Die tragische Geschichte von P.

P. hat nichts falsch gemacht. P. spielte Fussball, lernte Mädchen kennen. P. tanzte im Metro und im Terminus. P. stammt aus R. P. absolvierte das KV. P. arbeitete als Backoffice. P. erledigte Routine- wie Regel-Aktivitäten. P. war stets loyal und engagiert. P. hat das interne Verbesserungswesen gestützt. P. war selbständig und beflissen. Aber doch ist P. im Leben gescheitert. Wieso erzähle ich heute.

P. schmückte seinen Arbeitsplatz mit aufbauend-motivierenden Sprüchen wie «Ich kenne keine Probleme, sondern nur Herausforderungen» oder «Alles wird gut» oder «Wir schaffen das». Er wiederholte diese Sprüche in allen Bürosituationen. Er war stets optimistisch-zuversichtlich. Zuweilen verärgerte er damit seine Arbeitskollegen. Denn er war penetrant. Es war sein Versuch der bewussten Autosuggestion. Doch wozu?

Obwohl P. nichts falsch gemacht hat. Er hat weder Drogen konsumieren, noch sein Leben dermassen verschwendet wie wohl andere (ich!). Er hat weder vom literarischen Giftschrank geschöpft, noch im depressiven Milieu sich versteckt. Er war technisch psychisch gesund. Ein Geburtsgebrechen konnte man ausschliessen. Das einzige, was man ihm allenfalls anlasten kann, ist seine Dümmlichkeit.

Doch die Dümmlichkeit war herzlichst, erwärmend. Er war nicht dämlich, sondern liebenswürdig-dümmlich. Er war mit Liebe beseelt-beeifert. Obwohl er seit seinen späteren Jahren vergebens eine Freundin sucht und keine findet. Weil er zu nett ist. Weil die einheimischen Damen mehr Aufregung und Spektakel erwarten. Damit war er vom Sexmarkt quasi isoliert. Sein Alltag rotierte. Beruf und Sport simulieren Ausgeglichenheit.

Also obwohl P. nichts falsch gemacht hat, bestrafte das Leben ihn. Plötzlich erlahmte sein Geist. Er konnte sich kaum noch an vergangene Worte erinnern. Er konnte nicht mehr repetitive Prozeduren ohne Anleitung durchführen. Sein Zustand verschlimmerte sich. Doch alles hat eine Ursache; kein Zufall kann einen Menschen so und so plötzlich deformieren. Denn das Leiden war klassisch psychosomatisch.

P. liebte einen Bruder. Seinen Bruder. Sein Bruder entschied aber sich eines Dienstags, statt in den Zug unter den Zug zu steigen. Der am Bahnhof von R. einfahrende Zug hatte kurz vorm Perron A noch ausreichend Geschwindigkeit, einen Todessehnsüchtigen zu zerquetschen. Der Lokführer bremste. Der Lokführer wusste, dass nichts den Tod verhindern könnte. Er wählte gemäss Standardverfahren den internen SBB-Notfalldienst.

Psychologische Sofortbetreuung. Der Zug verspätete sich aufgrund eines Personenunfalles. «Schon wieder!», empören sich die Zugwartenden im nahen Olten. Der Bruder von P. verstarb sofort. Das blockierte seitdem P. «Wie kann man bloss? Wie kann man bloss freiwillig sterben?», rätselt P. ununterbrochen. Er kann kein Motiv kognitiv reproduzieren. Er verzweifelt. Seine Mantras bewirken nun nichts mehr.

Sprüche wie «Alles wird gut» verwirren, verunsichern bloss noch. Nichts mehr wird gut. Alles ist zerstört. Obwohl P. sich stets bemühte, obwohl er den Freitod rationalisieren möchte, war einige Synapsen unwiderruflich gekappt. Er konnte gewisse Informationen nicht mehr leiten. Gewisse Regionen seines Gehirns waren abgeschnitten.

Und damit begann seine geistige Umnachtung. Fortan degenerierte er zum reinen beweglichen Körper. Sein Geist verkümmerte. Die staatliche Psychiatrie war überfordert. Auch Medikamente konnten die verschütteten Synapsen nicht mehr freilegen. Der Arbeitgeber musste das Anstellungsverhältnis nach Ablauf einer gesetzlichen Frist auflösen.

Er konnte keinen Widerstand mehr leisten. Sein Lebenswille war erloschen. Er konnte auch nicht mehr letzte Kräfte mobilisieren, um im nahen Trübelbachweier sich zu ertränken. Seitdem strapaziert er die Gesundheitskasse. Niemand kann ihn «reparieren». Was ihm übrig bleibt, ist das grosse Unverständnis. Vermutlich bloss ein Missverständnis. Wie so oft.


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