Offenbar zähle ich zur lokalen Wirtschaftsprominenz. Was mich auszeichnet, ist mein formaler Titel im Handelsregister des fernen Kantons. Ich bin zufälligerweise dort aufgewachsen. Dorthin verpflanzt worden, wo alle entfliehen wollen. Ich besuchte jüngst einen Event, das Treffen der Unternehmer und Politik und Bildung.
Der noch fernere Regierungsrat des Kantons, der lokale Stadtpräsident, einige Vorsteher einiger thematisch irgendwie verwandten Departemente. Die Vertreter der grossen Bildungsstätten; der Kantonsschule und der regionalen Hochschule. Ferner die lokalen Unternehmerfamilien; Vater, Sohn und manchmal auch Frau. Sie waren alle versammelt.
Der Patron einer ansässigen Unternehmerfamilie ist diesjährig laudiert worden. Die Rede stotterte der Anwalt des Platzes. Den Details der Erörterungen zufolge sind sie einander vertraut. Der gewürdigte Patron fühlte sich allerdings unbehaglich. Als einziger Referent verzichtete er auf die explizite Anrede der staatlichen Würdenträgern.
Überhaupt erinnerte der Anwalt stets, dass der Patron aus «einfachen Verhältnissen» stamme und keine «schöne Kindheit» erdulden musste. Ein Unternehmer, der etwas dagegen unternimmt. Der Patron musste nachdoppeln, er sei weder intellektuell, studiert noch sonstwie beflissen. Er schloss mit dem Appell, man solle wieder mit der Nase riechen, was ist.
Sehr verwirrend. Ich glaube, ich habe ihn verstanden. Er wollte Menschlichkeit predigen dort, wo man sich im erschwinglichen Hugo Kaschmirmantel hüllt. Vermutlich ist diese Botschaft nicht angekommen. Überhaupt war der Event ungünstig getaktet. Das gesamte Programm staut sich vorm Mittagessen.
Um 13:00 erst erlöste der übliche Dank an die Sponsoren die Teilnehmenden und meinen Magen. Nun folgte das Netzwerken. Ich war mit einer Person vernetzt. Diese Person ist ein Abgesandter eines weltfremden und scheuen Patrons, der seine Millionen zum Wohle der Menschheit investiert.
Er finanziert Übungen zur Gewaltfreien Kommunikation an Spielplätzen, fördert Kinderkrippen und Projekte gegen Missbrauchsopfer. Ein eifriger Philanthrop. Ich durfte ihn in einem anderen Kontext kennenlernen; ein gebildeter, sensibler und aufgeklärter Mensch. Doch sein heutiger Abgesandter fühlte sich nicht wohl und verliess den Event rasch.
Ich selber kannte einige Exponenten vom Sehen her. Der lokale Versicherungsmakler hat den Event als Sponsor unterstützt. Damit erschlich der Blender sich Zugang zum Portfolio stumpfer, hemdsärmeliger und ländlicher Unternehmerfamilien, die er überversichern kann.
Hoffotograf war ein lokaler Künstler, der seinen Alkoholismus mit verlegenen Auftragsarbeiten zu überbrücken und zu vollenden versucht. Er fokussierte dabei die zwei einzigen jüngeren Frauen des Events. Das waren die abtretende und antretende Sekretärinnen des lokalen Wirtschaftsförderers, des Gastgebers des Anlasses.
Die beiden Frauen waren ihrer Position angemessen gekleidet. Die Herren standardisiert; dunkler Anzug, weisses Hemd, Mantel. Die einzigen jüngeren Herren haben einen studentischen Think Tank vertreten. Sie waren überangepasst. Die Haaren doppelt akkurat gekämmt, der Anzug vermutlich einmal getragen, die Schuhe frisch.
Sie suchten Investoren und «Challenges» für ihren Think Tank, der sich mit AI, Big Data, Digitalisierung und so weiter auseinandersetzt. Sie haben sich wohl in der Zielgruppe geirrt. Ich glaube, der lokale Bauunternehmer fühlt sich höchstens durch den kommenden Jahresabschluss herausgefordert.
Dazwischen tummle ich mich. Ich lausche den Gesprächen. Ein erwähnenswertes Thema war die grüne Welle. Er sei schon immer pro Natur gewesen, so ein stämmiger Unternehmer, doch nun müssen die Grünen liefern statt bloss zu lafern. Zustimmendes Nicken. Ich verschlinge grob geschnittenen Salami.
Fasziniert hat mich der Sohn des grössten lokalen Unternehmens. Der Sohn, ganz Sohn mit Werbeartikeln des Familienunternehmens gekleidet, mutete mir sehr labil an. Das Gesicht angeschwollen, fettende Haut, in der Statur deutlich schmächtiger als der anerkannte und respektierte Vater. Stets grinsend und Hände nervös schüttelnd.
Ein wenig Koks und Nutten – der arme Sohn wäre zerbrochen. Vermutlich ist er der Sünden der Nacht bereits einmal erlegen, hatte dadurch Vaters Gunst verloren, aber sie mittlerweile zurückerobert und mit der Vergangenheit kompensatorisch sich versöhnt. Heute ist er Delegierter des Verwaltungsrat, Geschäftsführer und Präsident einer Stiftung. Check.
Später habe ich den Event verlassen. Was habe ich gelernt? Was hat mich berührt? Werde ich wiederkommen? Das Impulsreferat hat mich fasziniert. Der Professor für Teilchenphysik und Astrophysik der ETHZ berichtete über die neusten Erkenntnisse, währenddessen mein Sitznachbar, schüchterner und unsicherer Assistent eines Chefs, jungen Frauen auf Instagram nachgeiferte.
Die Laudatio über den Patron wie die Dankesrede des Patrons haben mich aufgewühlt. Ich musste weinen. Das hat mich emotional betroffen. Deswegen werde ich auch wiederkommen. Weil ich eine neue Art Unternehmen repräsentiere, eine Art soziales Experiment. Ich fühle mich als überlegener Jungtürken. Und getrunken habe ich auch gut.
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