensverwandt. Sie sind Verführer. Sie können die Welt reduzieren. Indem sie ihre Welt auf die Vorstellung ihrer Nation verkleinern. Dein Land zuerst. Zudem ordnen sie die Haltung. Sie wollen sich befreien von der Beliebigkeit des Westens.

Sie wollen die Haltung klären, Identitäten stiften, Werte versprechen. Sie führen mit Klarheit, mit Mission und sind daher so verführerisch. Sie haben einen Auftrag – sie alle. Entweder befreien, trennen, gewinnen oder ignorieren. Sie begeistern die nationalen Massen. Aber sie optimieren bloss lokal.

Der Westen profitiert nicht als Gesamtheit. Es ist immer bloss ein lokaler Nutzen. Sie unterminieren das Ganz-Grosse. Vermutlich nicht wissentlich. Ihre Haltung gleicht jener der Konservativen Revolution – ein erst im Nachhinein bestrittener Begriff für eine Sammlung von Geisteshaltungen während der Weimarer Republik. 

Sie verurteilen die liberale Demokratie als ungezügelt, dekadent, verweiblicht, als zu internationalistisch, zu pöbelhaft oder als zu elitär. Sie jagen das Establishment, um selber sich zu etablieren. Sie garantieren Klarheit in der Geschlechterfrage, in der Erziehung, in der Ernährung oder ob man sich impfen solle oder nicht. Sie haben eine Alternative.

Für mich gibt es keine Alternative. Ich leide in dieser Zwischenkriegszeit. Weil niemand die Menschen zu einer echten Weltföderation animiert. Auch das globale Klima kann nicht mobilisieren. Weil das ist keine Idee, die begeistert, sondern empört. Und mit Empörung alleine kann man keine Gesellschaft bessern – höchstens alte Herren köpfen. 

Dieser innere Feind ist schwierig zu bekämpfen. Ich glaube, dass ohne gemeinsamen Nordstern der innere Feind nicht zu bezwingen ist. Weil wir so beliebig, unausgerichtet, so opportunistisch sind, kann man den Westen jederzeit und beinahe überall angreifen. Es war nie einfacher als heute Populist zu sein und sich selber zu bereichern. 

Wesentlich anspruchsvoller ist, den Westen tatsächlich zu vereinigen und auf ein gemeinsames Ziel auszurichten. Das bedinge Leadership – kein starker Mann, wie von den Populisten gewünscht. Sondern ein komplexer Mensch, der alle Wertesysteme aufspüren, annähern und auch aussöhnen kann. Der jeden versteht und jeder verstehen kann. 

Allerdings müsste dieser Mensch sich zunächst in den westlichen Wahljahren behaupten. Er müsste sich verbiegen respektive Widersprüche aushalten könne. Er müsste das und sich auch gleichzeitig vermarkten können. Er müsste authentisch bleiben – trotz der Gefahr der korrumpierenden Macht oder des gleichsam korrumpierenden Geldes. Wer das wohl kann?

Für den inneren Feind gibt es keine vergleichsweise einfache militärische Lösung. Der innere Feind müsste von Innen umfasst werden. Das gelingt bloss, wer eine Identität, Vision authentisch, gleichzeitig charismatisch und begeisternd kommunizieren kann. Und das ist letztlich auch Teamarbeit – das kann kein einzelner Mensch bewältigen. 

Alleine diese Erkenntnis kann ernüchtern. Weil niemand uns erlösen wird – bloss wir selber, wenn wir uns zusammentun. Wir können also auch keine Verantwortung wegdelegieren. Wir können nicht warten, bis der Erlöser sich erbarmt. Weil das ist bereits die Erzählung der Konservativen Revolution: Der handelnde und zumeist männliche Mann, der ordnet.