Listen. Es existieren Listen der wichtigsten Bücher, die jeder bis dreissig gelesen haben muss. Eine solche Liste ist mir kürzlich zugespielt worden. Ich habe erwartungsgemäss nichts davon gelesen. Daher meine Liste der wichtigsten Bücher, die jeder bis dreissig oder gerne auch später gelesen haben muss.
Hermann Hesse, Steppenwolf
Der Steppenwolf ist ein Klassiker aus den Zwanziger des letzten Jahrhunderts. Darin schilderte Hesse das eigentliche Motiv dieses Blogs: der Gegensatz zwischen einer bürgerlichen und antibürgerlichen Existenz. Der Doppelgänger somit ist bloss ein Echo. Dieser Roman zerstörte jeden jugendlichen Hochmut; der Roman vernichtete das schwache und noch nicht gefestigte Ich. Er lässt einen verzweifeln.
Der Roman hat mich sehr beeinflusst. Der Steppenwolf war mal ein geflügeltes Wort. Mit einer gewissen L. bastelte ich Flugblätter, die wirre Botschaften enthielten, mit denen wir die Passanten zu verunsichern hofften. Der Humor als grosse Bindung, als grosse Synthese allerdings habe ich erst später erkannt. Als Jugendlicher faszinierten mich klassische Grenzüberschreitungen mehr.
Thomas Mann, Doktor Faustus
Doktor Faustus krönte Manns Karriere. Darin spiegelte ein Erzähler das Leben eines bewegten Adrians. Adrian strebte nach künstlerischer Entfaltung. Er wollte den musikalischen Durchbruch erzielen. Und so bediente er sich des Teufels. Der eigentliche Plot ist überschaubar und quasi trivial, weil Fauststoff. Der Roman ist für heutige Ansprüche nicht mehr lesbar. Die Sätze sind gestelzt, die Wörter zu altertümlich.
Darin konzentrierte sich alles, was deutsche Literatur einst hatte. Es ist wie das letzte Werk einer Generation. Der Roman endete im Zweiten Weltkrieg. Er vergrösserte mein Epochenverständnis. Der Roman stammte aus einer anderen Zeit und so soll er auch behütet werden: wie ein Schatz. Die Konflikte, die Diskussionen und unzähligen Essays, verstreut im ganzen Buche, empfinde ich weiterhin als aktuell, sind aber durch andere Probleme unserer Zeit zurückgedrängt worden.
Oswald Spengler, Untergang des Abendlandes
Spenglers Der Untergang des Abendlandes war das «epochenmachendes Werk», das er lange in sich trug und schliesslich am richtigen Ort (Deutsches Reich!) zur richtigen Zeit (1918!) veröffentlichte. Der Titel lässt einen verführen, die westliche Zivilisation sei fertig entwickelt und beginne einen unaufhaltsamen Niedergang. Spengler aber wünschte sich einen neuen Cäsarismus, damit die westliche Zivilisation handlungsfähig bleibe. Ironischerweise verwirklichte Hitler schliesslich diesen Wunsch, beschleunigte aber damit den endgültigen Zerfall der westlichen Kultur.
Stattdessen erwachte der Mensch nach dem Zweiten Weltkrieg in einer verwalteten Warengesellschaft, sediert mit Kulturindustrie und das ferne Glücksversprechen immer mehr, neueren und besseren Gütern. Ich konnte mit dem Buch einige Geschichtslücken füllen. Ebenso spendierte mir das Buch eine tiefe Gelassenheit darüber, wieso unsere Kultur so leer, so uninspiriert ist. Ich befürworte seitdem, dass wir mehr Ingenieure statt Maler ausbilden sollten, mehr Soldaten statt Philosophen. Denn wir leben weiterhin in entscheidenden Zeiten.
