Wofür bin ich dankbar?

Ich habe mich längst mit etlichen Privilegien arriviert. Meine übliche Wohnsituation, die besonderen Umständen derzeit ausgenommen, ist sehr komfortabel. Ich habe alles, was man zum gediegenen Leben benötigt. Gewiss wäre noch Eigentum erstrebenswert, aber das ist mit der jetzigen Einkommenssituation nicht zu finanzieren. Ich habe Tumbler, Abwaschmaschine, eine begehbare Dusche, eine Badewanne, technisch genügend Stauraum, einen grosszügigen und schattigen Balkon mit direktem Blick auf die A2 und Wohnateliers der lokalen Berufskünstler. Das ist alles sehr angenehm. 

Zudem habe ich eine wunderbare Tochter, die hauptsächlich mich anstrahlt und – obwohl sie spezielle Bedürfnis hat – eigentlich ziemlich bedürfnisarm ist. Sie braucht Aufmerksamkeit, Nähe und ihre Esswaren – fertig. Natürlich erfordert sie Pflege, aber sie ist dankbar und vor allem mit mir gnädig. Man kann sich kaum eine bessere Tochter vorstellen. Natürlich vermisse ich auch das normale Familienleben, aber das ist ohnehin vergebens und bloss eine Illusion der Kinder, dass sowas überhaupt funktioniere und Glück verspreche. Ich kann echt nicht klagen.

Ich bin sogar sozial einigermassen eingebunden, ich bin Teil einer kleinen Bewegung Oltens. Wir sind unbedeutend und ohne jeglichen sozialen Einfluss. Wir bespassen vor allem uns selber. Das ist okay. Der Zusammenhalt existiert, auch wenn die Exponenten verteilt und persönlich mannigfaltig herausgefordert sind. Wir können uns aufeinander verlassen – lediglich IT-Support bieten wir kaum, weil einige besser mit Computer als mit Menschen umgehen können, vermutlich auch ich. Man könnte in meinem Alter auch bereits vollends vereinsamt sein. Ich bin es nicht. Ein Jugendfreund wohnt sogar ebenfalls in Basel, wir treffen uns sporadisch und unternehmen Gemeinsames.

Meine Arbeit ist natürlich auch sehr aussergewöhnlich. Ich bin sehr flexibel, auch wenn meine Arbeit kaum planbar ist. Ich weiss selten, was mich morgen erwartet. Ich kann mich bloss einige Minuten vorbereiten. Ich muss stets improvisieren, bin ständig in einem neuen Kontext unterwegs. Ich lerne, zeitgleich vermittle ich Wissen und Erfahrung, ich kann wirklich helfen. Ich befeuere und befreie Organisationen. Ich arbeite auftragsbezogen. Alle Aufträge sind terminiert. Sie sind endlich. Ich kann mich stets notfalls abgrenzen, weil ich ausserhalb des Systems schwirre. Ich bin selten Teil des Problems, sondern ich bin die Lösung. Ich agiere gelegentlich als Diva. Ich regle meine Arbeitszeiten selber. Ich bin nicht auskunftsfähig über mein Feriensaldo. Ich walte mit «Gefühl». Manchmal verstecke ich mich seit Corona im Homeoffice, ich trete bloss virtuell an. Ich sitze in Badehosen in meinem klimatisierten Homeoffice, ich esse Burger mittags, spaziere morgens und abends. Weil ich kann und will. Ich bin gleichzeitig abhängig und unabhängig. Ich weiss, dass die wenigsten Menschen so arbeiten können. Mein Einkommen dabei ist bemessen, wer es nachfragt. Und alles ist legal und ich kann es auch moralisch vertreten. 

Auch mein Körper und ich sind okay. Mein Körper ist für Burger und Cordon Bleu optimiert, Weissbier verträgt er auch sehr gut. Ich putsche mich mit Redbull und Zigaretten. Vermutlich lebe ich ungesund, ich erhalte die Rechnung dereinst. Aber ich fühle mich nicht wie 37. Ich konnte zwar den Zerfall einer ehemals lebenshungrigen Frau beobachten, die aber sturr und trotzig alle Anzeichen der natürlichen Alterung ignorierte und kaschierte, sofern möglich – dennoch ist mein Zustand trotz körperlichen Schulden einigermassen vertretbar. Ich habe seit einigen Wochen etwas zu bemängeln, mein rechtes Auge zuckt gelegentlich. Ich vermute, dass ich insgeheim sehr gestresst bin, was sich auch in meiner privaten Wohnungssituation zeigt. Ich spekuliere, dass sich das rechte Auge bald beruhigt, als ich endlich meine Wohnung eigen heissen kann. Ansonsten starten Abklärungen, die oftmals Psychosomatisches diagnostizieren. Hierfür kann ich mich dankbar schätzen. Natürlich weiss ich auch um meine «Baustellen»; Rücken, Computer-Hände, mangelnde Bewegung. Eventuell kann ich mit einer aktiven Sexualität einiges kompensieren. Vermutlich nicht, aber sicherlich hinauszögern.

Ich kann also sehr gut dankbarst sein. Dessen bin ich mir bewusst, auch wenn diese Leiden hier häufig dramatisiert sind. Danke für alles.


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