Warum mich die EU weiterhin begeistert

Momentan wütet ja eine weltweite Pandemie, welche bloss bisherige Differenzen ausdifferenziert. Nord-Süd, Westen-Osten, Arm-Reich – alles ist nun maximiert und kaum mehr zu ignorieren.

Auch das Verhältnisse Schweiz-EU hat sich verschärft. 2020 endete die Erasmus-Übergangslösung. Die schweizerische Beteiligung am grossen EU-Programm ist nicht gesichert – oder wie das EDA formuliert, die Parameter der schweizerischen Beteiligung seien noch nicht definiert. Wie ich solche Formulierung liebe. 

Im 1. Lockdown war Europa grenzenlos zeitlang blockiert. Kein TEE überquerte fiktive und überholte Grenzen. Vielmehr schützte der frische Zaun nicht mehr länger bloss vor bösen Wirtschaftsflüchtlingen aus Bürgerkriegsgebieten, sondern auch vor potentiell mit Corona infizierten Menschen. Lediglich Grenzgänger waren irgendwie geduldet.

Was die Flüchtlingskrise zunächst mit grösstmöglicher Verlegenheit angedeutet hat, dass nämlich Grenzen die Menschen dennoch begrenzen könnten, hat die weltweite Pandemie nun gekrönt und gewissermassen vollendet.

Die EU war die letzte supranationale Kraft, welche verheissungsvolle Impfstoffe gemeinsam beschaffte, wo Nationen sonst bloss sich selber am nächsten waren. Dass potente Nationen sich gleichzeitig autonom respektive zusätzlich eingedeckt haben, überrascht nicht. Denn auch in der Pandemie traut niemanden mehr der EU. 

Viele Menschen begreifen nicht, was ist die EU ist. Die EU ist nämlich das grösste soziale Experiment der Menschheit. Die EU ist das komplexeste soziale System, das Menschen geschaffen haben. Es ist die Idee, dass unterschiedlichen Nationen mit einer gemeinsamen Währung, Binnenmarkt und einen gemeinsamen Aussenpolitik geeint werden können.

Die EU ist die letzte Stufe vor der Weltföderation, die natürliche, nächste Evolutionsstufe der Menschheit, damit der gesamte Planet geeint ist. Weil alsdann die interplanetarische Allianz anstünde. Aber bis dahin muss noch viel Geschichte passieren. Die EU ist derzeit der spannendste Abschnitt dieser Geschichte. 

Die menschliche Zukunft ist bereits geschrieben. Es ist unvermeidbar, dass wir uns als Menschheit zusammenrotten und zusammenfinden müssen; dass wir unsere Grenzen überwinden müssen. Es ist die ganz natürliche, faustische Seele der Menschheit, die ins Unendliche strebt, welche die Geschichte jeher befeuert. 

Die EU verdeutlicht das Streben. Die EU kann vielfach rationalisiert werden. Ich begründe die EU nicht primär als Wirtschaftsbündnis, sondern als evolutionärer Zwischenschritt zur Weltföderation. Diese Idee ist derart kraftvoll, dass ich über die operativen Unzulänglichkeiten der gegenwärtigen Administration hinwegsehen kann.

Gewiss befremdet mich meine eigene «Nation». Ich arbeite ja auch für die nationale Sicherheit. Ich diene leidenschaftlich unserer Nation. Aber nicht, weil ich die Schweiz als endgültigen Zustand verehre, sondern weil ich die Schweiz als Modell für die EU vermute. Ein wenig mehr Schweiz in der EU statt EU in der Schweiz – das ist meine Maxime.

Die schweizerischen Institutionen auf die EU skalieren und zudem mit einer digitalen Demokratie modernisieren – davon träume ich heimlich. Allerdings weiss ich, dass derzeit mit diesem Traum keine Mehrheiten zu gewinnen sind. Weder in der EU noch in der Schweiz, insbesondere nicht in der Schweiz, aber vermutlich ebensowenig in der EU, würde man das Volk befragen. 

Die Menschen haben derzeit keine Kapazitäten, für Ideen oder Erzählungen sich zu begeistern. Europa ist eine Idee wie Erzählung gleichermassen. Doch die EU ist emotional sehr distanziert. Weil die EU ebengerade eine Spezialisten-Regierung ist; ausgestattet mit den hellsten und schönsten Geschöpfen Kontinentaleuropas.

Die Sorgen der Menschen sind aber vielmehr aufs Regionale und höchstens Nationale eingeengt. Für Europa ist keinen Platz. Nicht einmal in den Herzen. Die weltweite Pandemie überdeckt derzeit ohnehin alles, selbst die leidige Krypto-Affäre der Schweiz, die ich bislang auch zu erwähnen vergass. 

Ich kann es den Menschen nicht verübeln. Sie sind allesamt herausgefordert. Entweder bangen sich um Arbeitsplätze, um ihr Anlageportfolio oder um die Gesundheit ihrer Liebsten. Die Bedürfnispyramide vereinfacht hat Brecht mit der Aussage, zuerst das Fressen, dann die Moral.

Das mag zutreffen und trifft auch fortwährend zu, solange die Menschen in einem akuten Verdrängungskampf sich wähnen müssen. Es ist nicht bloss der klassische Verdrängungsmarkt im ersten Arbeitsmarkt, mittlerweile sogar im zweiten Arbeitsmarkt, sondern auch der sexuelle und soziale Verdrängungsmarkt, welche die Menschen fordert.

Unter diesen Umständen muss eine Idee derart begeistern, dass sie beinahe rauschhaft und somit eskapistisch ist – damit sie alle Alltagssorgen überlagern kann. Die EU derzeit ist das gewiss nicht. Der EU fehlt das Sendungsbewusstsein. Die EU ist zuwenig «Nordstern». Die EU müsste sich als Überwinder und Befreier der Menschheit zelebrieren.

Die EU müsste sich als notwendiges Übel bis zur Weltföderation inszenieren. Als das grösste soziale Experiment in der Menschheit, das sie auch wirklich ist. Die EU müsste sich weniger als Regulierer, sondern vielmehr als Beschleuniger der menschlichen Evolution wahrnehmen und demgemäss sendungsbewusster sein. 

Mit einem radikalen Nordstern kann die EU die Menschen kommunikationstechnisch orientieren. Die EU kann die derzeitigen Entbehrungen wie einen Brexit oder eine weltweite Pandemie weglächeln, dies seien bloss notwendige Prüfungen für die nächste Weiterentwicklungen. Alle Lebensphilosophien, alle Religionen funktionieren so.

Die EU muss also mehr Religion als Apparat sein. Die EU muss sich bekennen, was sie wirklich ist, nämlich das grösste soziale Experiment der Menschheit, das jenseits der Tagespolitik ihrer Legislative wie Exekutive ist. Ich liebe die EU, weil solange die EU existiert, kann ich auf eine Weltföderation hoffen; hoffen für eine Welt ohne Geld.


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