Über Geisteskrankheiten

Der Wahnsinn ist unsichtbar. Geisteskrankheiten können nicht vergegenwärtigt werden. Sie haben selten eine singuläre Ursache. Man kann höchstens Symptome diagnostizieren, oftmals bloss somatische. Doch äusserlich ist der Mensch gesund, ohne Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung. 

Die Geisteskrankheit ist eine Gratwanderung. Man kann sowohl normal funktionieren, das heisst berufstätig sein, soziale Netze spannen, Steuern im Vorbezug zahlen. Als auch das eigene Schicksal bedauern, schlaflose Nächte erleiden, für nichts zu motivieren sein. Gleichzeitig funktionieren, dennoch psychisch erkrankt sein. 

Ein fehlender Arm, ein fehlendes Bein behindern uns offensichtlich. Man kann womöglich den angestammten Beruf nicht mehr ausüben. Man muss sich umschulen. Die IV finanziert. Doch eine psychische Erkrankung ist nicht linear heilbar. Auch hilft keine Umschulung, das Unbehagen bleibt. 

Die Therapie ist mühselig und äusserst offen im Ergebnis. Man kann jahrelang die Kindheit rekonstruieren. Man kann Ängste, Sorgen und Bedenken bewusstmachen und endlich wahrnehmen. Doch damit löst man keine Krankheiten. Das erhöht bloss den Druck der Selbstheilung, nährt den Selbstzweifel, weswegen man nicht «normal» sei.

Die Therapien werden oftmals mit einfacher Medikation verwechselt. Die Psychiatrie ist überfordert mit der Komplexität des menschlichen Wahnsinns. Das war sie seit jeher. Die Methoden sind mittlerweile subtiler geworden. Elektroschocks oder ähnliche invasive Techniken sind überkommen. Stattdessen dominieren oberflächlich erforschte Psychopharmaka.

Wer einmal eingewiesen ist, ob selbst- oder fremdbestimmt, ist meistens fürs restliche Leben stigmatisiert und überdies registriert. Die Wahrscheinlichkeit, nochmals in psychiatrischer Behandlung zu enden, verdoppelt sich mit dem ersten Eintritt. Die Psychiatrie verstört ganze Lebensläufe. Sie entwurzelt den Menschen aus deren gewohnten Umgebung und simuliert stattdessen einen Tagesablauf, der zuhause niemals zu bewältigen wäre.

Die Psychiatrie war seit ihrer Begründung in einer Krise. Wir wollen aber nicht akzeptieren, dass wir Geisteskrankheiten nicht heilen können. Für mich sind sie unheilbar. Die Menschen müssen stattdessen angeleitet werden, wie sie trotz ihrer «Erkrankung» überleben können. Für mich ist das alleine eine Frage des angemessenen Ausdrucks.

Ausdruck ist die Technik, das Unbehagen, den Zweifel und die Unsicherheiten, aber auch Ängste, Sorgen und Bedenken angemessen «ausdrücken» zu können. Ausdruck hat unterschiedliche Formen. Sie variieren nach persönlicher Vorlieben und Fähigkeiten. Mal- oder Beschäftigungstherapien schärfen die eigene Ausdrucksfähigkeiten. Ebenso schulen Gesprächstherapien, sofern sie mit gezielten Fragen unterstützt sind, wirksame Ausdrucksfähigkeiten.

Medikamente verdecken bloss. Sie können die Ursachen nicht lösen. Medikamente mindern die Ausdrucksfähigkeiten, weil sie den Ausdruck komplett ignorieren und erübrigen. Wenn ich mich unwohl fühle, drücke ich aus. Ich suche meine Ausdrucksformen. Das ist meine «Gegenwartsbewältigung». Ausdruck sollte man aber nicht mit Eskapismus ersetzen.

Eskapismus ist die bewusste oder unterbewusste Realitätsflucht, umgangssprachlich die Ablenkung. Die heutige Kulturindustrie bietet ausreichend Angebote zur Realitätsflucht. Auch die etlichen Drogen begünstigen einen Masseneskapismus. Zudem besänftigen und zerstreuen Produkte der Kulturindustrie wie Serien, Unterhaltungsromane, Religionen. Das ist das grosse Versprechen der Kulturindustrie: Die Menschen zu beruhigen und vom Unsinn des alltags abzulenken.

Ich bedauere, dass die Psychiatrie hier noch nicht so gereift ist. Deswegen wollte ich früher mal dort wirken und die Psychiatrie revolutionieren. Mittlerweile bin ich resigniert. Die Psychiatrie ist eine gewöhnliche Bürokratie, die die eigenen Bedürfnisse befriedigt und sich verselbständigt und damit vom Menschen und dessen Gefühlen entfremdet hat. Gewiss humanisieren einzelne Exponenten die Bürokratie, diese wohlbekannten Ausnahmen. Doch sie bilden eine Minderheit, die sich vermutlich nicht durchsetzen kann.

Ich plädiere stattdessen also für eine Akzeptanz der Krankheit und für die Schulung angemessener Ausdrucksformen. Das stärkt die Fähigkeit der Gegenwartsbewältigung. Mehr Lebensphilosophie und Kunst statt Temesta und weitere Tranquilizer.


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