Der Protagonist verdingt sich als Drehbuchautor für eine im Hintergrund tätige Produktionsfirma. Diese Firma liefert diverse Formate für den national zweifelhaft berühmten Sender 3+. Dieser Sender hat scripted reality in der Schweiz popularisiert. Das war durchaus des Protagonisten Verdienst. Dies ist seine fiktionale Geschichte.
Der Protagonist entstammt einer schweizerischen Provinz. Das Studium der klassischen Philologie unterbrach er für einen sogenannten Studentenjob. Das liebe Geld knechtete ihn. Er musste Drehbücher redigieren und inhaltlich ausdünnen. So wie eine fürsorgliche Coiffeuse das voluminöse Haar. Er musste kürzen, streichen und ersetzen. Fast wie Vierjahreswahlen.
Erwartungsgemäss beseelte die Arbeit ihn nicht. Er verantwortete Vujos schlaksige Dialoge in dessen Bachelor-Debüt. Zuweilen unterstütze Vujo ihn unfreiwillig; er konnte seine Texte sich nicht merken und verdrehte, verhaspelte Buchstaben, Wörter wie ganze Sätze. Diese Situationskomik stärkte Vujos widerliche, aber durchaus fremdbeschämende Ausstrahlung.
Die Quoten dankten und richteten. 3+ würdigte Vujo mit einer eigenen Format. Der Protagonist lieferte den Text, quasi die Botschaft des dürftigen Mediums. Doch das Spiel langweilte ihn rasch. Mittlerweile ist der Protagonist arriviert. Das abgebrochene Studium lastet nicht. Vielmehr, es rechtfertigt seinen Titel als creative director der Produktionsfirma.
Als kreativer Chef einer Kreativindustrie ist unser Protagonist herausgefordert, mit immer neueren und wilderen Formate die Sinne des abgestumpften Publikums zu überreizen. Jedes weitere Sendejahr erschwert das unehre Unternehmen. Doch der Protagonist darf und kann nicht kapitulieren. Er muss ganz futuristisch handeln.
Er hat das Steigerungsspiel der Moderne begriffen und verinnerlicht. Auch Begriffe wie Hyperrealität sind ihm vertraut. Sein nicht ausgewiesener humanistischer Bildungshintergrund mag helfen, kann aber nicht klären und kann auch seine kreative Krise nicht überwinden. Er muss also paktieren. Notfalls teuflisch, bestenfalls nihilistisch.
Er zauderte keinen Moment, als ein neuartiges Format skizzierte. Dieses Format soll seine Karriere krönen. Sie soll sein Leben als unabhängiger Autor finanzieren. Er möchte sich damit endgültig freikaufen. Er möchte diese Medienszene verlassen, entfliehen. Er möchte nicht mehr mit den Blofelds Zürichs 25-jährige Social Media Verantwortliche belauern.
Wie tief kann man eine Menschenwürde bemessen? Jeder Mensch nennt einen Preis. Doch welcher Preis ist der geringste? Das interessiert ihn. Das neue Format «Fünfzig Rappen» fokussiert diese Frage. Darin werden gewöhnlich-normale Menschen unangenehmen Alltagssituationen ausgesetzt. Also Situationen, die jedermann kennt.
Einige Situationen sind harmlos; man muss allen Bettbekanntschaften anrufen und beichten, man habe Aids und habe sie infiziert. Das Publikum bestimmt den Preis. Je mehr Menschen bei einer überteuerten Automatenhotline anrufen, umso mehr sinkt der mögliche Verdienst des Teilnehmers. Andere Situationen sind hingegen bedeutend schwieriger.
Der maximale Gesichtsverlust. Zum Beispiel muss der Teilnehmer seinen Eltern wie Grosseltern eine Frau als grosse Liebe vorstellen, die eine offensichtliche Transe ist. Oder der Teilnehmer muss seinen Job möglichst dramatisch und ohne Hintertüre kündigen. Oder er muss sich die Hose anpinkeln lassen und dann in einer hellen Szene-Bar Bier ordern.
Unser Protagonist erweitert die Situationen beliebig. Persönliche Situationen inspirieren ihn, manche werden auch von begeisterten Zuschauern eingereicht. Das erleichtert ihn, weil verwirklicht das lukrative prosumer Prinzip. Das Format kann nicht erschöpft werden. Die Zuschauer definieren die Vergütung. Scheitern die Teilnehmer, verflüchtigt sich deren Guthaben.
Unser Protagonist erlebt einige Jahre des ultimativen Erfolges. Man feiert ihn hinter der Bühne. Die Blofelds Zürichs hofieren, schmeicheln ihn. Er tanzt im Gonzo wie im Hive, trotz seines fortgeschrittenen Alters. Er zelebriert den reichen und doch sündigen Berufsjugendlichen. Koks und Nutten entzünden ihn.
Medienjournalisten verurteilen ihn. Sie enthüllen die Ausschweifungen unseres Protagonisten. Sie moralisieren. Doch dadurch verehren ihn die Blofelds der Stadt umso mehr. Diese FDP wählende, aber für junge Werbeannatinas grün geschönte Hedonisten, die im Zynismus der Welt sich bequemen. Unser Protagonist bannt, verzaubert sie alle.
Die Jahre des Exzesses haben keinen Kater hinterlassen. Er ist weiterhin jugendlich, frisch. Er kann mithalten. Sein Format erzielt weiterhin gute Quoten. Die Menschen lassen sich für einige Rappen demütigen. Sie ruinieren freiwillig ihre soliden Lebensläufe. Das sind keine Asoziale, die bereits verloren und in einer Parallelgesellschaft hausen.
Es sind gesunde Menschen. Doch die grosse Gier nach Reichtum und sozialer Aufmerksamkeit motiviert sie. Mag sie noch so negativ sein, mag sie noch so einen zerstören. Die ebenso hungrigen Medien berichten über alle neuesten Situationen. Die grösste Steigerung unseres Protagonisten war der Amoklauf.
Ein Teilnehmer konnte fünfhundert Franken mit einem Amoklauf häufen. Das Publikum empörte sich anfänglich. Doch die Neugier verführte sie alle. Welche Grenze kann das Format wirklich überschreiten? Wo endet oder beginnt die Realität? Die Neugier siegte. Schliesslich massakrierte der Teilnehmer Frauen und Kinder, unschuldige Beteiligte.
Die Sendung bedauerte offiziell die Todesopfer. Sie organisierte ein Sondersetting, das die Psyche des Teilnehmers ergründete. Man pathologisierte. Der Teilnehmer sei seit jeher «krank» und «psychopathisch», so ein fingierter Psychologe. Die Sendung triggerte bloss. Doch das beruhigte die Öffentlichkeit nicht mehr.
Unser Protagonist muss auf Titelseiten sein Format bereuen. Sein Vermögen musste er aufgrund der öffentlichen Meinung den Angehörigen der Opfer überweisen. Er war blank. Auch die Blofelds distanzierten sich. Er konnte nirgends mehr auswärts essen. Er wurde nirgends mehr bedient. Er war nun selber tot.
Was blieb übrig? Sein Leben ist verpatzt.
Schreiben Sie einen Kommentar