Der Alkohol tröstet die Menschheit seit mehr als viertausend Jahren. Alkohol tröstet mich erst seit 16 Jahren. Zudem pausierte ich zwei Jahre lang; von 18 bis 20. Ich hatte als Jugendlicher Alkohol missbraucht. Daher wollte ich bremsen. Ich trinke also seit 14 Jahren. Ich möchte meinen Konsum heute reflektieren.
Alkohol euphorisiert mich. Ich kann mit Alkohol mich beschleunigen. Als 17-Jähriger konnte ich alkoholisiert Treppen herunterpurzeln. Ich konnte nächtelang feiern, ohne einen Atomkater erleiden zu müssen. Alkohol verwandelt mich in ein unaufhaltsames, manisches, hyperaktives Reizwesen. Ich kann mit Alkohol leichter interagieren. Ich bin enthemmter, ich bin redseliger.
Allerdings verringert Alkohol mein normalerweise solides Benehmen. Ich möchte noch mehr provozieren, auffallen, negative Aufmerksamkeit saugen. Ich werde noch ungestümer, unberechenbarer als bereits nüchtern. Das kann Sozialkapital vernichten und schadet meiner allgemeinen Reputation. Ich laufe dann sozial Amok, zielstrebig und im vollen Bewusstsein.
Alkohol befeuert meinen latent selbstzerstörerischen Todestrieb. Die grosse Sehnsucht, mein Leben zu ruinieren, mein Leben zu beenden. Alles hinzuschmeissen, alles aufzugeben, einfach alles niederzuschmettern, alles zusammenbrechen zu sehen. Das ist der ultimative Hirnfick, ein Rausch. Der Seiltanz, die Gratwanderung. Das grosse Motiv dieses Blogs notabene.
Alkohol ist in dieser Hinsicht ambivalent. Alkohol bejaht einerseits das Leben. Andererseits verneint der Alkohol das Leben. Ich reagiere Sowohl-Als-Auch und nicht eindeutig. Das verkompliziert einen und meinen normalen Umgang mit Alkohol. Wenn ich trinke, dann überspanne ich mein Glück. Ich trinke solange, bis ich nicht mehr kann. Ich muss zwar nicht erbrechen, aber ich will meine Grenzen testen. Dann erfrische ich mich mit Wasser.
Mittlerweile habe ich mich gebessert. Früher konnte ich nicht einfach «eins ziehen». Früher veranstalteten wir sogenannte futuristische Massakerabende. Diese konnten täglich sich ereignen, ohne jegliche Vorwarnzeit. Wir verendeten stets dämmernd, lallend und in grössten finanziellen, sozialen und/oder allgemeinen Trümmern. Die fotografische Beweislage kann einen zuweilen erdrücken.
Ich will den Rausch nicht verherrlichen oder romantisieren. Alkohol ist aber nicht grundlos erfunden respektive zufällig entdeckt worden. Der Mensch möchte sich stets überwinden. Der Mensch möchte vergessen oder sich befeuern. Alkohol ist ein Ersatzmittel, der grosse Trost der Menschheit. Es ist die Volksdroge, es ist unser Soma. Wir anerkennen das, wir respektieren die kulturelle Leistung des Alkohols. Aber sorgen uns gleichzeitig.
Nicht bloss mein Umgang mit Alkohol ist ambivalent. Das ist ein universaler, weil grosser Verblendungszusammenhang, um den Klassiker zu strapazieren. Wir verleugnen die alkoholisierte Realität. Und alkoholisieren uns deswegen umso mehr. Und ich projiziere das aufgrund meines normalen Grössenwahns auf mich selber und möchte damit mich rechtfertigen, erklären oder was auch immer. Oder mich mindestens ergründen.
Doch ich möchte zurückkehren und kundgeben, wieso ich trinke. Ich lebe gut. Ich habe keine Traumata zu ertränken. Bloss das Weltgeschehen betrübt mich. Oder wenn ich fernsehe, dadurch mit der Realität konfrontiert werde. Ich lebe also gut. Ich bin glücklich. Gewiss giere ich nach mehr von allem und von allem mehr. Aber technisch müsste ich mich nicht beschwipsen. Mein Leben bewegt mich zu sehr. Ich erlebe und liebe.
Also wieso muss ich trinken? Ich beklage schliesslich keine Depression. Ich fürchte weder Zukunft noch Vergangenheit. Ich scheue nicht die Tat oder eine Entscheidung. Ich widerspreche allen Klischees eines trübseligen, weltschmerzenden Alkoholikers; eines Intellektuellen irgendwo zwischen A1 und A2, eingefroren und zeitlos im Nebel auf verlorenem Posten harrend, flehend den Untergang erwartend, ohne Ablösung oder Aussicht.
Nein, das bin nicht ich. Ich bin stattdessen im Leben verwuschelt, ich bin stattdessen drängend und sehnend. Ich bin motiviert und übereifrig. Ich müsste mich nicht sedieren, abstumpfen oder sonstwie quälen. Ich müsste nicht. Aber ich liebe das kantige, extreme Leben; living on the edge. Weil ich das Mediokre verabscheue. Und hier polarisiert mich Alkohol. Hier öffnet mich Alkohol.
Denn mit Alkohol kann ich einen Ausbruch dosieren. Mit Alkohol strukturiere ich meinen Ausbruch. Es ist mein Eskapismus. Ich bin täglich angepasst, ich bin täglich eingespannt. Ich marschiere täglich im Gleichschritt. Ich verstecke mich im Herzen des Kapitalismus›. Ich agilisiere Unternehmen, ich automatisiere Prozesse, ich rationalisiere und spare Kosten. Ich steigere die Produktivität unserer Volkswirtschaft. Und ich kann’s verdammt gut.
Mein Beruf finanziert mich. Meine Leidenschaft investiere ich ins Private. Aber halt manchmal muss ich mich verausgaben. Ich zimmere mit Alkohol meine Umgebung; nur für Verrückte, nur für Entschlossene. Ich mag alle Menschen, die solche Augenblicke mit mir teilen. Sei es die R, sei es der R. und nochmals R. Sei es S. und O. Sei es schliesslich gewissermassen auch der M. wie der S.
Ich möchte, dass man mich begleitet. Ich wünsche mir einen kontrollierten Kontrollverlust, eine ordentliche Unordnung, ein planmässiges Chaos. Ich wünsche mir eine rationalisierte Irrationalität. Aber ich möchte stets in der Spur bleiben; Leitplanken achten und mich stets orientieren können. Ich möchte auch stets bremsen, umkehren, heimkehren können. Ich möchte mein Rückfahrticket behalten.
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