Nicolas Gomes Davila, Auf verlorenem Posten
Es sind Neue Scholien zu einem inbegriffen Text. Dieser Autor ist kaum bekannt. Ich beleidige ihn, wenn ich ihn auf eine solche Liste setze. Sein liebster Ort ist der Giftschrank. Dort würde er ruhen. Aber dennoch möchte ich, dass man seine Aphorismen studiert. Sie erklären ein religiöses, antimodernes, ja reaktionäres Leben. Er «versteckte» sich als Privatgelehrter am Rande der Zivilisation. Seine Welt waren seine Bücher. Sein sozialer Status als Berufssohn finanzierte das alles. Er wollte weder reüssieren noch publizieren. Es sind solche giftige Gedanken, die unsere Moderne herausfordern:
Der moderne Mensch nimmt bereitwillig jedes Joch auf sich, solange nur die Hand, die es aufzwingt, unpersönlich ist.
Davila verachtet alles Zeitgemässe und ringt eben auf verlorenem Posten. Für uns im Alltag Gefangenen, die Ferien sich absparen müssen und einen erniedrigenden Brotberuf ausüben, sind solche Sätze «abstrakt» und sehr «entfernt». Er konnte sich von diesen «Niederungen» distanzieren und schlägt zurück. Wir können bloss zustimmen oder ablehnen; müssen aber daraufhin wieder im Gleichschritt uns einordnen.
Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung
Das ist ein Klassiker der Frankfurter Schule. In Adornos Dialektik der Aufklärung überragt vor allem das Kapitel Kulturindustrie. Die Kulturindustrie umzäunt den marginalen Freiraum des menschlichen Denken. Obwohl alles und alle gleich sind, sind Individualität und Freiheit im Spätkapitalismus bloss inszeniert. Wer die Kulturindustrie begreift, versteht auch Die Gesellschaft des Spektakels Guy Debords. Darin radikalisiert Debord Begriffe wie Warengesellschaft, Warenfetisch und resigniert, dass in unserer Gesellschaft selbst die Rebellion ein Spektakel ist und letztlich bloss das herrschende System bestätigt.
Sigmund Freud, Fragen der Gesellschaft
Freud entschlüsselte nicht bloss das Ich. Freud war meines Erachtens auch ein empfindsamer Soziologe. Seine kulturkritischen Schriften erhellen gesellschaftliche Abgründe. Ich möchte vor allem Das Unbehagen in der Kultur sowie Totem und Tabu als Pflicht anraten. Im Unbehagen der Kultur erzählt Freud die Geschichte der Urhorde. Der aufrechte Gang entblösste die Genitalien, zwang den Menschen zu einer autoritären Vaterherrschaft. Die unzufriedenen Söhne der Urhorde ermordeten schliesslich ihren Vater, da dieser alle Frauen sexuell beanspruchte.
Auf Reue, auf Scham folgten die ersten Tabuvorschriften. Damit startete die sogenannte Kultur; eine ewige Sublimierung der Libido. Die Naturbeherrschung einerseits, die Beherrschung des wilden Weibes andererseits drückten diese Sublimierung ebenso aus wie die strenge sittliche (Sexual-) Moral diverser Kulturen. Aber eben, das Unbehagen in der Kultur konnte nie restlos eliminiert werden. Freud erklärt für seine Zeit zeitgemässe gesellschaftliche Phänomen mit dieser unterdrückten Sexualität. Freud behielt Recht; in Freuds Schriften lesen wir die Idee einer übersexualisierten Gesellschaft aber das erste Mal und in gewisser «Unschuld», welche die heutige Schriften, so auch die meinigen, vermissen lassen.
Was sonst noch?
Diese Bücher genügen nicht, um einen jugendlichen Charakter zu formen. Sie können einen Charakter durchaus ergänzen. Wer’s wirklich ausgewogen-ausgeglichen mag, dem empfehle ich die berühmte Liste der ZEIT, die mit einem eigenen Wikipedia-Artikel geehrt ist. Darin sind die wahren Klassiker versammelt. Und natürlich an erster Stelle ist die Bibel. Das Buch der Bücher, das nebenbei eine grosse Weltreligion begründete.
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