Darf die Gesellschaft ein vierzehnjähriges Mädchen schützen, das aufgrund von Liebeskummer todessehnsüchtig geworden ist? Darf die Gesellschaft einer neunzigjährigen Frau das selbstbestimmte Sterben verbieten? Darf die Gesellschaft einer depressiven vierzigjährigen Frau den Selbstmord gestatten?
Beim vierzehnjährigen Mädchen tendiert die Mehrheit zum Verbot des Selbstmordes. Bei der neunzigjährigen Frau duldet unsere Gesellschaft den Freitod. Bei der depressiven vierzigjährigen Frau jedoch zweifeln wir. Ein Selbstmord in diesem Lebensabschnitt ist kein Nein zum Leben, sondern ein Nein zum Leiden.
Empathisch wie wir sind, können wir das Leiden mitfühlen. Wir können verstehen und akzeptieren, dass jemand in der Mitte des Lebens sterben möchte. Als Angehörige wollen wir auch nicht länger ohnmächtig dem Leiden zuschauen müssen. Wir wollen z.B. die vierzigjährige Frau gehen lassen – und sie nicht zum Leiden zwingen.
Die Gesellschaft fordert, dass wir Todessehnsüchtige unverzüglich melden. Die grossen Kliniken haben Notfallnummer bereitgestellt. Ein Notfallpsychiater kann einen fürsorglichen Freiheitsentzug aufgrund akuter Selbstgefährdung verfügen. Damit gilt der Betroffene vorerst als weggesperrt und somit vor sich selber geschützt.
Wir sind ermächtigt, über das Leben und Sterben zu richten. Alle Angehörige dürfen einen Notfallpsychiater konsultieren. Auch ich war schon in einige Ereignisse involviert und habe bereits dieser Nummer gewählt. Habe ich damals diese Person bevormundet? Habe ich selber entschieden, was richtig oder falsch ist? Durfte ich das?
Ich bin laizistisch. Ich kenne die menschlichen Abgründe, ich glaube, sie verinnerlicht zu haben. Ich kann den Wunsch nach der Erlösung nachempfinden. Ich kann niemandem den Tod verwehren. Ich will nicht darüber entscheiden. Ich könnte niemandem verbieten, zu sterben in dieser Welt. Ich bin ja selber technisch akut und stets suizidal.
Allerdings habe ich eine «rote Linie». Manchmal bin ich emotional diskreditiert. Ich bin nicht ganz unvoreingenommen. Wäre ich bloss neutraler Beobachter, wäre ich emotional distanziert, dann könnte ich noch mehr loslassen. Ich würde den Freitod eines Angehörigen akzeptieren und als Überforderung, Ohnmacht und Kapitulation deuten.
Aber bin ich enger verbunden, bin ich emotional aufgeladen und habe bereits viel investiert, dann spüre ich auch den Drang, zu helfen und den Selbstmord zu unterbinden. Weil ich diese Person vermutlich sehr mag oder gar liebe. Ich würde mich zwar zum Sterben anbieten, das Einschlafen begleiten, passive Sterbehilfe quasi.
Aber ich müsste innerlich kämpfen und mich überwinden. Ich müsste meine eigenen Bedürfnisse unterdrücken. Ich würde den Selbstmord widerwillig billigen. Ich würde mir sogar meine «Unschuld» oder meine unterlassene Hilfeleistung bescheinigen und absichern lassen wollen. Sicherheitshalber.
Eine unterlassene Hilfeleistung bei einer Suizidankündigung ist nicht automatisch strafbar zwar, aber moralisch insbesondere im Umfeld der Betroffenen fragwürdig und bestreitbar. Ich, der den Suizid nicht verhinderte, müsste nachträglich die Angehörigen trösten? Wie fühle ich mich dabei?
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