Vermutlich starteten wir alle das Erwachsenwerden mit klaren Vorstellung. Mit klaren Vorstellung, wie und wie nicht wir leben wollten. Wir konnten uns gewiss abgrenzen. Manche wollten durchfeiern, drei Tag lang wach bleiben, verreisen und unaufhörlich entdecken. Andere träumten früh vom Heimchen und Kindchen und Häuschen an der Dünner. Alles gültig, wahr.
Wir starteten mit einigermassen klaren Konzepten. Die Eltern, wenn anwesend und nicht gerade selber ausgehebelt, wollen uns weismachen, dass unser aller Leben irgendwie doch begrenzt sei, denn irgendwas forme und standardisiere und mässige uns stets. Sei es die Arbeit, der finanzielle Druck oder das andere Geschlecht. Freilich mit guten Absichten.
Sooderso waren wir nicht empfänglich für solche Ratschläge. Wir wollten reüssieren. Wir wollten bewegen, wir wollten empfinden, wir wollten Freiheit, Unabhängigkeit erlangen. Wir wollten uns nicht mehr länger rechtfertigen, für nichts und niemanden. Vor allem nicht für den Leichtsinn, unsere Nächte, Eskapaden und diversen Schulden.
Doch schon früh disziplinierte uns das Umfeld. Ob Matura, Lehre oder weder-noch, alle mussten liefern, mussten früh sich einordnen. Die unbeschwerte reine Schulzeit war rasch vergessen. Alsbald mussten wir Geld verdienen, Krankenkassenprämien kalkulieren, Sozialversicherungsabgaben inkludieren. Im System erwachsen.
Wir balancierten, seiltanzten. Der Wochenendrebell entstand, ein belastbares Konzept des permanenten und wiederholten Eskapismus. Montags bis freitags simulierten wir gewisse Normalitäten, kastrierten uns selber; gehorchten den Eltern und Lehrmeistern, den sozialen Anforderungen. Eine Schule des Lebens, Schein und Ordnung wahren.
Doch freitags konnte nichts uns nunmehr aufhalten. Wir waren entzündet. Die ersten Joints zirkulierten in der 2. Klasse der Regionalbahn. Wir alle verlängerten den Feierabend am Bahnhof, Dosenbier und noch mehr Marijuana. Ein Ausnahmezustand. Wir ernährten uns von Malibu Orange, Gummibärli, Bier und Hanf – bis sonntags.
Das war die kleine Illusion einer Freiheit, eines selbstbestimmten Lebens. Das Wochenende gehört uns. Wir dienten, verrichteten unsere Pflicht unterwöchig, doch am Wochenende waren wir frei und ungestüm. Das war unser Selbstverständnis, unsere Droge, unser Soma. Montags ärgerte aber eine unbestimmte Verspätung im Pendlerverkehr: Personenunfall.
Die ersten ernsthaften Paarbeziehungen etablierten sich. Das Wochenende war plötzlich auch Arbeit. Arbeit an der Partnerschaft. Zwecklose Beziehungen, nicht immer durch leidenschaftlichen Sex motiviert respektive legitimiert. Manchmal auch ein Funktionieren bloss, das dem unterwöchigen Ablauf glich, lediglich anders betitelt.
Das reduzierte die vormals maximale Wochenendefreiheit. Die individuelle Freiheit war nun als eine Verhandlungsmasse einer Paarbeziehung aufgedeckt; das Spiel mit Geben und Nehmen, mit Kredit und Schuld hat sich durchgesetzt. Das vormalige Lebensmodell war durchtrennt. Für unbefriedigenden Sex, für den Fernsehabend der ewigen Kompromisse.
Gewisse Paarbeziehungen verfestigten sich. Andere endeten in Kinder oder in Trennung. Wer konnte, flüchtete in flüchtige Beziehungen; in schnellen, oberflächlichen und unbefangenen Sex mit unbekannten Menschen, ebenso flüchtig kennengelernt um vier Uhr morgens oder im verruchten Internetz, wo vormals unvorteilhafte Frauen einen zweiten Frühling erleben.
Anderen konnten sich nicht mehr rechtzeitig retten. Deren Leben war immer mehr durchorganisiert. Nicht bloss die Paarbeziehung strukturiert den Alltag, sondern auch die nahenden Kindchen ruinieren den Rest der individuellen Selbstbestimmung. Kinder vernichten jeden Individualismus; sie entfremden vom eigenen Leben.
Seitdem trotten wir durchs Leben. Jeden vierten Dienstag im Monat dürfen wir zwei Stunden auswärts trinken. Doch maximal zweieinhalb Bier, nicht zu viel, denn wir müssen stets einsatzbereit sein. Das Natel observiert unsere latente Vergnügungssucht, Heimchen und Kindchen wachen und verurteilen jede Verspätung oder Nichtmeldung.
Wir freuen uns auf balde Ferien. Diese verdoppeln unsere Last. Wir spurten durchs fremdbestimmte Programm der Heimchen und Kindchen. Müssen entweder wochenlang an irgendwelchen fernen Stränden uns langweilen oder möglichst viele Sehenswürdigkeiten gleichzeitig besichtigen; irgendwelche aufregenden antiken Porzellansammlungen.
Glücklicherweise ist das Leben aber endlich. Man hat zwar gelebt, aber bloss ohnmächtig, ausgeliefert. Man ist zwar statistisch erfasst worden, doch einen Sinn konnte das Leben nicht stiften. Man stirbt als Sozialversicherungsnummer, die Nachwelt würdigt das Erbe und den steten guten Willen. Rasch ist man vergessen. So wie man sich einst selber.
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