Ich bin ein Kleinstadtmensch. Ich bin kein Held der Kleinstadt, kein Stadtoriginal. Ich habe meine Kleinstadt-Karriere vorzeitig abgebrochen. Ich könnte weiterhin in der Kleinstadt thronen, in meiner Stammbar schlummern, dort gelegentlich mitschuften und die Zugezogenen imponieren.
Früher oder später wäre ich auch erneut politisiert worden. Ich hätte eine kleine freie Liste in der Kleinstadt begründet. Vermutlich wäre ich sogar irgendwie gewählt worden. Ich hätte mich fürs Grundeinkommen und für Kultursubventionen engagiert. Ich wäre in der Kleinstadt gut bekannt geworden. Man hätte mich gegrüsst. Ich hätte einen sicheren Kolumnenplatz.
Äussere Ereignisse haben mich aber ins Exil gezwungen. Dort friste ich seit jeher, bekanntlich auf vergebliche Ablösung. Was entstand, ist, dass ich Differenzen mittlerweile wahrnehmen kann. Ich kann vergleichen, weil ich beide Lebenswirklichkeiten lebe oder mindestens einmal gelebt habe.
Ich war in der Kleinstadt, ich bin in der Grossstadt. Ich wollte früher höchstens nach La-Chaux-de-Fonds oder nach Biel emigrieren. Diese Städte entsprachen meinem Lebensgefühl. Sie sind beide nicht gerade wohlhabend. Touristen visieren sie selten an. Sie sind irgendwo abseits, existieren dennoch. Sie sind unbemerkt, aber auch unbeirrt.
Die Kleinstadt versichert dir, dass du wichtig und dringend bist. Sie reserviert dir deinen Platz. Du hast eine Rolle. Du hast eine Aufgabe. Du kannst darin dich wohlfühlen. Die unterschiedlichen Lebenslinien kreuzen und verfangen sich stets. Man fühlt sich stets mit der Kleinstadt verbunden.
Dein Nachbar ist der grosse Bruder eines ehemaligen Kollegen aus dem Kindergarten, dessen Freundin dein Schwarm am Gymnasium war, die zuvor mit dem einzigen Verleger in der Stadt turtelte, bis er eine Frau aus der Nachbarstadt vom anderen Kanton importierte und sich am Sonnenhang gegenüber zurückgezogen hat.
Du bist mit allen Menschen irgendwie verknüpft. Deine Geschichte in der Kleinstadt ist die Geschichten aller und alle Geschichten sind auch deine. Du kannst problemlos ausgehen, ohne dich zu verabreden, weil du ohnehin jemanden triffst, den du kennst oder wieder kennenlernen möchtest, weil du ihm zehn Jahre lang zufällig nie begegnet bist.
Die Kleinstadt tröstet dich. Du kannst in der Kleinstadt nicht vereinsamen. Sie hört dir stets zu. Jede Strasse erinnert dich; deine erste Velotour nach erfolgter Veloprüfung, der erste Kuss, der erste Exzess, der erste Streit, der erste Unfall und alles das, was du bereits erfolgreich verdrängt oder schlichtweg vergessen hast.
Die Kleinstadt besteht und besteht mit dir. Sie weist dich zu, sie schützt und umarmt dich auch dann, wenn du sie betrügst, für kurze Zeit mit der Grossstadt flirtest. Aber in der Grossstadt wirst du schnell wieder vereinsamen. Du wirst in der Grossstadt bloss mit anderen Flüchtlingen aus deiner Kleinstadt dich vernetzen.
In der Grossstadt kennst du bloss Menschen, die mit deiner Kleinstadt verknüpft sind. Du bist mit niemanden in der Grossstadt original und ursächlich in der Grossstadt zusammengekommen. Umso grösser die Grossstadt, umso einsamer fühlt sich der Kleinstädter und sozialisiert sich mit seinesgleichen.
In Zürich vernetzen sich die Ostschweizer, die Thurgauer, die Solothurner, die Luzerner, aber auch die Deutschen untereinander. Man vermischt gelegentlich sich dort, wo eine gemeinsame Arbeitsstätte einander zusammenführt. Wohlgemerkt sind Dating-Plattformen keine sozialen Multiplikatoren, weil sie Kontakte auf die sexuelle Sehnsucht reduzieren.
Obwohl die Grossstadt mit einem Angebot protzt, ist der Kleinstädter nicht befähigt, es zu konsumieren. Man könnte täglich ein Konzert kosten, täglich neue Restaurants testen, man könnte etliche Ausstellungen besuchen, auch avantgardene in provisorischen Zwischenräumen. Die Vielfalt der Optionen verführt.
Der Kleinstädter ist hingegen routiniert. Er besucht immer denselben Ort, speist immer dasselbe und ist ohnehin mit seinesgleichen verbunden. Das grossstädtische Angebot ist verschwendet und vergebens. Der Kleinstädter ist in der Grossstadt versteckt. Das Überangebot subventioniert der Kleinstädter mit überteuerten Lebenskosten.
Ein mieser Deal. Ich glaube, du kannst bloss in den Zwanziger eine Grossstadt kennenlernen und dich vollends assimilieren. Zuvor und nachher wirst du stets ein Kleinstädter bleiben und dich damit auch begnügen. Ich habe selber keine Ambitionen mehr, grossstädtischer zu werden. Ich bleibe Kleinstadt.
Schreiben Sie einen Kommentar