Das gefährliche Leben

Das Leben gefährdet uns. Deswegen wollen wir’s im Griff haben. Deswegen mitigieren wir alle möglichen Risiken. Deswegen ernähren wir uns gesund; verpönen das Rauchen und unkontrollierte Trinken. Wir blinken vorm Abbiegen. Wir impfen uns vorm Tropenurlaub. Wir schützen unseren Geschlechtsverkehr. Weil wir verängstigt sind.

Wir studieren Erziehungsratgeber. Wir konsultieren in jeder Lebensfrage unseren Psychologen. Wir recherchieren im Internetz über alle Medikamente und Inhaltsstoffe. Wir bauen Mauer, wir wählen SVP. Wir verbieten unseren Kindern den Sandkasten. Wir versichern unseren Todesfall. Wir reisen nicht nach Israel.

Das Leben überrascht uns mit lauter Komplikationen. Wir rüsten uns mit Vitaminen. Wir investieren in eine künftige Privatpflege. Das Leben ist eine grosse Gefahr. Wenn wir eine Strasse überqueren, könnten wir überfahren werden. Wir könnten jederzeit sterben. Hier ein Flugzeugabsturz, dort ein Terroranschlag. Hier ein Virus, dort ein Bakterium.

Das Leben ist fragil, verletzlich. Es kann jederzeit auseinanderbrechen. Unser kompletter Organismus funktioniert bloss als Einheit. Kopf und Bauch sind gekoppelt. Dennoch überlebten wir eine Eiszeit. Die Menschheit hat sich erfolgreich vermehrt. Wir haben die Pest, Pocken und die Nazis besiegt. Auch Hiroshima und Nagasaki haben wir bewältigt.

Wir spalten Atome, wir befruchten künstlich. Wir beschleunigen Teilchen. Wir erforschen das Sonnensystem. Wir tauchen in die Tiefen der Meere. Wir besiedeln Wüsten. Wir verwüsteten Ländereien, wir eliminierten industriell komplette Rassen. Wir verblöden im Film und Fernsehen. Wir verstopfen unsere Arterien mit Dreck. Dennoch leben wir.

Wir werden als Rasse fortbestehen. Wir müssen uns nicht fürchten. Ich kann somit alle Menschen verstehen, die keine Haftpflichtversicherung abonnieren möchten. Ich kann alle verstehen, die gerne und riskant gratwandern. Ich kann die Zuversicht und den Optimismus verstehen, der uns alle beseelt und motiviert. Lassen wir uns nicht einschüchtern.