Ich mag keine Ohnmacht. Gefühlt bin ich stets ohnmächtig. Seien es die nicht veränderbaren Verhältnisse, sei es der Weltgeist, sei es die Liebe oder sei es die Erkrankung meines Mädchens. Das Gefühl der Kontrolle ist bekanntlich eine Komponente des Glücks. Ausgeliefert ist niemand gerne.
Auch ich nicht. Ich kann etliche Momente der totalen Ohnmacht erinnern. Ein jüngstes Ereignis ist besonders dramatisch. Der epileptische Anfall meines Mädchens. Man kann nicht prognostizieren, wann ein solcher Anfall sich ereignet. Meistens sehr unerwartet und natürlich auch sehr unwillkommen, weil man bereits verplant ist.
Das Mädchen ist dann nicht mehr ansprechbar. Es zuckt, bevorzugt mit dem rechten Arm und dem rechten Bein. Man fürchtet, sie zerbeisst die Zunge. Sie ist erstarrt und schlaff gleichzeitig. Man kann sie kaum tragen oder transportieren. Man muss dann einige Minuten warten, ob der Anfall zurückweicht. Diese Minuten ähneln Stunden naturgemäss.
Danach muss man ein Valium rektal einführen, oder so. Auch als Tollpatsch sollte man nichts verschütten. Nun bangt man erneut einige Minuten, ob sich das Mädchen beruhige. Falls nicht, muss man den Notarzt anrufen. Das vorletzte Mal habe ich im Affekt den Notarzt zu früh benachrichtigt.
Diesmal habe ich gewartet. Als ich den Notarzt bereits meine Adresse mitteilen wollte, packte das Mädchen ganz belämmert meine Hand. Sie hat sich wieder «normalisiert». Doch ihre Augen, ihr Mimik war betoniert, ausdruckslos, gefangen. Sie war seitlich gelagert aufgrund akuter Erstickungsgefahr durch Erbrechen.
Eltern wollen sich ja um ihre Kinder sorgen, manchmal auch jenseits der gesellschaftlich tolerierten Altersgrenze. Eltern wollen ihren Kindern vermitteln, dass sie die Verhältnisse kontrollieren könnten. Eltern sind omnipotent, so die Perspektive eines bedürftigen, wehrlosen und verletzlichen Kindes.
Mein Mädchen kann ich aber nicht retten oder beschützen. Ich kann ihr auch nicht helfen. Ihre Erkrankung ist ursächlich nicht behandelbar, das alleine ist bereits eine unendliche Ohnmacht für die Eltern. Auch Symptome wie Epilepsie kann ich nicht verhindern. Ich kann bloss warten, die Minuten zählen und hoffen.
Wir haben uns alle an eine gewisse Ohnmacht gewöhnt. Wir können die kosmologische Konstante nicht beeinflussen. Wir können den Hunger der Welt nicht lindern. Wir können nicht allen Menschen eine Decke und Dach hierzulande garantieren. Wir können unsere liebgewonnenen Menschen nicht vor der Barbarei wahren.
Das ist alles okay und einigermassen hinnehmbar. Wir sind diszipliniert, beherrscht und dürfen stets unsere Möglichkeiten vergegenwärtigen. Falls nicht, werden wir freundlich gemahnt. Aber falls du nicht einmal dein Mädchen behüten kannst, das ohnehin nicht alleine lebensfähig ist – dann fühlst du dich schon recht mies.
In diesem Moment erleide ich auch einen kleinen Anfall. Ich werde sentimentaler, emotionaler und bedürftiger als normalerweise. Ich fühle mich verletzt, einsam und hilflos. In solchen Situationen wünsche ich mir bloss Nähe und Geborgenheit oder radikaler Stressabbau, z.B. mittels Sexualität.
In diesem Moment falle ich maximal auf mich selbst zurück. Ich bin zwar geschult, dass dort nicht viel bis nichts ist, dennoch übermannt mich der Moment. Gewiss werde ich den nächsten Anfall meines Mädchens leichter, gefasster und abgeklärter bewältigen können. Ich war bereits jüngst viel entspannter und weniger verwirrter.
Dennoch ist die Ohnmacht der Eltern, das Schicksal der eigenen Kinder nicht beeinflussen oder verändern zu können, wohl die grösste, die man irgendwie verkraften muss. Man kann bloss akzeptieren und sich arrangieren. Ich trainiere noch. Seien wir gespannt aufs nächste Mal.
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