Mein Unglaube

Ungläubige beneide ich nicht. Sie müssen anders sich orientieren. Sie haben kein Urvertrauen, Gottvertrauen. Sie können sich nicht zurücklehnen, sie können nicht erklären. Sie haben keine Kirche, wo sie einkehren dürfen, und zwar jederzeit und stets willkommen, gleichgültig inwietief sie gefallen sind oder man sie fallen liess.

Stattdessen müssen Ungläubige die bekannte zweite Religiosität bemühen: Aberglauben, Irrglaube, völkische Kulte bishin, Heidentum gerne, Naturalismus oder sonstige Weltanschauungen, die eine grosse Ordnung um Zufall der Natur vermuten, weil die Natur ja nicht nicht würfeln darf und kann.

Auch ich betrüge mich ein wenig. Ich lebe mit dem “Nordstern”-Konzept. Ich habe das so nicht unbedingt erfunden; es ist inspiriert vom Toyota-Produktionssystem, dort im Kontext der kontinuierlichen Verbesserung. Ich habe das Konzept als Lebensphilosophie adaptiert, damit ich überleben kann, damit ich abends besser einschlafen kann.

Grundsätzlich anerkennt das Nordstern-Konzept, dass die heutige “Umstände” verloren sind. Egoismus, Gier, Geld, Macht und Sex dominieren das Wertesystem, unsere Welt. Wir sind ziemlich gefangen, wir jagen Statussymbole, wollen Karrieren, wollen permanent geliebt und verehrt werden. Wir schänden den Planeten, die Armen und sonstigen.

Ja, wir bekriegen uns weiterhin, Kinder müssen weiterhin hungern, Minderheiten werden gehetzt, misshandelt und so weiter. Der normale Alltag, den wir seit unserer Bewusstwerdung kennen, manchmal ausblenden, manchmal auch periodisch darüber uns empören, um uns selber zu entlasten. Schliesslich waren wir schon immer dagegen.

Ich anerkenne, dass wir daran vorläufig nichts ändern können. Wir werden uns nicht bessern oder verändern. Wir haben keine Notwendigkeit, schliesslich funktionieren wir weiterhin, schliesslich hat’s unsere Spezie weit gebracht; wir haben ein globales Informationssystem gebaut, wir sind konstant vernetzt, wir besiedeln die notwendigen Räume.

Wir beherrschen diesen Planeten recht gut, gewiss noch nicht perfekt. Wir kämpfen gegen einzelne Naturkatastrophen, manchmal aber auch nur gegen die eigene Natur. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir bald die restliche Natur in uns und um uns herum kontrollieren können. Und dann werden wir unser System beschleunigen, pervertieren können.

Gewiss ist das dystopisch. Aber das ist bloss “der nächste Meilenstein”. Das Nordstern ist eine aufgeklärte, liberalisierte Gesellschaft ohne Geld, eine Weltregierung, die das Forschen und Erkunden fokussiert, die eine klassische Überflussgesellschaft ist, hoch automatisiert und die Umwelt schont, wieder symbiotisch lebt. Ja, eine echte Utopie.

Weder Hunger, Missgunst, Neid noch Krieg bedrohen diese Utopie. Die Menschen überschreiten die Grenzen unseres Sonnensystems, sie entdecken fremde Planeten, fremde Lebensformen. Sie überwinden die bekannten Gesetze der Quantenphysik, sie erstreben eine grosse, schweizerische Harmonie, müssen sich nicht betrinken. Sie sind glücklich.

Ja, dieser ferne Nordstern motiviert mich. Vermutlich werde ich ihn nicht mehr erleben. Doch meine Kinder und Kindeskinder haben realistischen Chancen, diesen Nordstern geniessen zu können. Meine Kinder werden vermutlich noch die Radikalisierung des heutigen Ordnungssystems erdulden müssen, bis auch das implodiert.

Daran glaube ich, das entspannt mich. Eventuell irre ich, doch das ist ein Glaube, den kann man weder widerlegen noch bestätigen, den kann man mir auch nicht ausreden. Man könnte mich foltern, mich zwingen, fünf statt vier Lichter zu sehen, mein Zimmer 101 personalisieren und so weiter, ich würde weiterhin daran glauben. Weil ich nicht anders kann.