Ich distanziere mich vorm gesellschaftlichen Leben. Hier und da unterwandere ich eine Party, betrinke mich, lalle und zahle Lokalrunden. Manchmal muss ich bloss beweisen, dass ich noch überlebe. Ich überrasche dann ehemalige Bekannte, dass ich immer noch in Olten weile. Und nein, dass ich nicht nach Zürich ausgewandert sei. Nichtsdestotrotz, kürzlich besuchte eine Vernissage und Finissagge zweier Künstler. Der eine war mir vertraut, der andere nicht. Hier meine Besprechung.
Kunst beansprucht nicht, einem konkreten use case umzusetzen. Kunst braucht keinen Anwendungsfall. Kunst muss sich nicht bemühen. Dem trotzend mieteten die beiden Herren das Tattarletti. 100.- CHF für eine zwischengenutzte Liegenschaft, bevor im 2017 auch dort ein obligater Döner eröffnet und die Dönermeile Oltens triumphierend vervollständigt. Dass überhaupt Kunst «passiert», hat niemand registriert. In den letzten zwei Wochen haben die beiden Herren den Raum belebt. Ich habe weder den einen noch den anderen jemals angetroffen. Das stört nicht.
Als ich den Raum betrat, suchte ich nach Kunst. Doch eigentlich hatte ich nichts erwartet. Ich sehnte mich nach Leere oder wildem Sex oder nackten Puppen. Der Raum schien entrückt-entvölkert. Einige mit Wasser gefüllten Plastiksäcke hingen an der Decke, manche mit Wasserpflanzen verziert. Hier und da waren eine Bilderrahmen platziert. Der Mensch als Kunstwerk. Eine projizierte Aussenwand konkurrierte mit einfacher Lokalwerbung. Miniaturisierte Skizzen waren an die Wände gepinnt. Das war’s. Die Glasfront war noch verschmiert, okay.
Die Glasfront soll das Geschehen spiegeln. Konturen parkenden Autos, Umrisse sitzender Menschen. Das liess sich gut und gerne abzeichnen. Manchmal blosse Geschwindigkeit, manchmal die Welt verkürzen, verlängern oder verzerren. Die Glasfront reflektiert. Sie schützt auch. Sie bewahrt die Insassen vorm Irrsinn der Aussenwelt. Sie begrenzt, dosiert den Einfluss der Aussenwelt. Alles dies zeigt sich an der bemalten Glasfront. Die Kunst ermutigte den Passanten als Akteur, sich an diesem kollektiven Werk zu beteiligen. Der Penis ist und bleibt das beliebteste Motiv, das niemanden erschöpft. Es passiert halt einfach.
Die Kunst rechtfertigt alles. Einem Stuhl in einem leer-klaren Raum attestiert die Kunst, er versinnbildliche die unaufgeforderte und nicht abgeholte Einsamkeit des Menschen unserer Zeit. Wir können alles mit Sinn aufladen. Aber ebenso mit Unsinn. Barbusige Gummipuppen, mit blutenden Öffnungen und /b/-konformen, weil imperativen Sprüchen, die die wie Hühner in «Fredy’s Fressbude» an der Autobahnraststätte Gunzgen Süd grillen. Das wäre kein Unsinn. Es würde bloss ans Unrecht der Frau erinnern. Und das wäre okay. Darüber könnte man berichten, schreiben. Darüber würde man erzählen und sich vermutlich auch erinnern. Ein ferner weltstädtischer Rezensent könnte es dann aufgreifen.
Der Zufall ist als schöpferische Kraft anerkannt. Zufallskunst ist popularisiert. Wenn Zufallskunst etwas aussagt, dann ist’s halt Zufall. Glück oder Unglück eines Künstlers. Kein übergeordneter «Plan» hält solche Kunst zusammen. Sie entsteht und vergeht, durchlebt konjunkturielle Launen. Was haben also unsere beiden Herren bewerkstelligt? Wie solle ich das nun einordnen oder bewerten? Schliesslich habe ich bloss das Apéro weggesoffen und einen Aschenbecher vollgeraucht. Manchmal superironisch über mich gewitzelt und mit L. ein eigenes Kunstprojekt proklamiert.
Ich denke, Dankbarkeit beschreibt mein Gefühl nahe genug. Ich danke. Kunst inspiriert. Wirklich. Ich meine damit nicht tote Museen. Wo Kunst verkümmert, weil man ein Gefühl konservieren möchte. Dort fühle ich mich jeweils abgeräumt. Dort sieche und friste ich bloss. Meine beiden Herren haben dieser konservativen Kunst getrotzt. Sie hatten den Raum für einige Wochen bewohnt. Und nichts produziert, dass irgendwie sich als nützlich erweisen könnte. Das ist doch eben geil?! Kunst verschwendet. Verschwendet Lebensenergie. Verschwendet Aufmerksamkeit.
Aber dennoch reanimiert sie. Ich fühle mich zwar nicht in einem totalen Freizeitpark gefangen, wo man weder rauchen noch trinken darf, aber dafür hinter jeder Ecke von zertifizierten Animateuren bespasst wird. Es ist keine orchestrierte und gesteuerte Animation. Der Effekt der Kunst ist nicht determinierbar. Sie kann inspirieren, sie kann ebensogut verwirren. Wir müssen uns selber auseinandersetzen. Und das ist der grosse Zweck und so. Aber was hat’s nun bei mir bezweckt? Ich habe mich wieder für absurde Kunst begeistert. Vermutlich überdeckt die Begeisterung bloss mein grosses Wohlwollen einem Künstler gegenüber.
Die gelungene Ausstellung der beiden Herren provozierte mir nochmals Gedanken über Reflexion. Können wir wirklich reflektieren? Können wir wirklich spiegeln? Je nach Perspektive, je nach Lebensabschnitt, je nach Spiegel verfremden wir unsere Wahrnehmung. Wir können uns nie gewiss sein, was wir wirklich fühlen oder denken. Die Gesellschaft diszipliniert uns, dass wir bei gewissen Ereignissen dasselbe nachdenken wollen («Kastriert ihn!», «Schafft sie aus!», «Zeig Titten!»). Doch nicht einmal die Gesellschaft kann das bei allen gleichzeitig sowie gleichmässig einfordern. Wir fragmentieren, zerfransen.
Meine Selbstwahrnehmung fluktuiert. Morgens nehme ich mich im Spiegel anders wahr als abends. Es ist schwieriger geworden, klar denken zu können. Wir können uns nicht orientieren. Überall verführt man uns. Religionen, Sekten, Ideologien, Theorien, Frauen wollen unseren Geist befreien. Da tröstet mich die Glasfront. Hier kann ich die Perspektive fixieren. Hier kann ich den Abstand wählen. Hier kann die Konturen schärfen oder verwischen. Hier kann mein Ich die Wahrnehmung beherrschen. Hier kontrolliere ich. Später vergesse ich mich wieder.
Danke.
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