Warum ich mich nicht behandeln lasse

Natürlich sind wir alle verrückt, manche verrückter. Ein Viertel der Menschen hierzulande erkrankt früher oder später psychisch. Es ist der Alltag, der uns alle erdrückt; wir alle ähneln Sisyphos, quasi ein sinnloses und permanentes Mühen ist die Konsequenz. Zuweilen empfinden wir so, als würde uns das moderne Leben strafen. Alltag halt.

Ich leide nicht, ich erdulde. Ich bin manchmal betrübt. Ich muss mich wieder motivieren wie energetisieren. Ich bin nicht todessehnsüchtig dergestalt, dass ich mein Leben terminieren möchte. Ich bekämpfe bloss den Selbstzerstörungstrieb, der manchmal ausbricht und mein Glück sabotiert. Bislang gewann ich stets, obschon häufig als Pyrrhussieg.

Ich bin kein gebrochener Mann, der nicht mehr strebt, sondern bloss noch vom Mitleid attraktiver Frauen zehrt, sexuell kompensiert, den Selbstwert dadurch vergebens erhöht oder Drogen konsumiert. Ich überlebe, funktioniere und gedeihe weiterhin, auch wenn gestaffelt und unregelmässig und nicht immer berechenbar. 

Ich bin durch einen Nordstern beseelt, ich kann ausgiebig begründen, warum ich mich nicht umbringen werde, ich könnte Frauen erobern und meinen Samen verstreuen. Ich fühle mich nicht begrenzt oder eingeschränkt oder limitiert. Ich fühle mich relativ frei, wenngleich ich das Konzept des uneingeschränkt freien Willens ablehne.

Ich jammere nicht – es sei denn, die heimtückische und lebensbedrohliche Männergrippe befällt mich. Auch wenn mein Geld selbstverschuldet verknappt ist, beklage ich mich nicht einmal darüber, sondern ertrage die Last. Ich bin grösstenteils resilient gegenüber den Ereignisse meiner Verhältnisse. Eventuell bin ich ja bloss zu gleichgültig?

Ich verspüre keine Notwendigkeit, meine Psyche zu therapieren. Ich fühle mich als vollwertig, als vollendet, aber stets reflektiv und lernend. Ich fühle mich natürlich fehlbar, unvollkommen, unfertig – aber nicht derart, dass ich mich sorge oder aktionistisch mich gestalten und formen sollte hin zum anderen, vermeintlich besseren Menschen.

Einige Fehler habe in meinem Leben wiederholt, einige Krisen ähneln sich. Ich bin mit meinen Lastern aufgewachsen und habe mich mit ihnen arrangiert. Die Summe meiner Verfehlungen, die Summe meiner Aufgaben und die Komplexität meines Lebens bleibt dieselbe; die Inhalte, Themen und Prioritäten verschieben sich bloss.

Ich fühle keine zusätzliche Herausforderung, die meine Belastbarkeit strapaziert, sodass ich nicht mehr handlungsfähig sei. Gewiss endet meine Resilienz irgendwann und irgendwo, einige Triggers habe ich bereits identifiziert, die mich zweifelsfalls kurzzeitig aushebeln könnten. Ich agiere aber stets mit gedanklichen Szenarien.

Ich bin bereits für alle Szenarien geistig gerüstet. Ich könnte morgen ebensogut sterben und es wäre okay. Ich könnte morgen ebensogut meine Tochter verlieren. Ich könnte morgen ebensogut meinen Job kündigen. Alles ist bereits antizipiert. Ich fühle mich gerüstet. Ich wappne mich täglich mit allen Optionen. Ich bespiele Gedanken.

Was mich überdies auszeichnet, ist meine Anpassungsfähigkeit. Ich kann Ereignisse deuten und notfalls auch umschlüsseln. Ich bin zäh, robust und stur. Ich konstruiere mir die Welt, die Welt als Wille und Vorstellung habe ich verinnerlicht. Stets kann ich mich zurückziehen, stets betrete ich solche Lebensabschnitte. 

Ich überlebe gut. Ich muss nichts ändern. Ich schätze und würdige die Momente des Glücks, auch wenn sie naturgemäss selten und vor allem vergänglich sind. Das Futuristische ist nicht erloschen. Ich bin weiterhin zuversichtlich, ich glaube. Ich freue mich. Oder so.