Ich darf verkünden, dass mein Kindchen schwerstbehindert ist. Ich tue dies erstmals explizit und ohne Umwege. Das Kindchen wächst mit normaler Lebenserwartung auf. Geistig aber wird das kleine Mädchen stets auf dem Niveau eines Säuglings harren. Gehen und kommunizieren werden schwierig zu bewältigen.
Die exakte Ausprägung der Behinderung ist noch nicht absehbar. Aber die Behinderung existiert. Sie war eine spontane Mutation der Eizelle, also nicht vererbt. Eine Laune der Natur. Das kann in wenigen Fällen vorkommen. In der Schweiz bekennen sich ungefähr zwanzig Familien zu dieser Erkrankung.
Fragestellungen wie Berufsausbildung, erste Liebe, Erziehung sind nunmehr irrelevant. Stattdessen muss man ein Heim wählen und entsprechende IV-Fälle einreichen, weil kein allgemeiner für diesen Fall existiert. Viele Therapien, viele besorgte Angestellte der Staatsdienste und privaten Stiftungen, viel Mitleid bilden den Alltag.
Das Kindchen selber kann nichts beklagen. Es lächelt, es spielt, es ist fröhlich. Es vermisst nichts. Es sieht zwar nicht gut, es kann nichts halten, es kann weder gehen noch krabbeln, weder Mimik, Gestik noch Kommunikation äussern. Aber es kann mit einfachsten Berührungen stimuliert werden und ist dann vollends zufrieden.
Es nörgelt und jammert nicht. Es kennt keine trotzige Phase. Es ist rundum glücklich und zufrieden. Es kennt drei Bedürfnisse: Einsamkeit, Hunger und Müdigkeit. Es fordert die Befriedigung dieser drei Bedürfnisse. Mehr Bedürfnisse spürt es nicht. Diese sind grundsätzlich leicht zu befriedigen.
Die alltäglichen Aufgaben werden immer anstrengender. Das Kindchen wächst in die Länge, es wird immer schwerer. Derzeit kann ich es noch problemlos heben. Das Mobiliar hält der Belastung stand. Doch in einigen Jahren muss das Mobiliar verstärkt werden: ein Hebelift für die Badewanne, ein versenkbares Bett, eine stabile Wickelkommode.
Der Pflegeaufwand nimmt also zu. Ich hoffe, dass der Pflegeaufwand mich nicht überfordere. Weil ansonsten muss eine professionelle Pflegekraft unterstützen – oder das Kindchen muss in einem spezialisierten Heim platziert werden. Das erhöht die Komplexität des Alltags. Das verlangt weitere Entbehrungen.
Wie ich selber damit umgehe? Ich akzeptiere. Ich kann das nicht beeinflussen. Bloss die Angehörigen müssen leiden. Das Kindchen nicht. Das tröstet. Ich bin unmittelbar betroffen. Ich habe zwar eine Tochter, aber irgendwie auch nicht. Keine «normale» oder «vergleichbare». Ich habe mich daran gewöhnt.
Mein Wunsch war, dass sie sprechen respektive interagieren kann. Mindestens das habe ich original angefordert. Doch vermutlich wird sie das niemals mir schenken können. Das Kindchen kann sich nicht einmal von mir verabschieden. Man weiss nicht, ob sie mich kennt, spürt oder wahrnimmt. Vermutlich nicht.
Ich merke das, wenn ich das Kindchen in die Kita bringe. Dort sind andere Kinder, die ihre Eltern erkennen, sich freuen und so weiter. Mein Kindchen ist einfach stumpf dort. Ich berühre es immer zehn Sekunden lang. Dann lacht es. Ich befürchte, dass tut sie nicht meinetwegen. Sondern ist Teil ihrer Erkrankung.
Ich nehme das Kindchen auf den Arm. Mittlerweile sieht es gefühlt ein wenig besser. Es versucht mich anzuschauen. Aber es funktioniert nicht. Immerhin grinst das Kindchen. Dann fahren wir heim. Die anderen Kinder, die beweglich sind, mit ihren Eltern kommunizieren, deprimieren mich schon. Aber ja, was soll ich tun?
Ich kann es bloss aushalten. Die schönsten Momente sind im Bett mit dem Kindchen. Wenn ich es einfach stundenlang berühren kann. Das Kindchen freut sich, es lächelt. Es greift nach mir, nach meinen Haaren und Finger. Ja dann ist alles gut. Dann vergesse ich die hüpfenden anderen Kinder. Die Realitätsprüfung erlebe ich nur in der Kita.
Schnell hin und schnell wieder weg, ich verweile nie zu lange dort. Zehn Sekunden Berührung, dann gehen wir. Überhaupt meide ich Orte, wo andere Kinder sind. Das ist der lokale Park, der lokale Zoo. Mein Kindchen und ich im Zoo. Wir beide interessieren uns kaum für die Tiere. Aus unterschiedlichen Gründen zwar.
Das einzige, was sie anregt, ist das Vogelhaus. Dort wird gezwitschert. Lustige Geräusche. Das mag sie. Sie ist selber eine Geräuschmaschine. Sie kann zwar bloss etwa fünf unterschiedliche Geräusche. Ich weiss nicht einmal, ob sie weiss, dass sie selber Geräusche macht und deswegen lachen muss. Aber sie mag es. Mag Geräusche.
Glücklicherweise kann ich ebenfalls Geräusche erzeugen. Eventuell kann sie mich so wiedererkennen? Vermutlich nicht. Dennoch imitiere ich so oft als möglich ihre Geräusche und will damit ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln, für das sie eigentlich gar nicht empfänglich ist. Ich lebe in der Illusion der Interaktion.
Weil sie nicht so gut sieht, kann man sie visuell nur mit Hilfsmittel reizen. Das funktioniert aber perfekt. Leuchtende Sachen liebt sie. Dann macht sie grosse Augen, dann versucht sie, ihre Augen zu fokussieren. Sie kann zwar nicht gezielt danach greifen, aber bemüht sich. Es sieht schon traurig aus, wenn sie nichts greifen kann.
Ja, ich bin mindestens einmal täglich deprimiert deswegen. Mindestens einmal. Manchmal auch mehrmals. Ich versuche, meinem Kindchen das Leben zu erleichtern und ihre drei Grundbedürfnisse so gut als möglich zu befriedigen. Es ist eine klassische selbstlose Liebe, wo ich nichts erwarten kann.
Das Kindchen hat mich allerdings radikalisiert. Ich bin gleichgültiger geworden. Ich bin gleichmütiger geworden. Und ich will weniger Kompromisse riskieren. Ich will mein Leben nicht noch mehr einschränken. Ich habe mich auch vom Ziel, möglichst viel Geld zu verdienen, verabschiedet.
Da ich eh einsam sterben werde, kein Kindchen mich bedauert, kann ich ebensogut einsam leben. Denn das arme Kindchen wird auch niemanden haben, der sie begleiten kann. Denn die Eltern sind dann längst tot. Das Kindchen ist alleine, fristet in irgendeinem Heim, lächelt und stirbt einfach. Völlig ohne Aufmerksamkeit und Würdigung.
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