Flüchtlinge warten

Wir alle warten. Wir warten auf eine Besserung, auf eine Erlösung. Auf Gesundheit. Auf einen besseren Job. Wir warten auf die grosse Liebe. Wir warten auf action. Wir warten aufs Spektakel. Auf den Dritten Weltkrieg. Doch in Como warten unzählige Menschen auf eine Einreise. Ein Augenschein.

Ich besuchte kürzlich den Weltgeist in Brüssel. Doch richtig zu spüren vermochte ich ihn nicht. Die EU ist ohnehin abstrakt, nicht gegensächlich. Um das politische System der EU zu verstehen, darf man sich zunächst durch halbe Lexika kämpfen. Ein gewisser R. schultert das für uns alle, gleich dem Atlas oder Jesus.

Derzeit weile ich in Como. Hier ist kein Weltgeist in Aktion. Das einzige Merkmal, das einen Weltgeist erahnen lässt, ist das überschaubare Flüchtlingcamp am Bahnhof. Dort hausen sie also, diese niggers. Sie hoffen auf Einreise. Sie warten. Sie schlafen irgendwie in diesem Park.

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Die italienische Polizei «bewacht» das Spektakel. Die Flüchtlinge werden toleriert. Oder ignoriert. Como ist nicht gerade eine arme Stadt. Como ist sehr touristisch, sehr wohlhabend. Bloss Einzelheiten bestätigen, dass man in Italien ist. Den Rest könnte man Lugano oder Locarno zuschreiben. Die desolaten Toiletten hingegen nicht.

Wir erleben das Zeitalter der grossen Krisen. Doch die Krisen sind allesamt abstrakt. Flüchtlingskrise, Hungerkrise, Finanzkrise, Eurokrise, Terrorkrise. Was war noch? Ich weiss es nicht mehr. Diese Krisen sind alle sogenannt hyperreal. So «real», dass sie unwirklich sind. Sie sind weit entfernt. Wir nehmen sie bloss virtuell wahr. Virtuell. Man muss sich ernsthaft bemühen, die Krise zu spüren.

Als beispielsweise die Flüchtlingskrise begann oder erstmals mir vermittelt wurde, war ich sehr weinerlich und ergriffen. Ich wollte heimlich abhauen, an der EU-Aussengrenze unentgeltlich helfen, Wasser und Trost spenden. Ich wollte helfen. Ich war bewegt. Ich wollte zeitlang meinen, dass dies mein lange gesuchtes oder vermisstes Erweckungserlebnis war, das unter anderem auch ein gewisser Adolf Hitler oder Christoph Blocher oder Thomas Aeschi fürs Politische motiviert-begeisterte.

Das war es natürlich nicht. Einige Wochen später war die Flüchtlingskrise vergessen. Merkel zeigte ihren grossen Busen. Alle Linken beneideten das deutsche Land, andere bauten Zäune mit NATO-Draht. Ich arbeitete und trank manchmal wie ein Grosser. Die Alternative für Deutschland konnte sich etablieren. Irgendwie.

Was nun? Wir sind alle wartend. Die Flüchtlinge sind vergessen. Hätte ich sie nicht gesehen, hätte auch sie vergessen. Wir leben in einem sorgenfreien Land. Ich habe unsere Schlagzeilen nicht überflogen. Meine selektive Wahrnehmung schützt mich. Ich habe ausserordentlich nun mich durch den Blick gequält. Nicht bloss das Girl des Tages angewixxt, sondern wirklich mich durch die Schlagzeilen geklickt. Kein Muster. Keine Ahnung, was derzeit abgeht.


2 Antworten zu «Flüchtlinge warten»

  1. […] hause seit Stunden in einem Park. Gleich den vielen Flüchtlingen, die hier nicht zu übersehen sind. Ich beobachte Menschen. Ich schlafe. Und ich rauche. Junge Menschen, vermutlich einheimisch, […]

  2. […] eingefahren sind, lagen sie alle aufm Perron herum. Die Zeltburgen, die vielen Decken, das grosse Warten. Der Gestank. Die Polizisten. Die spontanen Helfer. Ich spendete ihm meine Münzsammlung und einige […]

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